Journalismus in der "Beschleunigungsfalle"

Bernhard Pörksen im Gespräch mit Christine Watty · 25.04.2013
Der Journalismus ist "fälschungsanfällig" geworden. Das sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Besonders bei Extremereignissen wie jüngst bei dem Anschlag auf den Boston Marathon würde permanent gesendet, ohne dass es gesicherte Fakten gebe.
Christine Watty: Immerhin ist die Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher im "Stern" eine so unerhörte Ausnahme, dass man den Tag heute fast schon ehrfürchtig begeht: Vor 30 Jahren erschien das Magazin "Stern" mit den Hitler-Tagebüchern, in Wahrheit waren die Aufzeichnungen gefälscht. Der Stuttgarter Konrad Kujau hatte sie sich Seite für Seite ausgedacht, und nur wenige Tage nach der Veröffentlichung wurde auch die Wahrheit aufgedeckt, anhand sehr einfacher Indizien, wie man heute meinen könnte, denn die Bücher waren auf Nachkriegspapier geschrieben, die Tinte, wie Experten nachwiesen, noch relativ frisch, nicht älter als zwei Jahre. Hätte man rausfinden können, der ganze Vorgang war nicht nur dem Stern eine Lehre.

Das heißt aber noch lange nicht, dass seither nur außerordentlich Geprüftes veröffentlicht wird. Wie ist das heute im digitalen Zeitalter, in dem die traditionellen Medien mit der Geschwindigkeit des Internets konkurrieren? Wie findet man da schnell raus, was wahr und was falsch ist, und wer macht sich eigentlich noch die Mühe?

Bernhard Pörksen ist Medienwissenschaftler an der Uni Tübingen und beschäftigt sich besonders mit Medienskandalen und Medienethik. Und mit ihm wollen wir uns über die Evolution der Falschmeldung und Fälschung in den Medien beschäftigen. Guten Morgen, Herr Pörksen!

Bernhard Pörksen: Guten Morgen, ich grüße Sie!

Watty: Bevor es digital wird, können Sie sich noch an die Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher vor 30 Jahren erinnern?

Pörksen: Ja, ich kann mich noch daran erinnern, auch an dieses Stern-Titelbild, diesen eigentümlichen Hitler-Kult, ich war damals 14 Jahre alt, und ich meine auch, mich zu erinnern, dass ich irgendeine Fernseh- oder Pressekonferenz der "Stern"-Chefredakteure gesehen habe, zumindest glaube ich das. Auch dieser merkwürdige Satz ist ja damals gefallen, die deutsche Geschichte müsse nun umgeschrieben werden. In Wahrheit war es ja ganz gewiss die größte Ente der Pressegeschichte, die man damals lanciert hat.

Watty: Wir finden ja eigentlich bis heute Wahnsinn, wie das funktioniert hat, gerade bei einem Magazin mit einer Redaktion, die nicht aktuell arbeiten muss, die ein bisschen Zeit für die Recherche und das Nachprüfen hat, aber wahrscheinlich leben wir inzwischen längst in einer Welt, in der es viel leichter ist sogar noch als damals, Falschmeldungen in den Medien zu platzieren, oder?

Pörksen: Ich würde dem zustimmen, ja, das Interessante bei den Hitler-Tagebüchern war ja, dass eine Gruppe zunächst an der Chefredaktion vorbei, völlig besoffen, muss man sagen, von dem möglichen Scoop, der möglichen Sensation, die se Hitler-Tagebücher eigentlich nur bestätigt sehen wollte. Man hat alles ignoriert, was es an Gegenindizien gab, dass Hitler schreibfaul war, dass die Sekretärin ihn nie hatte schreiben sehen und alles, und so weiter und so fort, aber wir haben natürlich heute Extremereignisse, und wir haben ein völlig anders geartetes, völlig anderes gestaltetes Mediensystem. Und unter diesen Extremereignissen – denken Sie an das Attentat in Boston und andere Fälle – ist der Journalismus besonders fälschungsanfällig. In der Hektik, im Chaos, in diesem Gewirr, in diesem Geschwirre der Nachrichten setzt ein Wettlauf um den Scoop ein, gibt es eine Art Informations- und Visualisierungsvakuum, also niemand hat gesicherte Fakten, niemand hat Bilder, die Fernsehsender sind gleichwohl permanent on air. Die Sendung läuft, die muss laufen, die Breaking-News-Berichte. Und all dies führt dazu, dass der Journalismus in besonderer Weise fälschungsanfällig wird und womöglich eben gar nicht mehr verifiziert, gar nicht mehr ausführlich genug recherchiert, sondern zuerst publiziert und sich dann herausstellt: Oh Gott, es war falsch!

