Jochen Schmidt

    Messemännchen in Leipzig

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    Der Berliner Autor Jochen Schmidt © Voland&Quist/Tim Jockel
    23.03.2017
    Der Berliner Autor Jochen Schmidt beschreibt Tag für Tag, was ihm in Leipzig auf und jenseits der Buchmesse begegnet. Heute: Judo mit Putin, der Literaturbetrieb nackt unter der Dusche und die Klärung der wichtigsten Frage: Wie sieht so ein Messemännchen eigentlich aus?

    Was macht unser "Messemännchen"? - Im Interview in "Studio 9" erzählt Jochen Schmidt, was er in Leipzig auf der Buchmesse und darum herum so treibt.
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    Tag 5: "All diese Männer habe ich schon nackt unter der Dusche gesehen!"

    Beim Frühstück im Hotel werden heute lustige Bemerkungen aus dem Literaturbetrieb kolportiert. Ein Verlagschef sei mal beobachtet worden, wie er verzweifelt über die Messe lief und immer wiederholte: "Das muss mal aufhören mit diesen Autoren!" Jemand anders hat vorhin am Nebentisch ein Fernsehteam belauscht: "Hast du das Buch gelesen?" "Nein, ich dachte du?"
    Das skurrilste Messe-Frühstück hatte ich übrigens mal im Seaside-Park-Hotel gegenüber vom Hauptbahnhof. Dort befindet sich das Buffet in einem Raum im Untergeschoß. Jeder Tisch hat einen eigenen Röhrenbildschirm, auf dem offenbar seit Jahren ganz stoisch Videotext läuft. Man kann nicht weiterschalten und wartet immer, dass die Tafeln wechseln. Vielleicht ist es aber auch eine Installation eines Videokünstlers, die die Technikeuphorie der 80er Jahre thematisiert.
    Unsere Pressefrau Lisa fragt mich, ob ich eventuell bereit wäre, bei einem Frühstücksformat im ZDF mitzumachen, das so ähnlich wie "Volle Kanne" heißt. Ich erinnere mich, das mal beim Joggen auf dem Laufband im Fitness-Studio gesehen zu haben. Ich sage unter der Voraussetzung zu, dass sie sich dafür vernünftiges Geschirr anschaffen, von Kahla-Porzellan aus Thüringen, statt dieser klobigen, bunten Tassen, die sie benutzen. Lisa sagt, die Gäste würden dort immer gar nichts essen, nur reden. Ich fürchte, das würde ich anders halten.
    Heute muss ich zuerst am Stand vom MDR über "Zuckersand" sprechen. An der Tür zur Garderobe hängt ein Zettel mit Namen und Telefonnummern. Ist das ein Druckfehler, oder gibt es inzwischen eine "Readaktion"?
    Es moderiert Jörg Schieke, ein Lyriker, dessen journalistische Karriere damit begonnen hat, dass er als Schüler den großen Benno Pludra interviewt hat. Er ist ganz elektrisiert von "Judo mit Wladimir Putin", diesem mysteriösen Buch, das hier auf der Messe beworben wird, und von dem ich ihm erzähle, denn er ist selbst Judoka. Ich werde immer besser darin, zu erklären, warum ich meinen Roman geschrieben habe und warum er so unverzichtbar ist. Jörg hat in seinem Exemplar meines Buchs an den Stellen, die ihm gefallen haben, lauter Eselsohren gemacht. Ich muss einen Absatz vorlesen. Backstage sitzt schon Tex Rubinowitz, der sagt, er lese nie vor auf Messen, er rede lieber direkt zu den Leuten und gucke die Vorbeigehenden an. Dann würden die nämlich stehenbleiben, während bei Autoren, die lesen, alle weggingen. Außerdem weiß er, dass die deutsche Stimme von Harrison Ford leicht sächselt, ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen ist.

