Jonas Carpignano über seinen Film "Mediterranea"

"Ich will die Menschen hinter den Schlagzeilen zeigen"

Jonas Carpignano (r) und Koudous Seihon
Der Regisseur Jonas Carpignano (r.) und der Hauptdarsteller Koudous Seihon von "Mediterranea" beim Filmfest in München © picture alliance / dpa / Foto: Matthias Merz
Moderation: Patrick Wellinski · 17.10.2015
Die Protagonisten in "Mediterranea" sind selbst aus afrikanischen Ländern geflüchtet, wodurch der Film von Regisseur Jonas Carpignano etwas Halbdokumentarisches bekommt. Er wolle das "Humanistische" dieser Geschichten in den Vordergrund rücken, sagt Carpignano.
Jonas Carpignano: Also für mich ist das kein aktuelles Thema. Ich lebe ja schon seit Jahren in dieser Realität, und ich fand es eigentlich fast schon zu spät, dass ich versuche, die Aufmerksamkeit des Publikums auf dieses Thema zu legen, weil die Geschichte mit den Bootsflüchtlingen, das geht ja schon seit einigen Jahren so in Italien. Diese Ereignisse, die ich da beschreibe, als es in dieser kleinen italienischen Stadt quasi einen Aufstand gab, als es Unruhen gab von 2010, liegen ja nun auch schon eine Weile zurück, und daher hatte ich jetzt eher das Gefühl, dass ich einen persönlichen Blick auf diese Ereignisse werfe. Mir geht es darum, die Leute zu zeigen, die hinter den Schlagzeilen stehen und jetzt nicht mit diesem Thema Schlagzeilen zu machen.
Patrick Wellinski: Ist der Stoff auch vielleicht deshalb für Sie interessant, weil er persönlich für Sie interessant ist – Sie sind ja Halbitaliener?
Carpignano: Ja, absolut. Ich versuche ja diesen Film schon seit Jahren zu drehen, und das war auch mein Wunsch, etwas zu Rassismus, zu verschiedenen Ethnien und wie sie zusammen leben, zu erzählen, weil ich bin in Rom und in New York aufgewachsen, mein Vater ist Italiener, meine Mutter ist Afro-Amerikanerin. Ich habe mich immer damit auseinandergesetzt, wie in Italien mit verschiedenen Ethnien umgegangen wird, welche Form von Rassismus dort herrscht. Ich war das einzige Kind mit einer schwarzen Mutter weit und breit und habe mich dann immer gefragt, wenn ich mir die anderen Kinder so aus der Mittelschicht angeschaut habe, wo sind die schwarzen Mütter.
Wellinski: Ihr Film zerfällt in einer gewissen Art und Weise in zwei Teile: Es beginnt mit der Reise mit der Flucht dieser Migranten aus Afrika nach Europa und dann sind sie in Kalabrien und müssen sich dort natürlich auch mit der Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen. Manchmal dachte ich, das sind vielleicht sogar schon zwei Filme in einem. Warum wollten Sie, dass der Film zwei Seiten hat?
"Mir war es wichtiger, den Zuschauer mit auf diese Reise zu nehmen"
Carpignano: Für mich war es auch wichtig, dass man gewisse Sachen nicht vergisst, wenn man diese Figuren sich anschaut. Sie passen sich ja, wenn sie hier dann in Europa angekommen sind, passen sie sich ja irgendwie an das Leben an, und Koudous – das ist der Hauptdarsteller, der auch die Hauptfigur spielt –, als ich seine Geschichte höre, dann war die Reise nach Europa plötzlich auch sehr wichtig, den Weg, der harte Weg, den er gehen musste. Das erschien mir dann so, natürlich könnte ich im Kino eine Szene wählen, wo er das einfach nur erzählt. Mir war es doch dann aber wichtiger, den Zuschauer mit auf diese Reise zu nehmen, mit auf diesen beschwerlichen Weg zu nehmen, damit er die Hauptfigur auch besser versteht. Wenn diese Figur in Europa plötzlich ankommt, da muss man eben auch zeigen, dass er bestohlen worden ist, wie beschwerlich die Reise auf diesem Boot war, um nach Europa zu gelangen. Das ist einfach wichtig, damit man dann auch besser nachempfinden kann, was diese Menschen durchmachen.
Wellinski: Sie arbeiten mit Laiendarstellern und haben sich gegen professionelle Schauspieler entschieden, wahrscheinlich wegen der Authentizität. Können Sie vielleicht erzählen, wie das den Film bestimmt hat und wie es ihm seine Form gegeben hat?
