Jewgeni Samjatin: "Wir"

Vorläufer von "1984" als grandioses Klangerlebnis inszeniert

Der Kopf der Skulptur "Der Gläserne Mensch" zeigt einen durchsichtigen Kopf mit Knochen und bunten Adern.
Der gläserne Mensch - so stellte sich Jewgenie Samjatin in "Wir" die Zukunft vor. Der Russe war zunächst begeisterter Bolschewik gewesen, verlor dann aber die Begeisterung für die Revolution. © dpa/ picture-alliance/ Matthias Hiekel
Von Ralf Bei der Kellen · 02.11.2015
Das 1920 erschienene "Wir" von Jewgeni Samjatin gilt als Vorläufer von "Brave New World" und "1984". Düster beschreibt der russische Schriftsteller eine gläserne Gesellschaft. Nun ist der Klassiker als aufwendig produziertes Hörspiel und auch als spannende Lesung erschienen.
"Ich, Nummer D-503, der Konstrukteur des Raketenflugzeugs 'Integral', ich bin nur einer der vielen Mathematiker des einzigen Staates."
Er ist stolz auf seine Rolle, der 32-jährige Protagonist des Romans "Wir" von Jewgeni Samjatin. Für D-503 zählt nur die Logik, und das Aufgehen im Kollektiv - alles andere verwirrt ihn. Damit ist er ein perfekter Bürger, eine perfekte 'Nummer' des "einzigen Staates". Hier, im 26. Jahrhundert, ist alles geregelt - die Wohnungen haben gläserne Wände, damit die sogenannten "Beschützer" die Nummern besser kontrollieren können. Und auch intime Kontakte sind durchorganisiert:
O-90: "Ich würde heute so gerne zu Ihnen kommen und die Gardinen herunterlassen. Gerade heute, jetzt, in diesem Augenblick."
D-503: "O-90 - Sie wissen genauso gut wie ich, dass unser nächster Geschlechtstag erst übermorgen ist."
Immer wieder ist D-503 von O-90s starken Gefühlen verwirrt. Aber dann passiert es ihm selbst: Er verliebt sich in die mysteriöse I-330. Und diese Emotion bringt alles in ihm ins Wanken und macht ihn schließlich zum Abtrünnigen:
"Ich konnte in mein Inneres blicken - da waren zwei Ichs. Das alte D-503-Ich und ein anderes, wildes. Ich sah, wie der andere sie grob mit seinen behaarten Händen packte und ihr die Seide vom Leib riss. Ich kniete auf dem Fußboden, umschlang ihre Beine, umschlang ihre Beine, küsste ihre Knie ... "
Eines der beeindruckendsten Hörspiele der vergangenen Jahre
Bereits 1979 produzierte der SFW den Roman als großartiges Hörspiel mit Christian Brückner in der Hauptrolle - das allerdings nie auf CD erschien. 2014 versuchte der SWR das scheinbar unmögliche - und schaffte es: mit einem Geräuschemacher, einem Chor, dem Radiosymphonieorchester des SWR und vielen prominenten Schauspielern - darunter Hanns Zischler - entstand eines der beeindruckendsten Hörspiele der letzten Jahre. Das Ergebnis ist derart überwältigend, dass die Form fast schon vom Inhalt ablenkt:
"Nachdem der einzige Staat den Hunger besiegt hatte, führte er einen Krieg gegen den zweiten Beherrscher der Welt - die Liebe."
Wem das Hörspiel zuviel "Ohrenkino" ist, wer sich mehr auf den Text konzentrieren möchte, für den gibt es den Roman auch als Lesung mit dem Schauspieler Heikko Deutschmann:
"Schließlich war auch dieser Feind geschlagen, das heißt: organisiert, mathematisch festgelegt und vor rund 300 Jahren trat unsere Lex Sexualis in Kraft."
Zurück zum Inhalt: I-330 entpuppt sich als Rebellin. Sie will den Integral, mit dem der einzige Staat seine glücklichmachende Weisheit ins Universum zu transportieren trachtet, in ihre Gewalt bringen. Aber die Rebellion wird niedergeschlagen, der Staat behält die Oberhand:
"Befreie Dich von der Qual der Phantasie! Voranmeldungen über jeden Numerator."
Samjatins "Wir" ist heute noch so aktuell wie 1920
Kurz vor einer Operation, mittels der ihm die Fantasie aus dem Hirn entfernt wird, begegnet D-503 dem Oberhaupt des Staates, dem 'großen Wohltäter'.
D-503: "Ich schwieg."
Wohltäter: "Worum haben die Menschen von Kindesbeinen an gebetet? Wovon haben sie geträumt? Womit haben sie sich gequält? Das irgendeiner ihnen ein für alle Male sage, was das Glück ist und sie mit einer Kette an dieses Glück schmiede."
"Wir" von Jewgeni Samjatin ist heute noch so faszinierend und so aktuell wie zu seiner Veröffentlichung im Jahr 1920, egal ob als 95 minütiges Hörspiel oder sechseinhalbstündige Lesung.
"Ich kann nur das wiedergeben, was ich sehe, was ich denke, genauer gesagt: Was wir denken. Wir."
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