    Zweite Karriere als Turnbeuteltexter

    Wir eilen anschließend durch eine dieser Röhren in eine andere Halle, und kommunizieren dabei. Ich fotografiere einen schönen Turnbeutel: "Read a book, not a Turnbeutel". Wenn es mit den Büchern nicht mehr läuft, kann ich ja Texte für Turnbeutel schreiben.
    Es gibt eine Gesprächsrunde über Fußball und Kultur mit Olliver Tietz von der DFB-Kulturstiftung, und ich soll etwas zur Autorennationalmannschaft sagen, bei der ich seit 12 Jahren mitspiele. Manchmal kommt es mir vor, als seien wir eine Art Geheimloge, die den Literaturbetrieb unterwandert. Tatsächlich bin ich gestern Simon Roloff begegnet, unserer Pferdelunge, der gerade über "Robert Walsers Poetik des Sozialstaats" promoviert hat, eben beim Vorbeigehen sah ich Norbert Kron auf dem Blauen Sofa sitzen ( hier zu hören auf Deutschlandradio Kultur), er hat ein Buch über eine faszinierende Schule für Einwanderer in Israel geschrieben. Er ist bei uns Innenverteidiger, obwohl er lieber Stürmer spielt. Jörg Schieke ist ebenfalls Innenverteidiger und ein begnadeter Techniker. Täglich gehe ich dreimal am Stand vom Philosophie-Magazin vorbei, dessen Chefredakteur Wolfram Eilenberger ist, der einen unfassbaren Schuss hat (also im fußballerischen Sinne.) Nicht zu vergessen Jan Brandt, dessen postheroisches Autorenfoto einem am Stand von DuMont sofort auffällt. Lukas Vogelsang, Außenstürmer und nach dem Rücktritt von Lukas Podolski bei uns für Humor in der Kabine zuständig, hat gerade bei Aufbau sein erstes Buch veröffentlicht "Heimaterde – Eine Weltreise durch Deutschland", während unser Torwart Andreas Merkel sich während der Messe, ungefähr so zurückhaltend, wie er aus dem Tor kommt, mit einer Art Kamikaze-Journalismus ab und zu von außen zu Wort meldet, auf dem Rezensionportal piqd.de. Das größte Foto auf der Messe hat allerdings unser Offensivspieler Benedikt Wells am Stand von Diogenes, der mit seinen gerade mal 18 Jahren schon fünf Romane geschrieben hat. Alle diese Männer habe ich schon nackt unter der Dusche gesehen!

    Rückkehr als Autor-Man

    Lisa und ich eilen wieder kommunizierend durch eine inzwischen von der Sonne bedenklich aufgeheizte Röhre zum Termin am Stand der FAZ. Ich erkläre wieder möglichst bescheiden, warum mein Buch so toll ist, als Geschenk dafür bekomme ich diesmal Pralinen. Es gibt ein Malheur, ein Zuschauer hat auf seinem weißen Sitz den Abdruck seiner Hose hinterlassen, man sieht deutlich die Konturen eines Gesäßes. Das geht nur mit Azeton wieder raus. Leider mache ich kein Foto. Danach treffe ich Dr. Philipp Meuser von DOM publishers, einem faszinierenden Architekturverlag, der unter anderem Architekturführer für Astana, Duschanbe, Pjöngjang und Osnabrück herausgibt. Ich möchte ihn gerne als Berater für meinen neuen Roman gewinnen, der in einer Stadt spielen wird, die es gar nicht gibt.
    Danach habe ich Feierabend und kann mir die als Manga-Figuren verkleideten Jugendlichen ansehen. Aus welchem Comic bin ich eigentlich? Darüber müsste ich mir mal klarwerden. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal als Autor-Man kommen? Das würde dann so aussehen:

    Das wars mit der Messe, es war laut, verwirrend und schön, und ich bin nicht krank geworden, da ich mir ungefähr 20 Mal am Tag auf den Toiletten die Hände desinfiziert habe (im übrigen hat es immer Spaß gemacht, bei den Herren direkt reinzugehen, während vor den Damentoiletten immer eine Schlange war, weil sich drinnen Elfen und Zombies schminken mussten). Und da meine Freundin, die aus dem Westen kommt, nicht wusste, was das Messemännchen ist, mache ich zum Abschluss davon noch ein Foto.

    Tag 4: Kinderbücher, die Vorzüge von Leipzig und DDR-Kunst

    Nach fünf Stunden Schlaf muss ich aufstehen, die Verlagsmitarbeiter, mit denen ich gestern bis halb drei in der Lobby Whisky getrunken habe, sitzen alle schon wieder gut gelaunt beim Frühstück, ich kann sie nur bewundern. Ich stecke mir als Medizin schnell am Buffet einen Natur-Joghurt ein, weil ich zu meinem ersten Termin auf der Messe muss. Unterwegs entdecke ich ein Geschäft, das leider geschlossen hat, mir aber jetzt hilfreich wäre.

