Jonathan Franzen in Hamburg

Lesetour als großes Theater

Der US-amerikanische Bestseller-Autor Jonathan Franzen zieht am 08.10.2015 in Hamburg auf der Bühne des Thalia Theaters seinen Roman "Unschuld" aus einer Aktentasche.
Jonathan Franzen zieht in Hamburg auf der Bühne des Thalia Theaters seinen Roman "Unschuld" aus einer Aktentasche. © picture-alliance / dpa / Axel Heimken
Von Claas Christophersen · 09.10.2015
Bühne frei für Jonathan Franzen in Hamburg. Im Thalia-Theater startete der US-amerikanische Star-Autor mit seinem Roman "Unschuld" eine kleine Lesereise durch die Republik. Seit Jahrzehnten hat er eine starke Affinität zu Deutschland – und zur deutschen Sprache.
"Guten Abend. Es ist ein prächtiges Theater. Ich fürchte, dass die Lesungen nicht so sehr prächtig sein werden, aber ..."
Jonathan Franzen betritt die Bühne des Hamburger Thalia Theaters. Mit seiner Aktentasche wirkt er ein bisschen wie ein Studienrat, der sich nun vor seine Schüler setzt und sein Unterrichtsmaterial auspackt. Doch welcher Lehrer kann schon aus seinem eigenen Buch vorlesen – und dann auch noch in einer anderen als der eigenen Sprache? Denn Franzen liest an diesem Abend auf Deutsch aus der Übersetzung seines jüngst erschienenen Romans "Unschuld", insgesamt länger als eine halbe Stunde.
"Ach, Miezchen, ich bin ja so froh, deine Stimme zu hören, sagte die Mutter der jungen Frau am Telefon."
Krankheiten als Zungenbrecher
Die ersten Sätze des Romans. Eine der Hauptfiguren, die Studentin Pip, telefoniert mit ihrer hypochondrischen Mutter. Sie glaubt, an Krankheiten zu leiden, die wohl auch deutsche Muttersprachler kaum über die Lippen bekommen würden:
"Keine Ahnung, weil du auch nicht die Basedowsche Krankheit hattest oder eine Hyper ... oh boy (Lachen) ... eine Hyper ... (Lachen) ... Hyperthyreose? Oder ein Melanom?"
Insgesamt schlägt sich der 56-jährige Star-Autor wacker, auch wenn er sich immer wieder für sein Deutsch entschuldigt. Allerdings: Wenn er wirklich so unzufrieden mit seiner sprachlichen Leistung wäre, hätte es vielleicht doch eines deutschen Rezitators bedurft. Doch der fehlt an diesem Abend im Thalia Theater. Vielleicht, weil ein Star-Autor von Jonathan Franzens Rang das gar nicht nötig hat?
"The world was overpopulated by talkers and underpopulated by listeners and .."
Beinahe erleichtert wechselt Franzen schließlich für eine Passage ins Englische – nachdem er den Text zur Belustigung des Publikums erst eine ganze Weile in seiner Aktentasche suchen musste. Auch wenn viele Zuschauer nicht alles verstanden haben dürften – in seiner Muttersprache zeigt Franzen, dass er tatsächlich ein sehr guter Vorleser ist. Seine Texte wirken lebendig und sind wirklich für ein Publikum geschrieben. Das findet auch die Moderatorin des Abends, Felicitas von Lovenberg, Literaturchefin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
"Worum geht es in diesem neuen großen Roman? Es geht um dominante Mütter, abwesende Väter und deren Kinder. Es geht um große Lieben und zerrüttete Ehen. Es geht um Schriftstellerei und Journalismus, um die DDR, die Stasi und das Internet."
Ein Roman über so ziemlich alles
Man könnte auch sagen: es geht um so ziemlich alles in Jonathan Franzens 800-Seiten-Epos "Unschuld". Doch eine These des Romans sticht hervor: Franzen lässt einen seiner Protagonisten, den in der DDR aufgewachsenen Whistleblower Andreas Wolf, an einer Stelle darüber spekulieren, dass das Internet heute eine vergleichbare Wirkung auf die Gesellschaft habe, wie die Diktatur im Osten Deutschlands sie einst hatte. Doch die Teile, die Franzen an diesem Abend vorträgt, handeln vornehmlich von zerrütteten Beziehungen. Felicitas von Lovenberg:
"Jonathan, im Roman geht's ja auch, habe ich ja schon gesagt und reden wir vielleicht noch darüber, geht's ja auch um das Internet und Ausspähung und Berechnung. Aber wenn ich dir so zuhöre – sind Beziehungen nicht genauso schlimm wie das Internet?"
Franzen: "Here is the thing."
Franzen glaubt, von Lovenberg unterstelle ihm, er sei gegen das Internet. Das stimme aber nicht:
"Ich bin skeptisch dem Internet gegenüber."
Und bei dieser Aussage zum Thema bleibt es schließlich auch. Das ist schade. Denn so kurzweilig der Abend auch ist und so sehr Franzen augenscheinlich den direkten Kontakt zum Publikum genießt – so sehr hätte eine wirkliche Debatte über die Gefahren des Internets diese erste Lesung Jonathan Franzens in Deutschland bereichern können.

Am 9.10.2015 liest Jonathan Franzen in Göttingen auf Deutsch aus seinem Roman "Unschuld". Am 10.10. tritt er in der Akademie der Künste in Berlin auf. Für beide Veranstaltungen gibt es aber nur wenige Restkarten.

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