Jod - vom Mangel zum Überschuss

Von Udo Pollmer · 21.01.2006
Jodsalz ist fast schon Routine beim Bäcker, Schlachter und auch im ganz normalen Haushalt, denn Deutschland ist Jodmangelgebiet und daher - so die verbreitete Meinung - müsse nachgeholfen werden im Kampf gegen Kröpfe und andere Erkrankungen der Schilddrüse. Doch die These vom Jodmangel ist längst überholt.
Wie eine schweizerisch-japanische Arbeitsgruppe berichtet, ist der Jodüberschuss weltweit deutlich stärker verbreitet als der allseits beschworene Mangel. Als Ursache für hohe Jodfrachten gelten Algen (Japan), Trinkwasser (China), Milch und Fleisch (Island, durch Fütterung mit Seefisch) sowie Jodsalz (Chile, Kongo). Da die Wirkung von Jod wesentlich von Umweltfaktoren abhängt, die zudem teilweise unbekannt sind, ist es schwierig, eine zuverlässige Obergrenze für die Jodzufuhr anzugeben. Die Weltgesundheitsorganisation hält es dennoch für problematisch, wenn die Jodausscheidung bei Schulkindern über 300 Mikrogramm pro Liter Urin liegt. Dieser Wert wird zum Beispiel in den USA durch Verwendung von Jodsalz in der Lebensmittelindustrie und im Haushalt erreicht. Ein Jodüberschuss erhöht das Risiko für Thyreoditis, Funktionsstörungen der Schilddrüse und Kropf.

Entnommen aus: EU.L.E.n-Spiegel – Wissenschaftlicher Informationsdienst des Eurpäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e.V. 2005/Heft 4/S.20

Jod - überflüssig wie ein Kropf
Schon im Biologieunterricht lernten wir, dass unsere Schilddrüse Jod braucht, um Schilddrüsenhormone herzustellen. Mangelt es an diesem Spurenelement, vergrößert sich die Drüse und wird zum Kropf. Deswegen müssen wir alle regelmäßig jodreichen Seefisch essen. Und deswegen sollen wir stets jodiertes Kochsalz benutzen, oder zu Wurst, Brot oder Dosenfisch greifen, die extra damit angereichert sind. Gerade wir Deutschen sind besonders vom Mangel bedroht. Warum das so ist, wird von Lehrern und Medizinern mit folgender, "pädagogisch wertvollen" Geschichte erklärt:

Es gab einmal eine Eiszeit. Und weil die gewaltigen Eismassen den jodhaltigen Humus auslaugten und das Jod ins Meer schwemmten, sind Deutschlands Böden arm an Jod. Nur die Norddeutschen sind gut versorgt, denn ihre Speisefische baden seither im jodsalzhaltigen Meerwasser. Dagegen mangelt es allem, was oberhalb der Wasserlinie wächst oder gar von den ausgewaschenen Almen der Alpen stammt, an diesem Spurenelement. Daher kommen die hässlichen oberbayerischen Bergbauernkröpfe.

Aufmerksamen Lesern dürfte jedoch nicht entgangen sein, dass die fruchtbare Humusschicht auf unseren Böden gar nicht aus der Eiszeit stammt, sondern das Ergebnis der landwirtschaftlichen Aktivitäten der letzten Jahrhunderte ist. Auch hörte das Gestein nach der letzten Vereisung nicht auf, zu verwittern. Dabei werden aus den Bodenmineralien ständig Jodverbindungen freigesetzt, die dann in die Humusschicht wandern. Auch nehmen die Pflanzen Jod über die Luft auf. Zudem ist das Element, das dem Chlor recht ähnlich ist, bei der Chemischen Industrie beliebt zur Herstellung zahlreicher Produkte wie Desinfektionsmittel, Pharmazeutika oder Futterzusatzstoffe. So gelangt es über Abgase, Abwasser oder Klärschlamm als Schadstoff in die Umwelt.

