Johannes Lepsius

Erfolgloser Mahner für die Sache der Armenier

Fotos in einer Ausstellung über die Verfolgung der Armenier im Lepsius-Haus in Potsdam
Fotos in einer Ausstellung über die Verfolgung der Armenier im Lepsius-Haus in Potsdam © dpa / picture alliance / Bernd Settnik
Von Christian W. Find · 19.04.2015
Johannes Lepsius war einer der wenigen, die auf deutscher Seite nicht die Augen vor dem Mord an den Armeniern im Osmanischen Reich verschlossen. Seine Aufzeichnungen waren lange Zeit die einzigen verlässlichen Quellen zum Völkermord. Ein Porträt.
"Also Johannes Lepsius muss eine immense Schaffens- und auch Überzeugungskraft gehabt haben. Und muss auch charismatisch in dieser Hinsicht gewesen sein."
Roy Knocke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lepsiushaus in Potsdam.
"Seine Augen werden oft geschildert. Das ist ganz interessant. Also dass er, er hatte ja blaue Augen, dass er immer so richtig einen festen klaren Blick hatte, wenn er mit einem sprach, und dass das schon teilweise Überzeugung genug war."
Johannes Lepsius. Geboren 1858 in Berlin. Freund der Armenier. Franz Werfel hat ihm in seinem Roman Die 40 Tage des Musah Dagh ein literarisches Denkmal gesetzt. Auf den vielen Reisen ins Osmanische Reich hatte sich Lepsius für die armenischen Christen eingesetzt. Vergeblich. Vergeblich auch sein Bemühen, Deutschland mit einer Anklageschrift wachzurütteln, und den Massenmord an den Armeniern zu stoppen.
"Ich hab mich gefragt, wie er mit diesen zahlreichen Niederlagen, also fatalen Niederlagen eigentlich zurechtkommt."
Christin Pschichholz, Historikerin an der Universität Potsdam und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lepsiushaus.
"Weil er ja auch nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Völkermord, und er ist sich ja bewusst, was für Auswirkungen das hat, es ist ja ein ganzes Volk vernichtet worden, dass er trotzdem immer noch Hoffnung schöpft und eine Deutsch-Armenische Akademie gründen möchte. Wo da diese Kraft herkommt. Vermutlich aus dem Glauben."
Lepsius war Landpfarrer im Harz
Johannes Lepsius, Pfarrer einer kleinen Landgemeinde in Friesdorf im Harz. Später als Missionar im Osmanischen Reich unterwegs, Gründer eines deutsch-armenischen Hilfswerkes mit einer eigenen Missionsstation in Urfa, im Südosten Anatoliens. Mitbegründer der Deutschen Orientmission. Zuletzt politisch aktiv, als Berater und als Freund der Armenier. Auch ein Freund des Prinz Max von Baden.
"Lepsius gehörte zum gehobenen Berliner Bildungsbürgertum."
Rolf Hosfeld, wissenschaftlicher Leiter des Potsdamer Lepsiushauses.
"Sein Vater war der bekannteste deutsche Ägyptologe. Sein Großvater war ein bekannter deutscher Komponist, seine Großmutter war eine bekannte deutsche Schriftstellerin. Friedrich Nikolai zählt zu seinen Vorfahren, der bekannte Berliner Aufklärer. Also, es waren Kreise, die gut vernetzt waren, im Bildungsbürgertum, aber auch in der Politik und in der höfischen Gesellschaft in Berlin. Man kannte sich."
Hosfeld bezeichnet Lepsius, der als Theologe die Politik des Kaiserreiches kritisierte, als eine deutsche Ausnahme.
"Der deutsche Protestantismus war damals sehr staatshörig und sehr staatstreu. Und auch in den Grauschattierungen von protestantischen Geistlichen und Theologen, die sicher genau wussten, was im Osmanischen Reich stattfand, und die auch wussten, wie schrecklich das war, und die auch nicht damit einverstanden waren, gab es doch erheblichen Widerstand, sich öffentlich während des Krieges gegen einen Kriegspartner auszusprechen. Und das war bei Lepsius nicht der Fall. Insofern war er eine Ausnahme."
