Journalist Can Dündar

"Eine schwere Wolke der Angst über der Türkei"

Can Dündar, Ex-Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", zu Gast bei Deutschlandradio Kultur.
Can Dündar, Ex-Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", zu Gast bei Deutschlandradio Kultur. © Deutschlandradio - Andreas Buron
14.09.2016
Can Dündar, Ex-Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet", wurde verurteilt unter dem Vorwurf, Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Bei uns im Interview spricht er über Pressefreiheit und Angst in der Türkei.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Dündar hat die Türkei verlassen:
"Jeder weiß, wo ich bin und was ich mache. Die Strafe ist noch nicht rechtskräftig und deshalb lebe ich nicht auf der Flucht."
Das Urteil ängstigt ihn nicht, sagt er:
"Ich habe nie Angst gehabt, obwohl ich viel erlebt habe. Das, was Sie erleben, nimmt Ihnen eigentlich die Angst weg, je schlimmer es ist."
Das Verfahren gegen ihn nimmt er sogar mit einer Prise Humor:
"Für mich wurde sogar zweimal lebenslänglich verlangt, da sagte ich: Einmal schaffe ich, aber dann bräuchte ich eine Reinkarnation, um die zweite Strafe absitzen zu können."

Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei ist "ein schmutziges Abkommen"

Dündar krtisierte im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur auch das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Es sei von Anfang an falsch gewesen. Das Abkommen richte sich gegen die Menschenrechte und habe nur dazu gedient, die Flüchtlinge von Europa fern zu halten:
"Man hat eine gewisse Summe gegeben und hat die Türkei als ein Camp, als ein Lager gesehen. Das ist ein schmutziges Abkommen."
Das Flüchtlingsabkommen sei mit einer gewissen Haltung zu Stande gekommen, so Dündars Auffassung:
"Wenn man Demokratiedefizite in der Türkei übersieht und ein Repressionsregime toleriert in der Türkei, nur um dieses Abkommen aufrecht zu erhalten: Das ist ein Fehler. Und deswegen glaube ich von Anfang an, dass das nicht gut gehen wird."

Präsident Erdogan und die Demokratie

Europa habe den türkischen Präsidenten Erdogan falsch eingeschätzt, urteilte Dündar. Man habe ihn als einen Liberalen und als einen Vertreter des gemäßigten Islam sehen wollen. Dabei habe Erdogan schon Ende der 90er Jahre geäußert:
"Dass Demokratie nicht sein Endziel ist, dass es nur ein Zwischenstopp ist. Und dass Demokratie nur ein Zug ist, der ihn zu seinem Ziel bringt. Das heißt: Was er (Erdogan) wollte, war ganz klar."

"Die Presse war nie wirklich frei"

Dündar sprach auch über die derzeitigen Repressionen der Regierung gegenüber den Medien. Die Situation in der Türkei sei für Journalisten derzeit sehr schlimm. Allerdings sei das keine neue Erfahrung:
"Die Presse war in der Türkei leider nie wirklich frei, es gab immer wieder militärische Interventionen und die Demokratie wurde unterbrochen, Journalisten wurden immer unter Druck gesetzt. Aber der Druck war noch nie so stark wie heute."
Insgesamt sei die Stimmung in der Türkei derzeit von Angst geprägt:
"Es gibt eine schwere Wolke der Angst über dem Land. Die Menschen haben zurecht Angst auszusprechen, was sie für wahr halten. Man erlebt ja, was denen passiert, die das tun."
(abu/ue)

Can Dündar: "Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis"
Hoffmann und Campe, Hamburg 2016
304 Seiten, 22 Euro


Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Can Dündar ist einer der bekanntesten Journalisten in der Türkei, bekannt auch in Europa, auch bei uns, weil ihn seine Arbeit ins Gefängnis gebracht hat. Als damaliger Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" verurteilt unter dem Vorwurf, Staatsgeheimnisse veröffentlicht zu haben. Can Dündars Strafe ist noch nicht rechtskräftig. Er hat die Türkei verlassen, um sich der türkischen Justiz zu entziehen. Can Dündar zu Gast jetzt bei uns im Deutschlandradio Kultur. Herzlich willkommen, ich grüße Sie!
Can Dündar: Vielen Dank!
Frenzel: Herr Dündar, ist das ein Leben auf der Flucht, das Sie gerade führen?
Dündar: Nein, so ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Jeder weiß, wo ich bin und was ich mache. Es gibt zwar eine Strafe, die verhängt wurde, die ist aber noch nicht rechtskräftig. Und deswegen lebe ich nicht auf der Flucht.

