Jörg Ulbert und Jörg Mailliet: "Westend"

Poppige Wiederauferstehung der Frontstadt

Szene aus der Graphic Novel "Westend": Blixa Bargeld gibt Nick Cave im "Dschungel" Feuer.
Szene aus der Graphic Novel "Westend": Blixa Bargeld gibt Nick Cave im "Dschungel" Feuer. © Berlin Story Verlag
Von Thomas Jaedicke · 09.11.2016
Mit "Westend" rollen die beiden Autoren Jörg Ulbert und Jörg Mailliet nicht nur ein Kapitel deutscher Politgeschichte auf, sondern liefern ein liebevolles Porträt der Inselstadt West-Berlin Anfang der 1980er-Jahre: von der Baghwan-Disco am Kudamm zu Nick Cave im "Dschungel".
Waldfriedhof Heerstraße im Berliner Westend: Auf diesem Prominenten-Friedhof ist auch der ehemalige Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann beerdigt.
Im November 1974 wurde der Jurist von einem Kommando der Bewegung 2. Juni bei einem Entführungsversuch tödlich verletzt. Die Aktion sollte eine Vergeltungsmaßnahme für den Tags zuvor an den Folgen eines Hungerstreiks verstorbenen RAF-Terroristen Holgers Meins sein.
Jürgen Graf und Polizeipräsident Hübner am 11.11.1974:
"Herr Präsident Hübner, war der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann nicht eine in diesem Zusammenhang ohnehin stark gefährdete Person und hätte er nicht besser geschützt werden müssen?"
"Im Zusammenhang mit den Ereignissen um den Tod von Meins haben wir gestern Abend noch einmal die Liste aller gefährdeten Personen durchgecheckt, und Herr von Drenkmann gehörte nach diesen Erkenntnissen nicht zu den Personen, die in erster Linie bedroht gewesen wären."
Obwohl von Drenkmann als Figur in "Westend" nicht auftaucht - nur sein Grab, an dem Jörg Ulbert jetzt steht, ist auf einem Bild zu sehen - spielt das Schicksal des Sozialdemokraten eine Schlüsselrolle für die ganze Geschichte.
Jörg Ulbert: "Er gilt als das erste Opfer des deutschen Terrorismus. Er ist erschossen worden, nicht unweit von hier, in seinem Wohnhaus, von Attentätern, die man nie rechtskräftig hat identifizieren können und dafür hat verurteilen können."

Rolle des Verfassungsschutzes ungeklärt

Fünf Monate zuvor war der Student Ulrich Schmücker, ebenfalls ein 2. Juni-Aktivist, der aber auch als V-Mann für den Verfassungsschutz spitzelte, einem Fememord zum Opfer gefallen. Sowohl im Drenkmann- wie im Schmücker-Prozess, der sich über anderthalb Jahrzehnte hinzog, konnte vieles nicht geklärt werden; blieb bis heute ungelöst.
Jörg Ulbert: "Bei Schmücker stellt sich bis zum Schluss die Frage, welche Rolle der Verfassungsschutz da wirklich gespielt hat. Ob er das Verbrechen beobachtet hat?"
Dieses Rätsel hat Jörg Ulbert besonders interessiert.
"Man hat dann im Laufe der Jahre festgestellt, dass die Tatwaffe vielleicht nicht vom Verfassungsschutz geliefert, das weiß man bis heute nicht, aber auf jeden Fall danach verschwunden ist, in 'nem Tresor des Berliner Verfassungsschutzes."

Authentisches 80er-Jahre-Szenario in kräftigen Farben

Wie für "Gleisdreieck" entwarf Jörg Mailliet auch für "Westend" wieder ein authentisches 80er-Jahre-Szenario. Aber anders als beim Erstling brauchte er diesmal keine alten Bilder, um das neue Berlin zu dekonstruieren. Das gutbürgerliche Westend, der westlichste Westen West-Berlins, ist eine konservative Gegend.
Jörg Mailliet:"Also, die Orte in 'Westend' waren nicht so schwierig wie für 'Gleisdreieck' erstmal, weil viele Orte in Westend sind nicht so anders als vor 30 oder 50 Jahren."
Die Brache Gleisdreieck ist mittlerweile völlig bebaut. Hier in Westend könnte man denken, sei die Zeit ein wenig stehengeblieben.
"Wenn man die beiden Comics guckt, merkt man, dass die Farben auf ´Westend´ ein bisschen mehr, wie heißt das?,…poppig sind. Also mehr auch…
Kräftiger?
"Kräftiger. Ja, genau! Weil es war auch Westend und nicht Kreuzberg. Also für mich, auch als Erinnerung, war Kreuzberg viel brauner und viel dunkler. Und dazu gibt es auch viele Seiten in diesem Comic, wo wir in Clubs sind und auch in diesem Bhagwan-Milieu wollte ich auch, dass es mehr farbig ist. Also, es war auch mehr positiv, diese Orte."
Immer wieder wird die komplizierte Geschichte durch Streifzüge der Figuren durch die damalige West-Berliner Clubszene aufgelockert. Das Far Out, die legendäre Bhagwan-Disco am Ku'damm, ist einer dieser magischen Orte des Nachtlebens der Frontstadt, die Jörg Mailliet wieder auferstehen lässt.

Songtexte als Hintergrund

Oder die Berlin Bar und der Dschungel, wo Blixa Bargeld - nicht nur in der Phantasie des Zeichners - Nick Cave Feuer für eine Zigarette gegeben haben könnte. Neben Bild und Text spielen Songtexte, die wie Bildunterschriften funktionieren, in "Westend" eine wichtige Rolle. Von Divine über Trio und von The Cure bis zu Anne Clark liefert der Band eine Playlist der frühen 80er-Jahre.
Ist es einfacher, in Frankreich einen Verlag für Comics, für Graphic Novels zu finden?
Mailliet: "Es gibt vielleicht mehrere Verlage in Frankreich. In Deutschland gibt es vielleicht vier, fünf. Es ist viel einfacher in Frankreich. Also es gibt eine richtige Comic-Kultur. Es kommt langsam in Deutschland, ich habe das Gefühl."
Ulbert: "Es ist in Frankreich einfacher, einen Comic zu verlegen. Aber nicht unbedingt einfacher, ein Comic über Berlin zu verlegen. Denn das Interesse an Berlin mag groß sein, insgesamt für französische Touristen. Aber, um 'nen Verleger davon zu überzeugen, Gerichts- oder Justizgeschichte der 80er-Jahre aufzuarbeiten, das ist nicht unbedingt einfach. Der Schmücker-Prozess als solcher ist schon kompliziert genug für 'n Deutschen."
Jörg Ulbert und Jörg Mailliet ist es nach "Gleisdreieck" auch im Nachfolgeband "Westend", der jetzt in einer Auflage von 1500 Stück erschienen ist, gelungen, wieder ein kompliziertes Kapitel bundesrepublikanischer oder vielleicht besser West-Berliner Geschichte spannend aufzubereiten. Text und Bild ergänzen sich perfekt, versetzen den Leser wie in einer Zeitmaschine zurück in die untergegangene Kultmetropole West-Berlin.

Jörg Ulbert und Jörg Mailliet: "Westend. Berlin 1983"
Berlin Story Verlag, 2016
128 Seiten, 24,95 €

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