Watty: Vor allem wird der Journalismus fälschungsanfällig, wenn wir noch mal kurz auf Konrad Kujau schauen, dann ist ja auch der in Anführungsstrichen sogenannte "Berufsstand" des Fälschers auch hinfällig, denn inzwischen kann jeder ganz leicht von zu Hause aus mit einer kleinen Twitter-Meldung eine Fälschung in die Welt bringen, sozusagen. Das heißt, der Profifälscher, der zu Hause sitzt und irgendwie eine besondere Fälschung, die er in den Medien platzieren will, bastelt, der hat eigentlich ausgedient.

Pörksen: Das würde ich nicht sagen, wir haben natürlich immer noch PR-Agenturen, die eine oder andere zumindest Halbseite Information lancieren. Aber Sie haben schon recht, ich würde sagen, die zentrale Trendmeldung der digitalen Welt ist: Es gibt eine gänzlich neue Demokratisierung der Enthüllungspraxis, jeder besitzt ein Smartphone, eine indiskrete Technologie, wenn man so will, und kann unter Umständen vor einem Weltpublikum seinen Themenvorschlag ausbreiten, und der muss nicht immer stimmen.

Watty: Wir können natürlich nicht immer die Schuld nur auf das Internet schieben, wenn aber dort natürlich den Ursprung des Übels, also wie schon erwähnt von Ihnen auch im Falle des Bostoner Attentates werden schnell Onlinespekulationen angestellt, und die werden dann aber eben auch von den traditionellen Medien übernommen. Woher kommt das denn, dass die mitmachen? Weil es ist ja nicht nur die Schnelligkeit des Internets, sondern vor allem auch offenbar die neu angelegte Fahrlässigkeit der traditionellen Medien, warum ist das so?

Pörksen: Ich glaube, es sind in der Tat diese Extremereignisse. Diese Extremereignisse zeigen wie unter einem Brennglas eigentlich die Normalität des Journalismus, die sich verschärfende Aufmerksamkeitskonkurrenz, den harten Wettlauf um den Scoop, dann dieses bereits angedeutete Informations- und Visualisierungsvakuum, man hat keine Bilder, man hat keine gesicherten Informationen, und in der Tat, man geht gleichwohl auf Sendung und möchte unbedingt der Erste sein, also nicht wie der klassische amerikanische Nachrichtenmacher sagen würde, be first but first be right, aber nur be first. Der Journalismus, der so agiert, ist in einer Art Beschleunigungsfalle.

Und es ist ganz wichtig, diesen Hinweis von Ihnen noch mal aufzugreifen, die Netzkritik greift gerade im Falle des Bostoner Attentats deutlich zu kurz. Wir haben ja nicht auf der einen Seite den bösen Schwarm, der nun zur Menschenjagd auf Unschuldige geblasen hat – dies hat es gegeben, ganz gewiss –, und dann auf der anderen Seite die Guten, die journalistischen Experten. Das Interessante im Fall von Boston ist ja, dass die "New York Times", dass "FOX News", dass "CNN", dass "AP", dass die alle sich durch Falschmeldungen blamiert haben, Falschmeldungen, die unter Umständen massive Folgen haben für die unschuldig Verdächtigten.

Watty: Im Deutschlandradio Kultur geht es mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen 30 Jahre nach der Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher um Wahrheit und Fälschung auch heute in den Medien. Würden Sie also sagen, es ist schlimmer heute als Medium oder für ein Medium, das langsamste zu sein, als das Medium, das womöglich eine Falschmeldung nach der nächsten verbreitet?

Pörksen: Das ist absolut korrekt. Also Geschwindigkeit ist zu einem neuen Fetisch des Journalismus geworden, und man könnte genau umgekehrt argumentieren. Die Aufgabe der klassischen Medien, die Aufgabe der Leitmedien, ist gerade in einer solchen Situation des Extremereignisses, der sich überstürzenden Nachrichten, der unklaren Nachrichten und Faktenlage, eine systematische Entschleunigung, also vor dem ersten Ad-hoc-Gedanken den zweiten Gedanken zu denken, nicht auf diese Form der Stichflammenberichterstattung einzusteigen.