    Ich treffe mich auf der Messe mit meinem Comic-Künstler-Freund Mawil, um bei einem halben Dutzend Kinderbuchverlagen über ein gemeinsames Kinderbuchprojekt zu sprechen. Wir seien "'ne gute Kombi", sagt eine Lektorin. Ich bringe sofort alles durcheinander und weiß hinterher nicht mehr, wer uns was gesagt hat, aber ich lerne viel über diesen "engen" Markt. Anscheinend lesen Mädchen auch Kinderbücher, in denen es um Jungs geht, weil sie offener seien, bei Jungs müsse es aber ab einem bestimmten Alter unbedingt um Jungs gehen. Das ideale Format sind 20 Seiten, andere sprechen aber auch von 32.
    Straße in Leipzig
    Ein geschlossenes Geschäft in Leipzig. © Jochen Schmidt

    Der Verkauf geht bei den ersten Titeln nach oben

    Der Buchhandel merkt sich nicht die Erfolge eines Autors, aber seine Misserfolge (man sollte vielleicht nie ein Buch machen, viel zu riskant). Eltern kaufen keine Bücher, in denen das Kind einen Hund hat, wenn ihr Kind keinen Hund hat. Reihen haben immer einen "Schweinebauch", das heißt, der Verkauf geht bei den ersten Titeln nach oben und dann, bei späteren Titeln, wieder nach unten. Das finde ich interessant, denn den Begriff "Schweinebauch" kannte ich bisher für die Berliner Bordsteinplatten aus Lausitzer Granit, die auf der Unterseite viel dicker sind, als man denkt, daher "Schweinebauch". Ich suche übrigens seit Jahren jemanden, der mir erklären kann, warum diese Granitplatten in Sachsen ein anderes Format haben, sie sind länger und schmaler. Ob sich die Antwort in einem der cirka eine Million Bücher findet, die es auf der Messe gibt?

    Bordsteinplatten in Leipzig
    Bordsteinplatten in Leipzig© Jochen Schmidt
    Weiter zu den Kinderbüchern: gute Illustrationen seien ein Verkaufshindernis, gut geschriebener Text erst recht. Kinderbuchhändlerinnen seien "die Pest", sie sorgten dafür, dass Eltern im Geschäft keine guten Kinderbücher zu Gesicht bekämen. Wobei diese sie dann wahrscheinlich auch nicht kaufen würden. Es ist also eigentlich hoffnungslos, die einzigen, die bei Kinderbüchern für Qualität wären, sind die Kinder selbst, wenn man sie lassen würde. Wir wissen jetzt also: unser Ziel muss es sein, ein Kinderbuch zu machen, das erfolgreich ist, obwohl es gut ist.


    Heute lasse ich mir an einem Stand endlich ein erstes Rezensionsexemplar geben, "Die Küche der Achtsamkeit", mit Rezepten für "Schnittchen im Bauhausstil", "Kuchen aus überreifen Bananen" und "Salat aus Gemüseschalen mit Zitronendressing". Irgendwann werde ich auch mal ein Kochbuch herausgeben: "Sattwerden ohne einzukaufen", in dem ich Tips gebe, wie man in seiner Wohnung noch etwas zu essen findet, wenn der Kühlschrank leer ist. Aus den Krümeln im Toaster kann man z.B. eine tolle Brotsuppe kochen, die man mit dem Salz, das sich in 15 Jahren Laufen in der ungewaschenene Jogging-Kappe gesammelt hat, würzen kann.
    Leipziger Buchmesse
    Kinderbuchecke auf der Leipziger Buchmesse.© Jochen Schmidt
    Mawil möchte noch unbedingt zu einem Stand mit Radwanderkarten. Tatsächlich sind sie so schön und übersichtlich gestaltet, dass es mir reichen würde, sie mir zuhause durchzulesen. Es gibt auch eine Wanderkarte vom Pamir und eine von Süd-Tadjikistan.