Carpignano: Also ich bin mit dem italienischen Neorealismus aufgewachsen, und mein Großvater sagte dann immer zu mir, du musst, wenn du eine Geschichte erzählst, nicht eine Geschichte über Menschen erzählen, sondern mit ihnen, und das war eben das, was mein Leitfaden geworden ist. Ich wollte keine professionellen Schauspieler gewinnen, ihnen dann sagen, wie sie authentisch jemanden nachstellen und nachspielen. Deswegen hat dieser Film jetzt auch so ein dokumentarisches Feeling bekommen. Ich wollte, dass es repräsentativ wird. Als ich die Reise selber unternommen habe, als ich selbst diese Erfahrung gemacht habe, wurde mir ganz klar, das muss endlich mal Teil eines Films werden, der diese Flüchtlingsgeschichten erzählt von diesen Leuten, die nach Italien übersetzen. Was mich so beeindruck hat, war die Solidarität, die unter den Flüchtlingen geherrscht hat. Da gab es so ein starkes Band, eine Art gemeinsame Sprache, und wenn man dann wieder in Italien ankommt, dann reicht oft nur ein Wort, eine Erinnerung, wie es zum Beispiel war in der Wüste, und das verbindet dann plötzlich Afrikaner, egal ob sie aus Nigeria oder aus Burkina Faso stammen, und dann entsteht fast sowas wie eine afrikanische Kultur in Kalabrien im Süden Italiens.

Pio Amato als Ayiva im  Kinofilm "Mediterranea"
Pio Amato als Ayiva in einer Szene des Kinofilms "Mediterranea".© picture alliance / dpa / Foto: DCM
Wellinski: Man spürt ja die ganze Energie, die Sie in das Projekt investiert haben, sie ist ja jetzt noch total präsent – ist das Ihre Art von Filmemachen, und dahingehend auch überschreiten Sie nicht auch Grenzen als Filmemacher, und bringen Sie sich nicht nur selber, sondern die ganze Crew in Gefahr?
Carpignano: Glücklicherweise arbeite ich mit einem Filmteam zusammen, das sich schon länger kennt. Wir haben schon einen Kurzfilm vor fünf Jahren zusammen gemacht, vorher haben wir an einem Spielfilmprojekt gearbeitet. Also jeder wusste, auf was er sich da einlässt, und wenn dann mal jemand zu uns stößt, der mit unserer Arbeitsweise nicht so klar kommt, dann trennt man sich dann meistens auch wieder. Insofern sind wir über die Jahre wie zu einer Familie geworden, und wir teilen das. Wir wissen, was wir wollen, wir haben auch ähnliche Ideen, und uns geht es eigentlich nur darum, unsere Arbeit so lange zu machen, bis sie beendet ist. Wenn man dann schon so viel Zeit darin investiert, dann möchte man natürlich sich auch für diese Arbeit belohnen, und es soll natürlich auch Spaß machen, es soll natürlich auch zu einem Ergebnis kommen, mit dem man zufrieden ist. Wir sind also nicht ein Drehteam, was vier Wochen irgendwo hingeht, etwas dreht, und danach ist man wieder in seinem Privatleben, sondern das ist Teil unseres Lebens geworden, diese Filme zu machen. Wir schützen uns dann auch davor, wenn andere Leute kommen und versuchen, ihre Ideen praktisch uns aufzudrängen, das lassen wir nicht zu.
Wellinski: Das ist sehr interessant. Man muss ja auch sagen, Ihr Film ist natürlich düster und ist natürlich auch eine schockierende Reise und Darstellung dessen, was ja passiert, aber trotzdem gibt es lichte Momente, lustige Momente, Popmusik spielt eine große Rolle. Ist das auch basierend auf Ihren Erfahrungen, der Recherche oder woher kommen diese Einflüsse?
"Es wäre wirklich ignorant, indem man nur die Härten des Lebens zeigt"
Carpignano: Es war mir ganz wichtig, nicht nur zu lamentieren, nicht nur zu jammern, sondern man muss dann schon auch schauen, dass es auch diese anderen Momente gibt, die Sie angesprochen haben, leichte Momente, Momente, wo das Leben auch genossen wird. Diese Szenen, die in dieser Bar spielen, die ja eigentlich auch im Prinzip ein Bordell ist, da kann man nicht nur sagen, wie schrecklich das alles ist und wie hart das Leben ist, sondern man muss eben auch zeigen, dass da sowas wie ein Sozialleben entsteht, dass man da auch einfach Spaß hat. Es wäre da wirklich ignorant, das den Charakteren zu verweigern, indem man praktisch nur immer die Härten des Lebens zeigt, das wäre unehrlich.