Ebenso seltsam erscheint, dass der ganzen Nation Verkropfung droht, nur weil die Gletscher das Jod aus den Alpentälern gespült haben sollen. Stammen unsere Lebensmittel etwa aus dem Hochgebirge? Hat denn wirklich niemand bemerkt, dass unsere Lebensmittelindustrie weltweit einkauft, europaweit vermarktet, dass uns die Handelsketten von Flensburg bis Garmisch die gleiche Ware ins Regal legen? Wie können da einzelne "begrenzte Jodmangelgebiete" existieren, wie einige Mediziner behaupten? Da wir nicht in den Hochalpen leben, nehmen wir auch ohne Jodierungsmaßnahmen genug von diesem Spurenelement auf, und zwar schon mit dem Trinkwasser, der Nahrung und mit gewöhnlichem Kochsalz ohne jeden Jodzusatz.

Nicht viel besser steht es um die Theorie, dass Kröpfe allein durch Jodmangel entstehen. Auch hier muss eine alte Geschichte aus den Bergen zur Begründung herhalten: Im Schweizer Kanton Waadt litten die Menschen, im Gegensatz zu den anderen Eidgenossen, anscheinend niemals an Kröpfen. Schließlich präsentierten die Experten des Rätsels Lösung: ein Salzfass. Die Waadter bezogen ihr Salz aus der Saline Bex, das etwas mehr Jod enthielt als die Rheinfelder und Schweizerhaller Kristalle der übrigen Schweizer. Findige Mediziner setzten also fürderhin jodiertes Salz ein - und die Kröpfe verschwanden.

Bis heute konnte sich diese schöne Überlieferung vom kropflosen Kanton Waadt halten. Wie ernüchternd muss es für alle Jodsalzverwender sein, jetzt zu erfahren, dass die Geschichte nur eine heitere Mär ist. In Wirklichkeit gab es auch im Waadt immer reichlich Kröpfe. Die Informationen über die angebliche Kropflosigkeit der Waadter stammten aus den Musterungsunterlagen des Militärs. Wenn man Rekruten brauchte, wurden auch kropfige Waadter eingezogen und als "tauglich", das heißt kropffrei befunden. So kamen auch mal kropffreie Jahrgänge zustande. Mit dem angeblich jodhaltigen Salz der Saline Bex hatten die Musterungsergebnisse herzlich wenig zu tun.

Zur Theorie vom Jodmangel passt außerdem nicht, dass in Dörfern mit vielen Kropfkranken immer einige Familien von den häßlichen Geschwulsten verschont blieben. Ein "kropffreies Haus" konnte direkt neben einem "Kropfhaus" stehen. Diese Erscheinung war den Medizinern so unerklärlich, dass sie gelegentlich sogar "Erdstrahlen" dafür verantwortlich machten.

Für Jod rühren die Mediziner zusammen mit dem Bundesgesundheitsministerium, dem Arbeitskreis Jodmangel und der Pharmaindustrie kräftig die Werbetrommel. Denn der germanische Jodmangel scheint mit galoppierender Geschwindigkeit zuzunehmen: In den siebziger Jahren litt angeblich nur ein Achtel der Bevölkerung an Schilddrüsenstörungen . Seit den Neunzigern sollen bereits die Hälfte der Deutschen unter einer vergrößerten Schilddrüse oder unter einem Kropf leiden. Inzwischen sind anscheinend auch die Nordlichter gefährdet, denn jetzt herrscht sogar im meerumschlungenen Schleswig-Holstein Mangel. Ist den Küstenbewohnern der Appetit auf den jodhaltigen Seefisch plötzlich abhandengekommen?

Nein, es ist alles noch kurioser: Neuerdings leidet auch der Seefisch unter Jodmangel. Deshalb reicht er nicht mehr zur Deckung des einmal beschlossenen Jodbedarfs aus. Die amtliche Begründung klingt nobelpreisverdächtig: Die Jodgehalte der Flossentiere würden je nach Art und Fanggebiet stark schwanken. Es mag angehen, dass Schollen mehr Jod enthalten als Schellfische. Aber wie erklärt sich der Jodmangel in einzelnen Fanggebieten? Die Experten glauben allen Ernstes, dass sich das Jod im Wasser ungleichmäßig verteile. Vielleicht macht es ja Ferien in der Antarktis...

