JonArno Lawson/Sydney Smith: "Überall Blumen"

Mit offenen Augen wird alles bunter

Blumen im Asphalt
Blumen im Asphalt © imago/ CHROMORANGE
Von Eva Hepper · 30.08.2016
Die ausgezeichneten kanadischen Illustratoren lassen uns in ihrer Geschichte "Überall Blumen" die Welt durch die Augen eines Mädchens sehen. Aus einer grauen Stadt wird so eine farbenfrohe und leuchtende Metropole. Ein wundervolles Bilderbuch für Kinder und Erwachsene.
Es ist eine graue Stadt und die Menschen jagen geschäftig auf den Straßen umher. Sie hetzen von einem Ort zum anderen. Zu Fuß, im Taxi, im Bus. Das Handy am Ohr, den nächsten Termin im Kopf. Von ihrer Umwelt sehen sie: nichts. Nicht die Vögel am Himmel, nicht die Katze auf dem Bürgersteig, nicht das Eichhörnchen im Park und schon gar nicht die Blumen im Asphalt.
In "Überall Blumen" lassen JonArno Lawson und Sydney Smith ein kleines Mädchen gemeinsam mit seinem Vater durch eine Großstadt laufen. Und während der Erwachsene wie mit Scheuklappen unterwegs ist, hat die Kleine Augen für die Kostbarkeiten am Wegesrand. Sie sieht Löwenzahn, der sich durch die Mauerritzen zwängt, Blumen in der Schweißnaht eines Brückenpfeilers, blühende Sträußchen im aufgerissenen Asphalt. Ihre Welt besteht aus prächtigen Farben und nebensächlichen Schönheiten. Die des Vaters und der übrigen Erwachsenen ist nur grau.

Poetisches Farbenspiel in den Bildern

Mit feinen Tuschezeichnungen erzählt Sydney Smith (von Lawson stammt die Geschichte) die Wanderung der Protagonisten durch die Stadt. Anfangs zeigt seine Palette in bestechender Variation nur Grautöne. Allein das Mädchen trägt eine knallrote Kapuzenjacke und sticht dadurch auf jeder Illustration heraus. Und bald beleben auch die ersten Blumen an der Bordsteinkante das graue Einerlei.
Es sind poetische Bilder, mit denen der preisgekrönte Illustrator seine Szenen entwickelt. Mit nur wenigen Strichen umreißt er fast skizzenhaft das Leben der Städter: Bis auf die meist telefonierenden Menschen an der Bushaltestelle sind alle immer in Bewegung. Sehr virtuos wechseln die Bilder zwischen Aufsichten, Nahaufnahmen und Totalen. Der Betrachter spürt förmlich die Hektik und folgt doch immer dem Blick des Mädchens, dessen rote Jacke wie ein Magnet wirkt. So sieht auch er die Tattoos auf dem Arm eines an der Ampel Wartenden, den betrübten Blick der Frau im Taxi, den fröhlich tänzelnden Hund vor einem Geschäft, vor allem aber die Blumen, die allerorten durch die Spalten und Ritzen ans Licht drängen.

Verschenkte Blumen färben die Umwelt

Das Mädchen beginnt sie zu pflücken und zu verschenken. Ein Sträußchen bekommt ein toter Vogel am Straßenrand, ein anderes ein Schläfer im Park, ein drittes steckt sie einem Hund ans Halsband. Und mit einem Mal verändert sich alles: Farben verdrängen das Grau, sie kriechen die Straßen hinauf, kolorieren die Autos, die Geschäfte, die Menschen. Die verschenkten Sträuße färben buchstäblich auf ihre Umwelt ab. Und wenn Vater und Tochter zu Hause angekommen sind, ist aus der grauen Stadt eine farbenfrohe leuchtende Metropole geworden.
Ganz ohne Worte entfalten die kanadischen Autoren ihre kleine und doch so große Geschichte. Schöner lässt sich kaum illustrieren, dass es sich lohnt, mit offenen (Kinder-)Augen durch die Welt zu gehen und achtsam wahrzunehmen, was um einen herum geschieht. Das Leben wird dadurch reicher und bunter – für alle. Das ist das Wunder, von dem hier erzählt wird.

JonArno Lawson/Sydney Smith: "Überall Blumen"
S. Fischer/Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2016
32 Seiten, 14,99 Euro