Hilfspfarrerstelle in der deutsch-lutherischen Gemeinde in Jerusalem
Jerusalem, 1884. Ein geistiges Zentrum, auch im Osmanischen Reich. Armenische Christen leben mit Juden und Muslimen zusammen. Johannes Lepsius, mit 26 Jahren bereits ein Doktor der Philosophie, übernimmt dort eine Hilfspfarrerstelle in der deutsch-lutherischen Gemeinde. Er arbeitet auch im Vorstand eines syrischen Waisenhauses mit und lernt englische und amerikanische Missionare kennen. Deren protestantisches Credo ist nicht deutsch national, wie es Lepsius aus seiner Heimat kennt. Ihr Netzwerk ist international aufgestellt. Lepsius besucht auch jüdische und muslimische Gottesdienste. Die Vielfalt fasziniert ihn. Der junge lutherische Theologe hat sein gewohntes protestantisches Umfeld verlassen. Das hat ihn geprägt, sagt Christin Pschichholz.
"Das protestantische Umfeld sieht eben die Armenische Kirche als einen kranken Körper an, den man jetzt möglichst schnell reformieren müsste. Und das ist bei Lepsius so gar nicht zu finden. Sondern die Auseinandersetzung, auch die theologische Auseinandersetzung findet da eben auf einer Ebene statt, die erstmal die armenische Kirche, aber auch den Islam ernst nimmt."
Frankfurt am Main, 1887. Aus Jerusalem zurückgekehrt lernt Lepsius an der dortigen Christuskirche Ernst Lohmann kennen, einen Pastor aus der pietistischen Gemeinschaftsbewegung. Auch Lohmann hat Sendungsbewusstsein. Die beiden verstehen sich sofort. In Friesdorf im Harz übernimmt Lepsius eine kleine Landgemeinde mit missionarischem Fleiß. Um der armen Bevölkerung Arbeit und Brot zu geben, errichtet er eine Teppichmanufaktur. Später, viele Jahre später, wird er diese Einrichtung mitnehmen, in die entferntesten anatolischen Gebiete, nach Urfa. Lepsius ist praktisch orientiert, nicht nur ein Erweckungsprediger. Sicher auch ein Patriot, aber kein staatstreuer Kirchenbeamter, erklärt Rolf Hosfeld.
"Lepsius war, was das Spektrum der evangelischen Kirche in seiner Zeit betrifft, in gewisser Hinsicht irgendwo in der Mitte zwischen offiziellem Lutheranertum und der Gemeinschaftsbewegung. Aber immer auch beeinflusst durch seine Erfahrungen in Palästina, wo eben diese englisch-amerikanischen Einflüsse ihn sehr stark geprägt haben. Kreise, die politisch eben sehr liberal waren. Und das spielte auch für seine Haltung gegenüber dem Osmanischen Reich aus christlicher Überzeugung eben eine sehr starke Rolle. Es ging um Menschenrechte."
Er dokumentiert die Massaker unter Sultan Abdulhamid dem Zweiten
Friesdorf im Harz, 1895. Auf einem Missionsfest feiert man die Erfolge der Aufbauarbeit und beschließt, sich größeren Aufgaben zuzuwenden. Das Motto: Die Aufgaben der Deutschen Mission im Orient. Ernst Lohmann feiert mit, aber er ist bedrückt. In der englischen Presse muss er immer wieder von schrecklichen Massakern im Osmanischen Reich lesen. Die Opfer seien Armenier. Noch im August entschließt sich Lepsius, in die anatolischen Gebiete zu reisen, um selbst zu sehen, was wahr daran ist. Entsetzt kehrt er zurück, zieht um nach Berlin. Im darauf folgenden Winter verfasst er seinen ersten Bericht, in dem er das Massaker an den armenischen Christen unter Sultan Abdulhamid dem Zweiten dokumentiert: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland. Der Aufruf richtet sich explizit noch an kirchliche Kreise. Aber, so Roy Knocke, schon der Titel zeige, dass Lepsius seine Anklageschrift auch politisch verstanden wissen wollte.
"Ich finde, das Titelblatt sagt schon sehr viel aus. Also, wir haben Armenien und Europa, zwei Gebilde, die politisch eigentlich nicht wirklich existieren, eher als Ideen. Die werden auf einmal zusammengedacht. Dann hat man diese eine Anklageschrift, was damit zusammenhängt, dass er eben Europa anklagt, Armenien als geostrategischen Spielball zu benutzen."