Klassische Jodmangelkröpfe gibt es allenfalls noch bei Einödbauern in abgelegenen Hochalpentälern. Schilddrüsenstörungen entstehen heute beispielsweise durch Nitrat. Nimmt man nun zusätzlich Jod ein, wird zwar die Wirkung des Nitrates "maskiert", nicht jedoch die Ursache bekämpft. Sogar Professor Rolf Großklaus vom Bundesgesundheitsamt nennt Umweltgifte als einen Grund für eine allgemeine Jodierung. Wenn so einem "Arbeitskreis Jodmangel" seine Daseinsberechtigung verschafft wird, erstaunt es, dass es keinen "Arbeitskreis Nitrat" gibt, der sich mit vergleichbaren Finanzmitteln für die Senkung der Nitratgehalte in Trinkwasser und Gemüse engagiert.

Die Liste der Umweltgifte, die die Schilddrüse beeinträchtigen können, ist lang. Dazu gehören manche Pilz-, Insekten- und Unkrautvertilgungsmittel, die berüchtigten polychlorierten Biphenyle (PCB), Weichmacher, Dioxin, Blei und aromatische Kohlenwasserstoffe. Übrigens vergrößern auch Stoffe aus dem Zigarettenrauch die Schilddrüse.

Mittlerweile wird das Jodsalz selbst als eine Ursache von Schilddrüsenstörungen diskutiert. Speisesalz, aber auch Pökelsalz für die Herstellung von Kasseler, Leberkäse, Mettwurst oder Schinken wird jodiert, indem die Salinen Kaliumjodat zufügen. Jeder Chemiker weiß, dass Jodate in Lebensmitteln wie Fleisch leicht Umwandlungen eingehen können. Doch erst Prof. Hubertus Wagner von der Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach schaute einmal genauer nach – und wurde fündig. Er wies in Leberkäse, der mit jodiertem Pökelsalz hergestellt wurde, Substanzen nach, die den jodhaltigen Schilddrüsenhormonen verblüffend ähnlich sehen. Vielleicht sollten der "Arbeitskreis Jodmangel" samt dem Ministerium mal der Frage nachgehen, ob das die Zunahme der Kröpfe in Schleswig-Holstein erklären könnte?

Wagner vermutet zudem, dass man solche schilddrüsenhormonartigen Stoffe auch am heimischen Herd erzeugen kann, nämlich durch das simple Würzen fett- oder eiweißhaltiger Speisen mit Jodsalz und ihrem anschließenden Erhitzen, das heißt Braten, Kochen, Grillen, Backen. Über das, was solche Substanzen im dem empfindlichen Hormonhaushalt bewirken können, in der schon millionstel Gramm dieser Botenstoffe eine immense Wirkung entfalten können, gibt es keine Auskunft vom Bundesgesundheitsministerium. Laut US-amerikanischen Untersuchungen soll Jodsalz für die sinkende Spermienzahl bei Männern verantwortlich sein.

Und was halten Jodverfechter und der Arbeitskreis Jodmangel selbst vom propagierten Jodsalz? Offenbar nicht viel, wie im Merkblatt Nr. 58, Ausgabe 1994 zu lesen ist: "Leider zeigen die Erfahrungen, daß die Verwendung von Jodsalz im Haushalt, in der gewerblichen Herstellung von Lebensmitteln sowie die Zubereitung von Mahlzeiten in Gaststätten in Hinblick auf die Jodversorgung nicht ausreicht." Da hilft dann offenbar nur noch eine satte Lage Jodsalz pur auf's Pausenbrot.

Entnommen aus: "Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Ernährung." Von Udo Pollmer et al. Kiepenheuer & Witsch. Köln.