Jimmy Somerville

Eskapismus mit Disco

Jimmy Somerville macht seit den 80er Jahren Musik.
Jimmy Somerville macht seit den 80er-Jahren Musik. © imago / iImages
Von Oliver Schwesig · 10.03.2015
Auf der Suche nach seinen Wurzeln feiert der schottische Sänger Jimmy Somerville ein altes Genre. Sein neues Solo-Album "Homage" klingt nach Disco - und ist dennoch alles andere als banal.
Er ist kleiner, als man ihn sich vorstellt. Mit einem gewinnenden Lächeln nimmt Jimmy Somerville vor einem Platz und beantwortet auch nach einem anstrengenden Interview- und Foto-Tag geduldig alle Fragen. Die Disco-Musik der 70er hat Jimmy Somerville schon sein ganzes Leben begleitet. Er hat Donna Summers "I feel love" oder den Philadelphia-Soul-Klassiker "Don’t leave me this way" in den 80ern aufgenommen. Und deshalb drängt sich beim Hören des neuen Albums "Homage" nach ein paar Sekunden die Frage auf: Ein ganzes Disco-Album - warum hat er das nicht schon früher gemacht?
"Ja, das ist lustig. Klar, ich habe Disco-Musik schon früher gemacht und wollte es immer auch wieder machen. Aber ich hatte nie so richtig das Vertrauen in mich. Als ich mich aber erstmal für dieses Disco-Album entschieden hatte, machte plötzlich alles Sinn. Und dann ging es mir auch ganz leicht von der Hand. Und ich hängte mich voller Leidenschaft da rein."
Jimmy Somerville wirft einen Blick zurück
Trotzdem war diese Platte nochmal eine Neuorientierung. Songs im Disco-Stil zu schreiben, ist doch noch etwas anderes, als Pop-Songs zu schreiben. Der Schritt zurück war für Jimmy Somerville aber ein Schritt nach vorn.
"Ich empfinde jetzt viel mehr Freiheit, meine eigenen Sachen zu schreiben. Ich liebe Melodien sehr und merke jetzt, dass es mir leichter fällt zu arrangieren. Wenn ich dieses Vertrauen einmal habe, dann ist es leicht zu komponieren. Und das ist auch das erste Mal, dass ich etwas geschrieben habe und von Track 1 bis Track 12 durchhöre und es mir wirklich gefällt. Meine Mitmusiker John und Colin haben ein unglaubliches Gespür für Soul und Funk und Disco. Und wir drei zusammen – wir waren wie Kids. Und dieser musikalische Spaß – das hatte ich wirklich lange nicht mehr erlebt. Es ging also nicht darum, dauernd zu fragen: Ist das jetzt richtig oder falsch? Es war wie: Kind sein."
Dass die Disco-Musik jetzt noch einmal so sehr in sein Leben treten sollte, hat auch mit Jimmy Somervilles Biographie zu tun. Jetzt, mit 53 Jahren, macht er etwas, das ihn vorher nicht so interessiert hat: Er wirft zum ersten Mal einen Blick zurück.
"Was mir kürzlich in verschiedenen Interviews, die ich gegeben habe, klar wurde: Ich gehöre jetzt zu einer Generation, die 30 oder 40 Jahre zurückblicken kann. Zurück in meine musikalische Geschichte. Als Teenager in den 70ern konnte ich das nicht. Die einzigen, die das damals konnten, waren Leute, die Klassik und Jazz gehört haben. Und das macht mir wirklich riesigen Spaß, weil ich meine alten Platten raushole – Bread oder die Eagles und all diese Sachen. Und ich realisiere: Ja, das waren meine musikalischen Erweckungserlebnisse."
Originalgetreu wie in den 70er-Jahren
"Homage" – diese neue Platte von Jimmy Somerville überzeugt auch wegen ihrer großartigen Produktion. Heute hätte jeder Produzent spielend die Möglichkeit, mit viel Technik diesen Disco-Sound digital nachzuahmen. Somerville und sein Produzent John Winfield gingen aber den aufwändigeren Weg: Keine Elektronik, keine Synthesizer. Stattdessen: echte Streicher, echte Bläser, echte Band. Und bis zum letzten Handklatscher und der ausgewogen analog wirkenden Produktion ist alles so originalgetreu 70er-Jahre, wie es heute geht. Überhaupt – jenseits der Musik zeichnet sich das Album durch einen grandiosen Klang aus. Findet man ja nicht oft heutzutage. Und: Jimmy Somerville hat keine Coverversionen von damals eingespielt, sondern komplett neue Songs komponiert.
Und dann wird Jimmy Somerville doch noch politisch. Auf die Frage, warum Disco heute so ein kleines Revival erlebt, schwärmt er für die große Kraft dieser Musik.
"Ich glaube, wir leben gerade in sehr ängstlichen Zeiten. Es gibt so viel Unsicherheit. In Europa, wegen der Europäischen Union, oder wegen des IS-Terrors, alle möglichen Dinge, wirtschaftlich und politisch. Und wenn sowas passiert, glaube ich, dann suchen die Leute immer nach ein wenig Eskapismus. Und ich glaube, wir tendieren dazu, Disco-Musik als Wegwerf-Musik abzutun. Dabei hat sie schon immer diese wichtige Funktion gehabt: Optimismus zu geben in widrigen Zeiten. Und das liebe ich an ihr."
Und genau an dieser Stelle transzendiert die Musik dieser neuen CD von Jimmy Somerville. Auf der Suche nach seinen Wurzeln feiert der schottische Sänger ein altes Genre und findet in einer scheinbar banalen Tanzmusik eine kleine universelle Weisheit. Eskapismus – das kann fast jede Musik. Aber so viel unbändige Lebensfreue noch oben drauf – das gibt’s nur in der Disco-Musik.