Dann gibt es eben Szenen, mit den Frauen, wenn sie Witze machen mit den Männern, die haben wir dann direkt übernommen, das sind Dinge, die haben Koudous und ich wirklich erlebt. Was die Popmusik anbelangt, das hat sich sehr schnell herauskristallisiert, das basiert auch wieder auf Erfahrungen. Als ich da unten war und dann zusammen in diesen schäbigen Baracken mit 14 Leuten geschlafen habe, da geht dann plötzlich das Handy von einem los und ein Rhianna-Song kommt, und dann sage ich zu ihm, wow, das mag ich auch, das ist ein toller Song, und sofort ist das Eis gebrochen, sofort hat man eine gemeinsame Sprache. Das ist wirklich etwas, was ich ganz stark erlebt habe, egal in welchem afrikanischen Land ich unterwegs war – ob es Burkina Faso oder andere waren –, Popmusik ist wirklich eine Referenz, da hat man dann eine gemeinsame Sprache gefunden.
Wellinski: Kann man sich jetzt eigentlich auch vorstellen, dass Sie jetzt anfangen, andere Filme zu machen? Sie sind so sehr – auch ein Teil Ihres Lebens ist jetzt draufgegangen, also arbeiten Sie jetzt weiter in diesem Feld oder können Sie sich jetzt vorstellen, auch eine ganz normale Komödie zu machen im ganz anderen Kontext?
"Ich habe einen neuen Film im Kopf"
Carpignano: Nun, ich hätte auch nicht geglaubt vor fünf Jahren, dass ich da wirklich leben würde, und dass ich da wirklich bleiben möchte, und ich lebe noch immer da unten, und das ist mein Zuhause geworden. Ich habe einen neuen Film im Kopf, da geht es um Pio, den kleinen Jungen, der die MP3-Player immer verkauft, und da werden viele, die man auch in diesem Film gesehen hat, wieder dran teilnehmen. Mein Leben und mein Leben als Künstler haben sich eigentlich vermischt, und ich sehe mich noch eine Weile da weiterleben, das sind bestimmt noch viele Jahre, ich habe mehr Filme im Kopf, und ich bin eben ein Teil dieser Gemeinschaft geworden. Sie haben vollkommen recht, die ganze Zeit und die Energie, die man da reingesteckt hat, die sind jetzt ein Teil meiner Selbst geworden, und das kann ich nicht einfach so ziehen lassen. Insofern bleibe ich da noch eine Weile am Ball.
Wellinski: Wie haben Sie es eigentlich geschafft – das fiel mir jetzt noch grad ein –, die Träume dieser Menschen einzufangen, weil Sie sind bei den Träumen dieser Menschen, das ist eigentlich das, was den Humanismus Ihres Films ausmacht. Haben Sie sie erzählt bekommen oder wie haben Sie dies erfahren?
Carpignano: Ja, das stimmt schon. Da wird ein gewisses Eldorado natürlich propagiert. Das führt dann eben dazu, dass man sich sagt, wenn er das geschafft hat, dann kann ich das auch. Das erinnert mich an die Italo-Amerikaner, die damals von Italien nach Amerika emigriert sind und immer nur Erfolgsgeschichten nach Italien geschickt haben, immer nur erzählt haben, wie großartig es ihnen geht und was sie schon alles geschafft haben. Und wenn man dann näher dahinter geschaut hat, hat man gesehen, acht von zehn lebten irgendwie fast wie in einem Slum irgendwo in Lower Manhattan, aber dieses Erfolgsbild, das ist, was man braucht, und da beschönigt man dann auch das eine oder andere. Man wertet sich sozusagen auch auf mit dem Erfolg, den man da behauptet, und heute findet das eben auf Facebook und so statt und ist Teil dieser gesamten Erfahrung von Flüchtlingen.
Wellinski: Abschließend gefragt, was wollen Sie, dass das Publikum aus diesem Film mit rausnimmt? Ist das eine Einstellung, ist das ein Gefühl?
Carpignano: Für mich persönlich hat der Film dann einen Erfolg, wenn der Zuschauer das Gefühl hat, Koudous zu kennen, wenn er das Gefühl hat, zu wissen, was Koudous mag, was er nicht mag. Die Kommentare, die ich bisher gelesen habe – was mich am meisten gefreut hat, ist, wenn Leute gesagt haben, man kann es in seinen Augen sehen, wie er auch gewisse Dinge reagiert. Wenn es mir jetzt gelingt mit diesem Film, dass man in Italien einfach die Menschen, den Einzelnen hinter diesem Schicksal sieht, dann, finde ich, habe ich schon etwas erreicht. Ich habe jetzt nicht die ganz großen politischen Ziele mit diesem Film. Mir geht es einfach nur darum, dass der menschliche Teil, dass eben das Humanistische an diesen Geschichten stärker in den Vordergrund gerückt wird.
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