Denn wir können natürlich in dem Rezeptionsverhalten des Publikums beobachten, dass sich gerade im Falle von Extremereignissen – denken Sie auch an den 11. September – das Publikum wieder besonders den klassischen Medien zuwendet. Und wenn die dann versuchen, besonders schnell zu sein und womöglich falsch liegen, beschädigen sie ihr wichtigstes Kapital, nämlich die Glaubwürdigkeit.

Also, was im Grunde genommen ansteht, ist für die klassischen Leitmedien eine – ja, wenn man so will – Neuorientierung eine Art Ausrichtung oder ein Abschied vom Fetisch der Geschwindigkeit, und was für das Publikum selbst ansteht, ist eigentlich ja eine Art journalistischer Allgemeinbildung. Jeder muss sich doch heute die Fragen stellen, die sich früher in einer anderen Zeit nur Journalistinnen und Journalisten stellen mussten, nämlich, was ist glaubwürdige, was ist veröffentlichungswürdige, was ist relevante Information?

Watty: Verändert das denn auch aus Nutzersicht den Begriff von Wahrheit, wenn man … die Hitler-Tagebücher – um darauf noch zurückzukommen – waren natürlich auch deswegen erschreckend, weil man wusste, da steht etwas in der Zeitung oder in einem Magazin, das womöglich gar nicht stimmt. Heute wären wir wahrscheinlich auch als Nutzer davon gar nicht mehr oder sind nicht mehr so überrascht, weil wir denken: Na ja, das war eben die falsche Quelle.

Pörksen: Ja, ich denke, es verhält sich etwas anders. In der Tat, wir haben natürlich vieles, mit Blick auf vieles, was im Netz so kursiert und umherschwirrt, eine prinzipielle Echtheitsungewissheit, also wir können uns nie sicher sein, ob all dies stimmt, ob all dies der Wahrheit entspricht. Und von den Leitmedien erwarten wir umgekehrt geradezu eine besondere Faktentreue, also immer im Moment der Informationsunsicherheit – Informationsunsicherheit oder Faktizitätsunsicherheit ist heute ein prinzipielles Problem – wird die Autorität der Quelle besonders wichtig. Denken Sie zurück an diese, an die Tötung von bin Laden. Da tauchten – Stichwort Visualisierungsvakuum – sofort Fotos auf des erschossenen, angeblich erschossenen bin Laden. Man wusste noch nicht so genau, was los war. Diese Fotos erwiesen sich als mehr oder minder plumpe Fälschungen, und dann haben die Journalisten recherchiert, und war gewissermaßen ihre Autorität im Moment dieser Unsicherheit besonders wichtig. Und das ist ein Zusammenhang, den wir immer wieder beobachten können.

Watty: Aber da haben ja dann auch nicht mehr nur die Journalisten die Autorität, denn es gibt ja noch eine andere Sicht auf das Internet und auch die Geschwindigkeit darin, dass womöglich auch so eine Kujau-Geschichte wie vor 30 Jahren heute schwerer möglich wäre, weil womöglich das Netz selbst die Unwahrheit dieser Geschichte aufdecken würde.

Pörksen: Das ist durchaus möglich, also der Schwarm, die crowd ist ja nicht nur bösartig, sondern wir haben gerade auch in den letzten Jahren gesehen, denken Sie an den Fall von Karl Theodor zu Guttenberg, dass ein Schwarm Intelligenzleistungen in einer Geschwindigkeit hervorbringt, die zum Teil den klassischen Journalismus übersteigt.

Also im Falle von Karl Theodor zu Guttenberg habe ich das sehr genau verfolgen können. Da hat man gesehen, dass die Schwärme von wütenden Doktoranden sehr viel schneller darin waren, die Arbeit, die Doktorarbeit dieses betrügerischen Verteidigungsministers auseinanderzunehmen, sehr viel schneller als etwa die "Spiegel"-Journalisten, die natürlich gebunden waren an Andrucktermine, und nicht diese Recherchekapazität dann in diesem Umfang sofort zur Verfügung stellen konnten. In der Tat, das Netz ist ein janusköpfiges Instrument , es lässt sich in einem guten wie einem schlechten Sinne verwenden. Und wir sind das – wenn ich so etwas predigerhaft hier werden darf – wir sind das, die es in der einen oder anderen Weise gebrauchen und einsetzen.

Watty: Das war nicht nur predigerhaft, sondern vor allem auch das Schlusswort unseres Gespräches. Ich bedanke mich recht herzlich beim Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über Falschmeldungen in Zeiten des Internets anlässlich einer sehr analogen Falschveröffentlichung, die heute 30 Jahre alt wird, die Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher im Stern. Vielen Dank, Herr Pörksen!

Pörksen: Ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.