    Reif für das Opahaus

    Als Letztes gehe ich endlich in die riesige Halle der Manga-Convention, wo die ganzen Jugendlichen rumlaufen, die sich als Fabelwesen oder Manga-Helden verkleidet haben. Die werden in Zukunft alle lieber unser gut illustriertes Kinderbuch mit dem gut geschriebenen Text lesen, wir müssen es nur an den ganzen Kinderbuchhändlerinnen und Eltern vorbeischleusen. Ich überlege, ob ich ein Kopfkissen in Gestalt eines Donuts kaufe und folge einem etwas übergewichtigen, schwitzenden Wolf, der zum Bahnhof trottet. Irgendwie fühle ich mich heute reif für das Opahaus gegenüber vom Gewandhaus.

    Abends muß ich aber noch einmal los, um in der Schaubühne Lindenfels bei der Lesenacht vom "Magazin" aufzutreten. Es ist einer der schönsten Leseorte, die ich kenne.
    Opahaus in Leipzig
    Opahaus in Leipzig© Jochen Schmidt
    Schaubühne Lindenfels in Leipzig
    Schaubühne Lindenfels in Leipzig© Jochen Schmidt
    Backstage fachsimpeln wir, wie man es schafft, beim Lesen nicht zu überziehen. Ich schlage vor, dass man die Stimme des Autors, wenn er zu lang liest, immer mehr in Richtung Micky Maus hochpitchen könnte. Ich erfahre, dass man, wenn man entführt wurde, beim Rückflug Anspruch auf Business-Class hat. Und dass Udo Jürgens immer mit laut gedrehten Fernsehnachrichten Klavierspielen geübt hat, um sich für schwierige Auftritte abzuhärten.

    "Ganz normale Leute" im Publikum

    Meine Münchner Verlagsmitarbeiterin, die mich begleitet, ist anschließend ganz hingerissen davon, dass hier in der Straße Graffitis an den Häuserwänden zu sehen sind und bei der Lesung "ganz normale Leute" im Publikum waren. Das gebe es in München gar nicht, sie habe dort anfangs regelrecht die Hundescheiße vermisst. Dafür ist man von München aus schneller in den Alpen (und im Pamir?) Ich komme so gerne nach Leipzig-Lindenau, weil es mich an Berlin in den 90ern erinnert. Und falls das sich ändert, gibt es ja noch Halle.
    Wir fahren noch zum Millionaires Club, einer jährlichen Independent-Comic-Ausstellung, die diesmal in der Kolonnadenstraße ist, einem interessanten Innenstadt-Plattenbau-Ensemble mit schönen Beton-Schmuckelementen. Alle stehen mit Bier auf der Straße vor tollen Bars, die Atmosphäre ist so angenehm entspannt, dass man davon ausgehen muss, dass das Viertel demnächst abgerissen und durch Baugruppenhäuser ersetzt wird.
    Leipziger Buchmesse 
    Innenstadt-Plattenbau-Ensemble in Leipzig mit Beton-Schmuckelementen.© Jochen Schmidt
    Auf dem Heimweg sehe ich mir eines der Schaufenster an, in denen während der Messe Bücher vom verblichenen DDR-Verlag Volk und Welt ausgestellt werden, in diesem Fall sowjetische und amerikanische Literatur: Joseph Heller, Saul Bellow, Raymond Carver. Es ist eine Installation in der ganzen Innenstadt, die an das erstaunliche internationale Programm dieses Verlags erinnert. Die Lektoren von Volk und Welt haben zu DDR-Zeiten jahrelang verbissen darum gekämpft, z.B. etwas von Beckett veröffentlichen zu können, während einen Kilometer weiter seine Bücher in Westberlin im Buchladen verstaubten.
    Auf dem Heimweg durch die Nacht bin ich melancholisch, weil morgen für mich die Messe zu Ende geht, und weil ich wieder so wenig von Leipzig gesehen habe, kein Ring-Café, nicht die schöne Windmühlenstraße, wieder nicht das Gewandhaus oder die Thomaner.

    Keine Zeit für lange Spaziergänge

    Ich muss an frühere Buchmessen denken, wo ich froh war, wenn mich irgendein Literatur-Blogger interviewen wollte, der dann aber gar nicht am Stand auftauchte, so dass ich Zeit für lange Spaziergänge in alle Himmelsrichtungen hatte, mit tollen Entdeckungen. Oder als ich einmal im Radisson-Hotel schlief und überraschenderweise auf jeder Etage Gipsintarsien und Reliefschnitte von Mattheuer, Heisig und anderen Künstlern zu sehen waren. Erst dadurch erfuhr ich, dass es sich um einen aufgehübschten DDR-Bau handelte, das ehemalige Hotel Deutschland. Man hatte in diesem Fall die Kunst am Bau einmal nicht wegrenoviert, sondern sogar mit Strahlern zur Geltung gebracht.