Dündars neues Buch "Lebenslang für die Wahrheit"

Frenzel: Sie haben ein Buch geschrieben, das Ende letzter Woche auch bei uns auf Deutsch erschienen ist, ihre Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, aus der Untersuchungshaft. "Lebenslang für die Wahrheit", das ist der Titel. Das klingt einerseits nach einer Mission, das klingt aber auch fast nach einer Strafe. Was ist es für Sie?
Dündar: Ich habe auch erfahren, dass "lebenslang" diese zwei Bedeutungen hat, und deswegen hat mir auch der Titel sehr gut gefallen. "Lebenslang für die Wahrheit" erklärt eigentlich meine Situation sehr gut. Für mich wurde zweimal lebenslänglich verlangt. Ich habe gesagt, ja, einmal schaffe ich es, aber dann bräuchte ich eine Reinkarnation, um diese Strafe ganz absitzen zu können.
Frenzel: Das heißt, diese Situation, die Sie gerade erleben, dass Sie in Ihrem Heimatland juristisch verfolgt werden für etwas, das Sie als Ihre Arbeit empfinden – es belastet Sie nicht?
Dündar: Natürlich ist das traurig. Aber wenn Sie Journalist in der Türkei sind, dann wissen Sie von vornherein, wenn Sie den Beruf antreten, was Ihnen passieren kann. Natürlich nimmt man das nicht hin. Zugleich kämpfen wir dafür, das zu ändern. Deswegen ist es keine Überraschung, was ich erlebe, aber ich hoffe, dass wir die letzte Generation werden, die so etwas erlebt, dass die kommenden Generationen das nicht mehr erleben, dafür kämpfen wir.

Lage der Medien in der Türkei

Frenzel: Ist die Türkei zurzeit ein Land, in dem es überhaupt noch Platz gibt für kritischen Journalismus, gibt es Raum für kritische Stimmen?
Dündar: Erstens gibt es sehr wenige Möglichkeiten, wo Sie Ihre Kritik äußern können, denn ein großer Teil der Medien wird von der Regierung kontrolliert, und es gibt eine sehr große Mediengruppe, die direkt von Erdogan abhängig ist. Auf der anderen Seite haben die Medien sehr scharfe Maßnahmen erleben müssen. "Cumhuriyet", meine Zeitung, ist eine solche Zeitung, die kritisiert, aber da ist der Druck auch sehr hoch.
Frenzel: Wie würden Sie die gesellschaftliche Stimmung in Ihrem Land beschreiben? Ihr Land hat viel erlebt in den letzten Wochen und Monaten. Ein Putschversuch, dann politische teils heftige Reaktionen, viele Verhaftungen, viel Verfolgung – ist die Türkei ein Land, das zurzeit in einer Art Angstphase lebt, die Menschen dort?
Dündar: Ja. Es gibt eine schwere Wolke der Angst über dem Land, und die Menschen haben zu Recht Angst, auszusprechen, was sie für wahr halten. Man erlebt ja, was denen passiert, die das tun. Ehrlich gesagt, habe ich eine gleiche oder ähnliche Angstatmosphäre auch in Europa gespürt. Also nicht nur die Türkei, sondern das ganze europäische Festland und die ganze Welt werden von der Angst regiert. Die Islamisten sind eine Quelle der Angst. Diese ganze Atmosphäre der Angst gibt es auch in der Türkei, aber viel heftiger, viel dominanter. Und leider verhindern diese Ängste auch, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt.

