John Darnielle: "Wolf in White Van"

Das Monster in uns

Junge mit Computerspiel
Einsamkeit und Langeweile katapultieren die Fantasie der Hauptfiger Sean in neue Sphären. © picture alliance / dpa / Foto: Maximilian Schönherr
Von Marten Hahn · 18.05.2016
In den USA gilt John Darnielle als einer der besten Songschreiber seiner Generation. Ihm ist mit "Wolf in White Van" ein umwerfendes Romandebüt gelungen. Darin geht es um Einsamkeit und ihre tödlichen Nebenwirkungen.
Sean Philipps starrt die Krankenhausdecke solange an, bis sie beginnt, sich zu bewegen. Bis da ein Maskenmann zu ihm spricht und ganze Armeen aufmarschieren. Es sind die Allmachtsfantasien eines Ohnmächtigen, eines Teenagers, der in seinem Kopf gefangen ist.
Sean ist Opfer eines missglückten Selbstmordversuchs, der sein Gesicht vollkommen entstellt hat. Den Großteil seiner Jugend verbringt er in Krankenhäusern. Schon vor dem Ereignis neigt der Fantasy-Fan zur Flucht in eigene Welten. Doch jetzt katapultieren Einsamkeit und Langeweile die Fantasie des Jungen in neue Sphären. Er entwirft ein Gedankenspiel: Es gilt, ein post-apokalyptisches Amerika zu durchqueren. Das Ziel ist eine sichere Festung namens "Trace Italian".

Geistiger Abenteuerspielplatz

Anfangs ist "Trace Italian" nur Seans geistiger Abenteuerspielplatz. Später, als Erwachsener, macht er eine Art Pen-&-Paper-Rollenspiel daraus und verdient Geld damit. Sean gibt die Rahmenhandlung vor. Andere Spieler senden ihm ihre Spielzüge per Post und machen sich so auf die Suche nach der Festung. Und so beginnt John Darnielles umwerfendes Romandebüt "Wolf in White Van" als eine Ode an die Heilkraft der Fantasie. Bis Sean enthüllt, wie es zu dem Selbstmordversuch kam. Als dann auch noch zwei Teenager die Anweisungen in "Trace Italian" wörtlich nehmen und aus dem Spiel tödlicher Ernst wird, ist klar: "Wolf in White Van" ist vor allem ein Buch über Einsamkeit, Eskapismus und ihre tödlichen Nebenwirkungen.
John Darnielle, geboren 1967, ist der Kopf der US-Band "The Mountain Goats". Manche nennen Darnielle den besten Liedtexter seiner Generation. Nun beweist er, dass seine Sprache nichts an Kraft einbüßt, wenn sie die Grenzen eines Drei-Minuten-Songs hinter sich lässt.
Darnielle sagt von sich, er habe als Jugendlicher Monster- und Slasher-Filme geliebt. Seine Englisch-Abschlussarbeit an der Uni hätte er am liebsten über "Monstrosität als Konzept" geschrieben. Auf gewisse Weise hat er das nun mit "Wolf in White Van" nachgeholt. Hier macht er sich auf die Suche nach dem Monster in uns.

Lektion in Optimismus

Gleichzeitig hat man stellenweise das Gefühl, Darnielle wolle dem Leser eine Lektion in Optimismus erteilen. So beschreibt Sean sein entstelltes Gesicht als eine Art Superkraft: Betritt er einen Raum, ist ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher. Seiner Pflegekraft sagt Sean, sein Leben sei "bis zum Rand mit fast unbeschreiblicher Freude gefüllt, wie ein großer Krug".
Monstrosität, Selbstmord und Optimismus? Darnielle nimmt den Leser mit auf eine ergreifende Seelenerkundung und Sinnsuche. Warum schießt sich ein Jugendlicher mit einem Gewehr in den Kopf, obwohl es ihm augenscheinlich an nichts fehlt? Darauf kann Sean weder als Junge noch später sich oder seinen Eltern eine Antwort geben. Es regiert Sprachlosigkeit. Manchmal ist die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt unmöglich zu überwinden.

"Fänger im Roggen" für die junge Generation

Zur Entschlüsselung bleibt nur der Blick auf "Trace Italian". Wie Darnielle das Spiel als eine Reise zur psychologischen Selbstfindung inszeniert, hat das Zeug zum Klassiker. Man sieht Schüler vor sich, die statt Salingers "Fänger im Roggen" "Wolf in White Van" sezieren. Sie würden den labyrinthartigen Aufbau der Festung "Trace Italian" mit der menschlichen Psyche oder gleich mit dem Leben vergleichen: Ein Vordringen ins sichere Zentrum ist unmöglich. Der Weg ist das Ziel. Und dabei bloß nicht umkommen.
Von wirklicher Aufklärung hält der Autor wenig. Auch darauf würden die Schüler am Ende kommen. Die Lektion: Die beste Literatur stellt Fragen, statt Antworten zu liefern.

John Darnielle: "Wolf in White Van"
Aus dem Englisch: Tobias Schnettler
Eichborn, 2016
256 Seiten, 18 Euro

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