    Ich muss unbedingt ein neues Buch machen, damit ich wieder nach Leipzig kann! Eine Schweizer Autorin von C.H.Beck, die noch nie hier gewesen ist, war so hingerissen, dass sie überlegte, ihr neues Buch extra ein halbes Jahr später rauszubringen, weil sie jetzt lieber nach Leipzig will als nach Frankfurt.
    Leipziger Radisson-Hotel
    Reliefschnitte von Mattheuer, Heisig und anderen Künstlern im Leipziger Radisson-Hotel.© Jochen Schmidt
    Als tröstlicher Gutenacht-Gruß dient mir in meiner Melancholie dieser Schmidt-Vicious-Aufkleber. Wie Google mir verrät, handelt es sich um eine Leipziger Punkband. Ist das nicht der beste Bandname der Welt? Leider lässt sich der Aufkleber nicht abfummeln, ich würde ihn gerne auf mein Moleskine kleben.
    Leipzig
    Schmidt-Vicious-Aufkleber in Leipzig© Jochen Schmidt

    Tag 3: Autoren als Plüschlöwen und andere Normopathen

    In Hotels stehe ich immer unter diesem Druck, mein Zimmer aufzuräumen, bevor ich gehe, weil es mir sonst peinlich vor der Putzfrau ist. Zuhause würde ich einfach alles rumliegen lassen. Außerdem fällt mir auf, dass das Buch auf meinem Nachttisch, "Putzen als Passion" von der Philosophin Nicole C. Karafyllis, eine ziemliche Provokation für die Putzfrau sein muss. Ich packe es lieber in meinen Rucksack.
    Ich fahre heute mit Claudius Nießen für "Im Taxi zur Messe", ein mysteriöses Online-Format, im Taxi zur Messe. Wir werden dabei gefilmt, und ich soll originell sein. Damit das auch klappt, hat er Whisky, Eierlikör und Cognac dabei. Netterweise füllt er mir etwas vom Whisky in eine ChariTea-Mateflasche ab, für abends, da ich auf meinem Zimmer keine Minibar habe, nur einen Automaten am Ende vom Gang.

    Ich irre stundenlang über die Messe, auf der Suche nach dem Spot mit kostenlosem WLAN. Einmal frage ich sogar einen Jugendlichen, weil der das doch bestimmt weiß. Unterwegs staunt man über seltsame Stände, an einem gibt es nur ein Buch: "Judo mit Wladimir Putin". Es gibt auch Autoren, die sich als Plüschlöwe verkleiden, um aufzufallen. Manche trifft es aber noch schlimmer, sie müssen auf der Messe aus ihren Büchern vorlesen, während die Messebesucher versuchen, sich so schnell wie möglich vorbeizuschieben. Man entdeckt aber auch schöne Dinge, von denen man sonst nie gehört hätte, z.B. den Stand von Buchkinder Leipzig e.V., wo von Kindern geschriebene und gemalte Kinderbücher verkauft werden. Ich hätte sie gerne alle mitgenommen, z.B. das "Lexikon für coole Jungs".
    Am Stand meines Verlags C.H.Beck versuche ich, mit meinem Lektor über meine berufliche Zukunft zu reden, während ein anderer Autor sich bei ihm beklagt, dass sie von ihm das falsche Autorenfoto genommen haben, eine Leserin ihn auf einen Druckfehler hinweist und ein Herr wissen will, wo hier die Toiletten seien. Dann kippt eine Besucherin auch noch aus Versehen eine Flasche Wasser um, die auf unserem Tischchen stand und fragt anschließend, ob sie die Bücher, die dort lagen vielleicht haben könne? Die seien doch jetzt nass geworden? So muss man es machen! Ich habe nämlich immer noch nicht den Mut gehabt, an einem Stand mit einer meiner selbstausgedruckten und laminierten Visitenkarten nach einem Rezensionsexemplar zu fragen.