"Europa hat Erdogan falsch eingeschätzt"

Frenzel: Lassen Sie uns über die politischen Verhältnisse sprechen zwischen Europa und der Türkei, im Speziellen, wir haben drüber gesprochen, über die Phase nach dem Putsch, die auch in Europa viele verunsichert hat, viele Politiker zu teils auch kritischen Reaktionen veranlasst hat. Gleichzeitig gibt es eine enge Kooperation zwischen der Türkei und der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik. Sie haben diesen Flüchtlingsdeal mit Erdogan kritisiert, denn Sie haben gesagt, er schade auch letztendlich der Demokratiebewegung in Ihrem Land. Was sollte Europa stattdessen tun?
Dündar: Erstens hat Europa Erdogan falsch eingeschätzt. Man hat ihn als einen Liberalen sehen wollen. Man hat ihn als einen Vertreter des gemäßigten Islams gesehen. Aber Erdogan hatte gesagt, Ende der 90er-Jahre, dass Demokratie nicht sein Endziel ist, dass es nur ein Zwischenstopp ist und dass Demokratie nur ein Zug ist, der ihn zu seinem Ziel bringt. Das heißt, was er wollte, war ganz klar.
Und heute, wo wir stehen, muss man sagen, dass leider auch Europa eine Verantwortung daran trägt. Jetzt muss man tun, was man damals hätte tun müssen. Man muss das demokratische Gesicht der Türkei verteidigen, denn die Türkei ist nicht nur Erdogan. Es gibt eine andere Türkei, unabhängig von Erdogan und eigentlich in Opposition zu Erdogan.
Ich spreche von mehr als der Hälfte der Türken in der Türkei. Die, die an die Menschenrechte glauben, an die Meinungsfreiheit glauben, an die Gleichwertigkeit von Mann und Frau glauben, an die Gleichstellung. Und Europa hätte diese Türkei immer verteidigen müssen, und heute sage ich das noch einmal: Das sind diejenigen, die Europa unterstützen muss, und diese Menschen sind die Zukunft der Türkei.

Kritik am Flüchtlingsdeal mit Präsident Erdogan

Frenzel: Was bedeutet das in der Konsequenz? Sie haben in aktuellen Interviews auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert für eben diese Kooperation. Bedeutet das in der Konsequenz, was Sie sagen, Europa, die deutsche Bundesregierung, die Europäische Union sollte nicht mehr mit Erdogan kooperieren, sollte die politische Zusammenarbeit einstellen?
Dündar: Man muss zwei Dinge trennen. Erstens, die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union. Das finde ich sehr wichtig, und ich habe von Anfang an gesagt, dass ich daran glaube, die Türkei muss ein Teil der europäischen Familie sein. Das heißt, die Beitrittsverhandlungen müssen weitergehen. Wenn das nicht passieren würde, dann würde die Türkei isoliert und würde ganz andere Abenteuer anfangen.
Auf der anderen Seite, das Flüchtlingsabkommen war von Anfang an falsch. Es war gegen die Menschenrechte, es diente nur dazu, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, und das war gegen die Flüchtlinge und gegen die Türkei gerichtet. Man hat eine gewisse Summe gegeben und hat die Türkei als ein Camp, als ein Lager gesehen, von Anfang an gesagt. Das ist ein schmutziges Abkommen.
Deutschland müsste diese Menschen von Anfang an unterstützen, obwohl ich sagen muss, dass Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern den Flüchtlingen am meisten geholfen hat. Aber wenn man Demokratiedefizite in der Türkei übersieht und ein Repressionsregime toleriert in der Türkei, nur um dieses Abkommen aufrechtzuerhalten, das ist ein Fehler, und deswegen glaube ich von Anfang an, dass das nicht gutgehen wird.

Dündar: "Ich verliere meine Hoffnung nicht"

Frenzel: Can Dündar, haben Sie die Hoffnung, dass Sie eines Tages ohne Probleme, ohne Repressionen in einer unabhängigen Presse, in einer kritischen Presse in der Türkei berichten können?
Dündar: Ein guter Freund aus der Türkei ist gekommen. Ich habe ihn zum Museum Checkpoint Charlie gebracht. Und in den 60er-Jahren, also nicht vor langer, langer Zeit, wie die DDR vor 30 oder 50 Jahren ausgesehen hat, das habe ich wieder in Erinnerung gerufen, ihm in Erinnerung gerufen. Das muss ich Ihnen ja nicht erklären. Wenn Sie in den 80er-Jahren einem Journalisten diese Frage stellen würden, dann würde er wahrscheinlich von einer fernen Zukunft sprechen. Aber die Entwicklungen beschleunigen sich in der Welt. Und deswegen verliere ich meine Hoffnung nie.
Frenzel: Can Dündar, der türkische regierungskritische Journalist und Autor des gerade auf Deutsch erschienenen Buches "Lebenslang für die Wahrheit". Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Dündar: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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