Journalistin: Inzestverbot beruht auf überkommenen Moralvorstellungen

Moderation: Liane von Billerbeck · 12.04.2012
Die Art, wie mit dem Inzest-Paar aus Sachsen und ihren Kindern umgegangen wurde, sei ein "archaischer Vorgang", findet die Journalistin Evelyn Finger. Außerdem schwinge bei dem Thema Inzest "sofort immer auch das Thema Missbrauch mit und da gibt es eine unzulässige Vermischung".
Liane von Billerbeck: Ein Mann liebt eine Frau, eine Frau liebt einen Mann, Kinder kommen, eine Familie. Was nach heiler Welt klingt, ist aber alles andere als heil, denn der Mann ist der Bruder der Frau, die Frau seine Schwester. Die beiden haben mit ihrer Geschwisterliebe, aus der vier Kinder entstanden, gegen das hierzulande herrschende Inzestverbot verstoßen.
Heute entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich darüber, ob mit der Bestrafung des Mannes dessen Menschenwürde verletzt wurde.

Telefonisch bin ich jetzt verbunden mit Evelyn Finger. Die "Zeit"-Redakteurin kennt das Paar und ihren Fall, über den heute grundsätzlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden wird. Frau Finger, ich grüße Sie!

Evelyn Finger: Ja, guten Morgen!

von Billerbeck: Ein Inzestfall, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt wird. Wie wurde die Geschwisterliebe damals eigentlich öffentlich?

Finger: Also, durch verschiedene Vorgänge. In erster Linie deshalb, weil die Jugendämter angezeigt haben, dass hier Kinder aus einer inzestuösen Verbindung hervorgegangen sind, und dann kam die juristische Maschinerie in Gang. Und die Medien haben berichtet zum Teil in diffamierender, hetzerischer Weise, muss man sagen, die Boulevardmedien vor allen Dingen. Und dann gingen die Dinge ihren Gang.

von Billerbeck: Sie haben damals dieses Paar auch erlebt, haben die Mutter, also die Schwester aus dem Paar auch kennengelernt. Wie war diese junge Frau, wie haben Sie sie erlebt?

Finger: Also, absolut verängstigt und unseren Behörden ausgeliefert, auch unserem Rechtssystem. Man darf nicht vergessen, muss sich noch mal vorstellen, es handelt sich hier um zwei erwachsene Menschen - allerdings zwei sehr junge Menschen noch –, die freiwillig ... die sich ineinander verliebt haben und freiwillig miteinander leben und dann gar nicht verstehen, warum sie plötzlich was Verbotenes tun, und die sozusagen kriminalisiert werden aufgrund eines alten Paragrafen, der, wie ja unter anderem auch einer unserer prominentesten Verfassungsrichter findet, eher auf überkommenen Moralvorstellungen beruht als auf einem schützenswerten Rechtsgut, das hier nicht zu benennen ist.

Also, wie habe ich diese junge Frau erlebt? Erst mal sehr stumm, misstrauisch, ängstlich gegenüber allem, was von außen auf sie zukam. Also, diese Recherche, die ich damals gemacht habe fürs Dossier der "Zeit", war wirklich in den 20 Jahren, die ich jetzt Journalist bin, die schrecklichste und berührendste Recherche, weil ich einfach erlebt habe, wie in unserem doch so privilegierten Land es geschehen kann, dass zwei Leute und speziell das junge Mädchen sich vollkommen ausgesetzt fühlen, dass ihnen Kinder weggenommen werden, die nicht verstehen, warum es deswegen dazu kommt, dass zum Beispiel diese junge Frau eines ihrer Kinder ganz allein zu Hause bekommen hat. Sie hat sich nicht mehr getraut, in ein Krankenhaus zu gehen.

Und das ist eine Situation, Sie müssen sich vorstellen, ein Kind ganz alleine zu gebären, das ist nicht nur eine blutige Angelegenheit, das ist wirklich ... also ... wenn man ein bisschen pathetisch sprechen möchte, würde man sagen, das ist einschließender Ausschluss, würde der Philosoph Giorgio Agamben sagen. Also, da wird das Individuum entrechtet im Namen einer Regel, die für alle gilt. Da schließt sich Gemeinschaft zusammen gegen den Einzelnen, ein ganz archaischer Vorgang, von dem man hoffen sollte, dass der in unserer demokratischen Gesellschaft eigentlich nicht mehr passiert.

von Billerbeck: Wie sind denn die Jugendämter, die Behörden in diesem Fall mit der Familie umgegangen? Die genießt doch den besonderen Schutz und auch das Kindeswohl ist doch ein hohes Gut?

Finger: Tja, also, da kann man ganz klar sagen, die Jugendämter, anstatt zu helfen, haben letzten Endes denunziert und haben damit ihre Schutzpflicht verletzt. Sie müssen sich vorstellen, das Mädchen Susan, die Mutter der Kinder, hat einen Vormund noch gehabt, weil sie eben erst 17 war, als sie das erste Mal schwanger wurde auch, und weil es so eine leichte geistige Retardierung gibt, die man aber gar nicht gleich merkt im Umgang mit ihr.