    Arno Schmidt als Kellner

    Abends bin ich auf dem traditionellen Essen von C.H.Beck im Restaurant "Max Enk", wo der Kellner aussieht wie der junge Arno Schmidt. Das wundert mich bei Beck nicht, denn einschüchternderweise sind bei diesem Verlag die Lektoren gebildeter als die Autoren und durchweg promoviert. Beim "Amuse bouche" werden die neuen Bücher aus dem Frühjahrsprogramm kurz vorgestellt. Es geht um Maria Theresa, die Odyssee, Goethes Schweizreisen, Syrien, Normopathen. Daneben nimmt sich mein Roman über den Spaziergang eines Vaters mit seinem zweijährigen Sohn etwas seltsam aus. Zwischenzeitlich wird sogar Latein gesprochen.
    Ich muss leider vor dem Hauptgang zur Lesung in der Moritzbastei, auf dem Weg dorthin höre ich aus einem Fenster die Liebesgeräusche einer Frau und bleibe kurz stehen, weil es so schön klingt. In der Hotellobby klingt der Abend dann aus, bzw. der Morgen an. Die Frau eines Kollegen empfiehlt mir gegen Erkältungen Streukügelchen "Influrdoron". Ich erfahre, dass Teju Cole immer Business-Class fliegt, weil er chronische Rückenschmerzen hat. Ein Vertriebsmitarbeiter sagt, als er mich das letzte Mal gesehen hat, sei ich "voller" gewesen, "so 4-5 Kg". Alle klagen über Lesungen in Berlin, dort sei das Publikum schrecklich unberechenbar und verwöhnt. Ich zeige stolz den kochechten Sticktwist vom VEB Zwirnerei Sachsenring Glauchau, den ich heute in einem "DDR-Kaufhaus" in der Leipziger Innenstadt ergattert habe. Dann gehe ich aufs Zimmer, räume schon einmal für morgen früh auf und lese noch ein bisschen in "Putzen als Passion".

    Tag 2: "Schürrle fasste sich an den Fuß"

    Im Zug nach Leipzig begegne ich im Bord-Bistro dem Hypnotiseur Jan Becker, da weiß ich, dass wir nicht entgleisen werden. Natürlich will er auch zur Messe, wie eigentlich alle in diesem ICE. Er zeigt mir ein Video davon, wie er kürzlich einen ganzen Saal voller Menschen über Kopfhörer hypnotisiert hat. Man sieht hunderte Kopfhörer leuchten. Jedem tue das Hypnotisieren aus anderen Gründen gut. (Die Kopfhörer darf man aber, anders als die 3D-Brillen im Kino, anschließend nicht behalten.)
    Da Jan Becker Gedanken lesen kann, muss er in meinen Gedanken lesen, dass ich daran denke, dass er Gedanken lesen kann, und dass ich denke, wie langweilig er es finden muss, wenn er in meinen Gedanken nur liest, wie ich daran denke, dass er meine Gedanken lesen kann. Ich verabschiede mich lieber, um ihn nicht weiter zu verwirren. Ich würde manchmal auch gerne meine Gedanken lesen können, statt sie immer aufzuschreiben zu müssen.
    Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel lande ich tatsächlich in der Ritterstraße wieder in einem Antiquariat, weil im Schaufenster Heiner Müllers Lieblings-Kinderbuch steht, "Paul allein auf der Welt" (bei diesem seltenen Exemplar heißt der Held sogar "Palle"). Annett Gröschner hat darüber geschrieben.
    Dann entdecke ich ein tolles Hotel für das nächste Mal, es heißt "Garage". Meine Tochter würde jetzt sagen: "Papa, das ist nicht lustig…".
    In meinem Hotel liegt mein Zimmer wieder am Ende endloser Gänge. Irgendwie ist es in Hotels immer so, selbst, wenn man der einzige Gast ist, wird man ganz nach hinten verstaut, damit kein Platz verschwendet wird. Manchmal war ich dadurch fast schon wieder in Berlin. Im Fahrstuhl, der einen glitzernden Design-Fußboden hat, bemängelt jemand, dass es "nach Schwimmbad und faulen Eiern" rieche, das müsse vom Wellness-Bereich kommen. Ich habe ein bisschen Angst, dass es von meinem Laufzeug im Rucksack kommt.
    Auf dem Zimmer esse ich brav meine mitgebrachten Stullen auf, ich benutze übrigens seit meiner Schulzeit meine Brotdose "Normal" vom VEB Novopack Dresden für 1,20 M, sie ist ja immer noch nicht kaputt. Ich bemühe mich, das zweite Bettzeug auf dem Doppelbett nicht zu berühren, weil ich immer Angst habe, dann einen Zuschlag zahlen zu müssen.
    Während ich im Hotelfoyer mit einem Journalisten vom NDR ein kurzes Gespräch zu meinem Roman "Zuckersand" aufnehme und über seine Frage nachdenke, ob es sich bei diesem Roman um eine Idylle handele, sind auf ungefähr fünf Flachbildschirmen Breaking News über Schüsse vor dem Londoner Parlament zu sehen.