Berlin 1896. Die noch in Friesdorf gegründete Orientmission bekommt nach seiner Reise einen neuen, dringlichen Schwerpunkt. Lepsius baut sie zu einem armenischen Hilfswerk um. Anders als das Frankfurter Komitee unter Lohmann ist die Berliner Sektion unter Lepsius politisch. Ihre Vertreter äußern sich gegenüber den jungtürkischen Nationalisten kritisch und werden deshalb beobachtet. Als Lepsius sich entschließt, seine Arbeit ganz dem armenischen Hilfswerk zu widmen und um Beurlaubung von seinem Pfarramt bittet, wird dies von den Kirchenoberen abgelehnt. Der protestantische Pfarrer kündigt und wendet seiner Staatskirche den Rücken zu. Ein deutliches Zeichen, so Hosfeld,
"dass er sich gegen alle Nationalisierungstendenzen des Protestantismus sehr stark ausgesprochen hat, insbesondere, wenn es um Menschenrechtsfragen ging. Für ihn war sozusagen die Gewissensentscheidung immer vorrangig vor der Staatsraison. "
Er soll jungen Missionaren den Islam näher bringen
Potsdam 1913. Seit fünf Jahren wohnt Johannes Lepsius in der Villa am Pfingstberg. Von hier aus leitet er sein armenisches Hilfswerk. Hier hat er ein Muhammedanisches Institut eingerichtet. Es soll jungen Missionaren den Islam näher bringen. Als anerkannter und kompetenter Kenner der Armenier reist er nach Konstantinopel und beteiligt sich an den Reformverhandlungen, die den Armeniern im neuen türkischen Staat mehr Rechte versprechen. Im festen Glauben daran, dass das gelingen kann, sagt Christin Pschichholz.
"Johannes Lepsius ist in der Beziehung auch eine Art Ausnahme, weil er daran glaubt, dass unterschiedliche religiöse, ethnische Gruppen durchaus zusammenleben können. Aber der Krieg macht das dann eben alles zunichte. Also, das jungtürkische Komitee tritt auch in den Krieg ein, um diese Reformmaßnahmen gar nicht weiter zu führen."
Johannes Lepsius erfährt davon im Frühjahr 1915. Im Auswärtigen Amt wird ihm ein Telegramm aus Konstantinopel vorgelegt. Darin berichtet der deutsche Botschafter von Wangenheim von einer totalen Ausrottung des armenischen Volkes. Es muss ein schreckliches Déja Vu gewesen sein und eine bittere Enttäuschung. Abermals macht er sich auf, reist nach Konstantinopel, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Mit Kriegsminister Enver Pascha will er sogar persönlich verhandeln. Aber die Deportationen und Massenhinrichtungen sind in vollem Gang. Unverrichteter Dinge und völlig desillusioniert kehrt Lepsius nach Potsdam zurück, wo er noch im Herbst des Jahres seinen über 300 Seiten starken Bericht über die Lage des armenischen Volkes abfasst. Trotz einer Militärzensur kann er 20.000 Exemplare in ganz Deutschland verschicken, muss aber das Land verlassen. Johannes Lepsius ist zur persona non grata erklärt worden. Bis zum Ende des Kriegs 1918 lebt er in den Niederlanden.
Vor dem Hintergrund dieser erfolglosen Versuche, mit zwei ausführlichen Schriften, auf die Verbrechen an den Armeniern aufmerksam zu machen, erscheint der Auftrag, den Lepsius unmittelbar nach dem Krieg erhält, zunächst absurd. Das Auswärtige Amt bittet ihn, eine Aktensammlung herauszugeben, in der auch die Verbrechen an den Armeniern dokumentiert werden sollen. Noch eine Dokumentation? Wo es doch schon zwei gibt. Die Erklärung dafür findet, wer sich die Dokumente genauer ansieht. Denn offenbar wurden sie manipuliert.
Wolfgang Gust, langjähriger Spiegel-Journalist und Herausgeber der Webseite Armenocide.net, räumt ein, dass die Berichte, die den Völkermord beschreiben, in der Dokumentation des Auswärtigen Amtes zwar kaum verändert wurden,
"aber andere Dokumente sind verändert worden in dem Sinne, dass die deutsche Rolle minimiert wird. Da hat man Namen raus gestrichen, und vor allem hat man raus gestrichen, dass deutsche Militärs eine Rolle spielten, und welche Rolle deutsche Militärs spielten."
Vermutlich, weil sie das Deutsche Reich belasten, was sicher auch nicht im Sinne von Lepsius war. 1919, ein Jahr nach dem Krieg, wird diese Dokumentensammlung veröffentlicht. Johannes Lepsius wohnt wieder in Potsdam. Bei einem Kuraufenthalt in Meran stirbt er 1926.
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