Und aus all diesen Gründen gab es sozusagen eine Verbindung zum Jugendamt, das helfen sollte. Was ist aber passiert: Also, die zuständigen Betreuer haben nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Staatsanwaltschaft zu informieren über einen Verdacht einer Inzestbeziehung gemäß Paragraf 173, also auf eine sehr ... also, ich würde doch sagen, Stasi-artig korrekte Weise auch, und haben dann im Zusammenhang mit solchen Meldungen auch Vermutungen angestellt, dass das Mädchen, die junge Frau ihrem Bruder sexuell hörig sei. Dafür gibt es überhaupt, gab es nie Indizien.

Diese Anzeigen, die es immer wieder gab aus dem Jugendamt heraus, haben unter anderem dazu geführt, dass sich die Staatsanwaltschaft in Leipzig auf die Weise mit dem Fall befasst hat, wie sie es getan hat, nämlich ohne den beiden zum Beispiel zu raten, sich einen Pflichtverteidiger zu nehmen, obwohl von Anfang an klar war, dass die sich nicht alleine verteidigen können. Also, die haben Dinge unterschrieben, die zumindest das Mädchen gar nicht oder die junge Frau gar nicht lesen konnte. Auf diese unterschriebenen Papiere haben die Gerichte sich dann im Nachhinein berufen, also, es ist wirklich grotesk.

von Billerbeck: Wäre anders entschieden worden, wäre anders gehandelt worden, was meinen Sie, wenn die beiden aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht gekommen wären?

Finger: Also, Ihre Frage legt es ja schon nahe: Ich würde sagen, es wäre vielleicht nicht zu diesen absurd hohen Strafen gekommen, also ziemlich schnell zu einer Gefängnisstrafe, weil die Betroffenen hier in der Lage gewesen wären, sich Beistand zu suchen, ja. Und das hat natürlich schon was mit der gesellschaftlichen Schicht zu tun, aus der sie kommen. Die kommen aus sehr kleinen Verhältnissen, wo auch Gewalt eine Rolle spielte, und auch deshalb waren sie dann der Justiz so ausgesetzt.

von Billerbeck: Was meinen Sie, woher kommt es eigentlich, dass bei uns Inzest anders als in anderen Ländern noch immer strafrechtlich verfolgt wird?

Finger: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten in einer Republik mündiger Bürger, wo Homosexualität und Ehebruch legalisiert sind und wo die sexuelle Selbstbestimmung, sofern sie niemandes Rechte verletzt, als Teil der Handlungsfreiheit sozusagen gesetzlich garantiert ist.

Bei dem Thema Inzest schwingt sofort immer auch das Thema Missbrauch mit und da gibt es eine unzulässige Vermischung, ja. Wir denken an nicht einvernehmlichen Sex, wenn wir Inzest sagen. Wir müssen aber verstehen, dass es auch Inzest gibt oder inzestuöse Liebesbeziehungen, die ganz freiwillig funktionieren. Und hinzu kommt dann natürlich noch das große Ressentiment, da, aus solchen Beziehungen entstehen ja nur behinderte Kinder! Und das ist nur zum Teil richtig.

von Billerbeck: Dann müssten doch auch Spätgebärende bestraft werden, die ja eine solche Behinderung ebenfalls in Kauf nehmen, um ein Kind zu bekommen.

Finger: So ist es. Also, da gibt es eine eugenische Argumentation, die mitschwingt. Die wurde übrigens auch innerhalb des Verfahrens um die Geschwister mehrfach ausgesprochen, auch von Richtern. Es wurde dem jungen Mann nahegelegt, sich sterilisieren zu lassen mit Mitte, Ende 20, was er dann auch getan hat. Es ist aber ganz ausdrücklich selbst in diesem sehr problematischen, anfechtbaren Gesetzestext nicht die Rede davon, dass es um die Verhinderung erbkranken Nachwuchses geht, also, diese eugenische Argumentation ist natürlich in unseren Gesetzesbüchern nicht zulässig. Dennoch schwingt sie erstens mit und wird sogar als Argument vor Gericht ins Feld geführt, dass es fahrlässig sei, die Gesellschaft zu belasten mit erbkrankem Nachwuchs. Und da sehen Sie schon, wie absurd es wird, wenn wir Gesetze weiterhin dulden, die die Freiheitsrechte des Einzelnen einschränken.

von Billerbeck: Evelyn Finger war das, die "Zeit"-Redakteurin kennt den Fall, über den heute vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt und entschieden wird, darüber, ob nahe Verwandte wie das Paar aus Sachsen in ihren Menschenrechten verletzt wurden, als sie dafür bestraft wurden, gegen das Inzestverbot verstoßen zu haben. Wie groß der Druck auf das Paar ist, sieht man auch daran, dass die beiden inzwischen nicht mehr zusammen sind. Danke an Evelyn Finger, die Entscheidung vor dem Gericht in Straßburg wird heute gegen zehn erwartet. Danke Ihnen!

Finger: Ja, vielen Dank!

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