    Welche Stellen soll man vorlesen?

    Auf dem Weg zur MDR-Kulturnacht-Lesung in der Alten Handelsbörse pauke ich noch einmal die Namen von Moderatorin und Kontaktmann, falls ich ihnen ein Buch signieren muss, das ist immer so peinlich, wenn man nicht weiß, mit wem man gesprochen hat. Das Schlimmste an Lesungen ist aber, sich entscheiden zu müssen, welche Stellen man vorlesen wird. Die guten Stellen sind bei mir so gleichmäßig übers Buch verstreut, dass ich in der Lesezeit nur einige davon unterbringen kann. Aber wenn man ein Buch schreiben würde, das nur gute Stellen enthält, würden die Leser sich beschweren, dass es kein "Pageturner" ist, weil man sich beim Lesen die ganze Zeit konzentrieren muss. Außerdem weiß ich ja nie, was dem Publikum gefallen wird.
    Der Druck ist immens: Wenn ich das Falsche aussuche, werden sie vielleicht nie ein Buch von mir kaufen. Mit der Kleidung ist es genauso: weil ich festgestellt habe, dass ich auf den Fotos, die meine Freundin für unseren Familien-Jahreskalender 2016 ausgesucht hat, in jedem Monat dieselben Sachen trage, habe ich mir für die Messe neue Turnschuhe und meine erste Levis 501 gekauft. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal im Leben zwei gute Hosen und brauche morgens ewig, um mich zu entscheiden.
    Die Lesung ist dann sehr angenehm, ich bin froh, dass ich das Buch schon geschrieben habe, sonst würde ich es nie wieder so hinbekommen. Hinterher lässt sich ein Zuschauer "Fortwährende Tätigkeit" signieren, eine Laudatio auf Siegfried Unseld, die einer der anderen Jochen Schmidts geschrieben hat, mit denen ich gemeinsam an unserem umfangreichen Werk arbeite. Ich bringe es nicht übers Herz, unseren Leser über seinen Irrtum aufzuklären.
    Vom MDR bekomme ich anschließend als Gastgeschenk ein MDR-Cleaning-Pad fürs Handy und einen Notizblock. Ich habe auch schon eine Thermoskanne vom Bayrischen Rundfunk und eine Simpsons-Tasse von der FAZ zuhause. Im Backstage-Bereich fachsimpeln wir, wann Pompeji untergegangen ist, war es 79 vor oder 79 nach Christi? Ein MDR-Journalist sagt, er habe in Pompeji auf seine Füße gesehen und festgestellt, dass er auf einem großen, in den Boden eingelassenen, steinernen Phallus stand, das seien damals Wegweiser zum Bordell gewesen, für Matrosen. Dann geht es um das neue Titanic-Panorama in Leipzig und um den Müll und die vielen Bergsteiger-Leichen am Mount Everest, die das Naturerlebnis beeinträchtigen. Neuerdings werde das Gepäck dort zweimal gewogen, vor dem Aufstieg und danach, um zu kontrollieren, ob man seinen Müll mitgenommen habe.
    Wieder auf der Straße sehe ich im Live-Ticker nach, wie es beim Freundschaftsspiel Deutschland gegen England steht. Ich lese: "66. Minute: Schürrle fasst sich an den Fuß." Es tut gut, sich manchmal klarzumachen, dass es auch noch eine Welt jenseits des Literaturbetriebs gibt.

