John Cockerill

Wegbereiter der Industrialisierung

Auch heute noch trägt das Stahlwerk seinen Namen: Arbeiter von Cockerill-Seraing demonstrieren 2003 vor einer Statue von John Cockerill gegen die gefürchtete Übernahme durch Arcelor.
Arbeiter demonstrieren im Jahr 2003 im belgischen Seraing vor einer Statue von John Cockerill. © GUY MOSSAY / BELGA / AFP
Von Irene Meichsner · 03.08.2015
Mit 23 Jahren leitete er seinen ersten Betrieb. Später baute John Cockerill die größte Eisengießerei und Maschinenfabrik Europas auf. Vor 225 Jahren wurde der britisch-belgische Industrielle in Haslingden in Lancashire geboren.
"John Cockerill durcheilt die Wege in seinem Postwagen, hier und da Hochöfen erbauend, Kamine errichtend ... Dann, wenn alles gemacht ist, setzt er seine Maschine in Gang und bringt Leben in diesen Backsteinhaufen. Und am nächsten Morgen hören die Bauern ein lautes, regelmäßiges Geräusch aus der Fabrik kommen, wie das Atmen eines enormen Ungeheuers, das anfängt, um nicht mehr aufzuhören."
Auf seinen Reisen durch Belgien stieß der französische Literaturwissenschaftler Désiré Nisard überall auf Spuren jenes Mannes, der den Weg zur Industrialisierung auf dem Kontinent ebnete.
"Und John Cockerill steigt wieder in seinen Postwagen, die Behörden beglaubigen seinen Reisepass, ohne zu zweifeln, dass dieser Mann, der nichts sagt und nichts schreibt, ein Umstürzler ist, ganz anders gefährlich für ihre alte Welt als ein Schöngeist, der ihr Reich durchbrochen hätte mit von Programmen und Manifestationen gefüllten Taschen."
"Er hatte bereits früh den Wunsch, 'ganz groß' zu werden", schrieb Heinrich Lotz in einer frühen Biografie über Cockerill, dem rund 60 Fabriken gehört haben sollen. Dabei stammte er aus bescheidenen Verhältnissen. Am 3. August 1790 im britischen Haslingden in Lancashire geboren, war er - nach einer rudimentären Grundschulbildung - im Alter von zwölf Jahren nach Belgien gezogen, wo er seinem Vater half, eine Werkstatt für Spinnmaschinen aufzubauen. Mit 20 Jahren wurde er Geschäftsführer, 1813 übernahm er den mittlerweile blühenden Betrieb, zunächst mit seinem älteren Bruder, der sich später selbstständig machte. Auf Wunsch der Preußischen Regierung bauten die Cockerills in Berlin eine moderne Wollspinnerei und Maschinenfabrik, die unter anderem über die erste Gasbeleuchtung in Berlin verfügte. Entschlossen, den technologischen Vorsprung der damals mit Abstand führenden Engländer aufzuholen, stellte Cockerill seit 1815 Dampfmaschinen nach englischem Vorbild her - für Spinnereien, Bergwerke, Kriegs-, Handels- und Ausflugsschiffe.
Sein Motto: Mut bis zum Ende
In Seraing in der Nähe von Lüttich entstand die größte Eisengießerei und Maschinenfabrik Europas - ein Musterbetrieb mit bis zu 2500 Mitarbeitern, zu dem eine Eisenerzgrube und zwei Steinkohlengruben gehörten. 1825 übernahm der niederländische König Wilhelm I., der seit dem Ende der Napoleonischen Kriege auch in Belgien regierte, für eine Million Gulden die Hälfte der Firmenanteile. Aber Cockerill, finanziell durch den Staat abgesichert, behielt das Heft in der Hand.
"Die Menge der Geschäfte, so ihm obliegen, ist zum Erstaunen groß. In den Stunden der Arbeit vergehen nicht fünf Minuten, wo er nicht von Anfragen und Antretungen seiner Werkmeister, Beamten und andern Personen, die mit der Fabrik in Verbindung stehen, Bestellungen machen, oder sonst Auskunft und Nachweis von ihm verlangen, belästiget wird",
schrieb der preußische Fabriken-Commissions-Rath Heinrich Weber nach einer Besichtigung des riesigen Betriebs in Seraing.
Nach der belgischen Revolution übernahm die neue belgische Regierung die Anteile Wilhelms I., aber schon 1834 kaufte Cockerill sie ihr wieder ab - nunmehr Alleininhaber des immer weiter expandieren Unternehmens. "Le Belge" hieß die erste von Cockerill - wieder nach britischem Vorbild - gebaute Dampflokomotive. Sie befuhr seit 1835 die erste kontinentaleuropäische Eisenbahnlinie von Brüssel nach Mechelen - auf von Cockerill gelieferten Schienen.
"Jedoch hatte sich Cockerill, ermutigt durch sein fast sprichwörtlich gewordenes Glück, mit seinem wagemutigen Charakter und seiner Liebe zum Großartigen übernommen."
Überproduktion, steigende Löhne und Eisenpreise: In einer allgemeinen Finanzkrise geriet die Firma ins Strudeln.
Mut bis zum Ende - dem Motto auf seinem Handelswappen getreu, versuchte Cockerill, den drohenden Konkurs abzuwenden. Er reiste nach Petersburg, um mit der russischen Regierung über den Bau von Eisenbahnen zu verhandeln. Auf der Rückreise starb er am 19. Juni 1840 in Warschau im Alter von 49 Jahren an Typhus. Der Betrieb wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, aus der später der größte belgische Stahlkonzern hervorgehen sollte. Der Name "Cockerill" überlebte in der "Cockerill Maintenance & Ingénierie", die immer noch in Seraing, heute einem Vorwort von Lüttich, residiert - dort wo der legendäre John Cockerill einst sein Imperium dirigierte.
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