    Tag 1: Vor der Messe

    Zur Leipziger Buchmesse fahre ich immer gerne, von Berlin aus kann man ja praktisch laufen, das Gelände der Neuen Messe liegt ungefähr in der Mitte. Ich nehme mir jedes Jahr vor, einmal ins Museum für Druckkunst zu gehen oder auch nur in Auerbachs Keller, aber bisher wurde bei ungefähr zehn Messen nichts daraus, weil ich in der Freizeit meistens vor Entkräftung auf dem Hotelbett in Agonie versinke.
    Obwohl ich, wenn ich darüber nachdenke, im Lauf der Jahre dann doch einiges von Leipzig mitbekommen habe. Ich war immerhin schon einmal auf dem Völkerschlachtdenkmal, wo es in der Ausstellung ein Brötchen aus der Zeit der napoleonischen Kriege zu sehen gibt (das wahrscheinlich immer noch besser schmeckt als die Brötchen von heute) und interessanten Müll, mit dem beim Bau des Denkmals das Gelände aufgeschüttet worden ist. Man macht wahrscheinlich etwas falsch, wenn man in Museen unsere schönsten Gegenstände aufbewahrt, man sollte auch etwas Müll einlagern, der wird unsere Nachkommen vielleicht viel mehr interessieren.
    Ich habe in Probstheida nach den Resten der ehemaligen Iskra-Gedenkstätte gesucht, einer Druckerei, wo 1900 die "Iskra", der Vorläufer der "Prawda", gedruckt worden sein soll.
    Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel bleibe ich immer in dieser Gasse mit den vielen Antiquariaten hängen und suche nach alten Kinderbüchern.
    Vor einem Jahr habe ich gezögert, ob ich das in einer Vitrine ausgestellte letzte Buch der DDR kaufen sollte, vom großen Hans Ticha gestaltet. Es ist am 2. Oktober 1990 um 23:59 Uhr gedruckt worden, eine gute Geschäftsidee!
    Ich habe beim Joggen im Rosental, einem großen Park in Zoonähe, einen wunderschönen alten Spielplatzelefanten entdeckt, auf einem vom Holzkünstler Reinhard Rösler gestalteten Holz-Spielplatz, der im letzten Jahr renoviert worden ist.
    Ich bin wie ein Ethnologe nach Leipzig-Grünau gefahren, um die Ästhetik der privaten Plattenbau-Balkongestaltung zu studieren.
    Und beim Spazieren habe ich in Leipzig schon zwei alte Interflug-Iljuschins an der Straße stehen sehen. Eine diente als Terrasse für eine Bowling-Bahn.
    Ich habe einmal in einem Hotel zusammen mit 200 Mitarbeitern von Auto-Teile-Unger gewohnt, alles Männer, die nach einem Schulungsvortrag gleichzeitig am Fahrstuhl anstanden.
    Ich habe bei der Langen Lesenacht in der Moritzbastei im Backstage-Bereich aus Langeweile Dutzende an die Wand gekritzelte männliche Genitalien fotografiert.
    Ich habe vor dem Ring-Café mit seinem großartigen 50er-Jahre-Interieur auf dem Rand eines Beton-Blumenkastens auf den Zehenspitzen gestanden, um durchs Fenster einen Blick auf den Zauber-Peter zu erhaschen, der dort eine Lesung hatte, ein Mann, der im Kinderprogramm des DDR-Fernsehens so präsent war wie im Westen Oskar der Schnellzeichner.
    Bei meinen vergangenen Messen hatte ich meistens kaum Termine, deshalb hatte ich manchmal ein Keyboard dabei, um auf dem Hotelzimmer Klavier zu üben. Das war eigentlich ganz schön. Aber diesmal gibt es ziemlich viel zu tun. Es geht wahrscheinlich aufwärts. Ich habe mir deshalb vorgenommen, gesund zu bleiben, und antibakterielles Handgel besorgt. Das habe ich mir auf Lesereise von David Wagner abgeguckt.
    Vielleicht bleibt trotzdem die Zeit, um das Rätsel dieser Kneipe in Bahnhofsnähe zu lüften. Vermutlich werde ich dort aber keine Boulette essen.

    Jochen Schmidt wurde 1970 in Berlin-Friedrichshain geboren und war 1999 Mitbegründer der Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten". Zu seinen zahlreichen Werken zählen Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle"), Erzählungen ("Triumphgemüse") und Reiseliteratur (u. a. die "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"). Sein jüngstes Buch, der Roman "Zuckersand", ist im Verlag C.H. Beck erschienen.