Jesus, der überzeugte Single

Hans Conrad Zander im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.12.2010
Weihnachtszeit, Familienzeit - wenn Jesus wüsste, dass er die Kultfigur des Weihnachtsfests ist, würde es ihm die Sprache verschlagen, sagt Hans Conrad Zander. Denn Jesus hatte mit seiner eigenen Familie "einen unsäglichen schweren Streit".
Dieter Kassel: "Denn ich bin gekommen, den Menschen zu empören gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein." Das steht so in der Bibel, im Matthäus-Evangelium. Aber ich habe es nicht aus der Bibel, sondern ich habe es aus dem Buch "Der erste Single" von Hans Conrad Zander.

Der Buchautor und Hörfunkjournalist und gläubige Christ erklärt darin, dass Jesus ein Familienhasser war, und übrigens nicht nur Jesus, es gibt auch noch zahlreiche andere Beispiele in diesem Buch aus der Bibel und aus der Kirchengeschichte. Hans Conrad Zander ist Schweizer, geboren in Zürich, aber er lebt seit langer Zeit überwiegend in Deutschland und ich begrüße ihn jetzt in unserem Studio in Köln. Schönen guten Morgen, Herr Zander!

Hans Conrad Zander: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Wenn nun Weihnachten einerseits das Fest ist, an dem wir Christi Geburt feiern, andererseits aber in unserer Kultur ja ein Familienfest – ist das im Grunde genommen, so, wie Sie die Dinge sehen, ein Widerspruch? Würde Jesus Christus sich eventuell sehr darüber ärgern, wie wir seinen Geburtstag feiern?

Zander: Jesus war schlagfertig, sagt Martin Luther, er hat also – so drückt es Martin Luther aus – seinen Gesprächspartnern stets das Maul gestopfet. Aber wenn Sie ihn mit dem modernen Weihnachtsfest kennen, ihm sagen würden, dass er zur Kultfigur eines modernen Weihnachtsfestes geworden ist – denn das Fest, so wie wir es feiern, ist ja kein altes Fest –, ich glaube, es würde ihm eher die Sprache verschlagen.

Wie kann das mir passieren? Wenn das Mohammed passiert wäre – ich bitte Sie, Exempel des guten Familienvaters, zehn Ehegattinnen, für die er treu gesorgt hat, oder wenn es Abraham passiert wäre mit seiner Nachkommenschaft wie Sand am Meer, oder Buddha, der doch immerhin Familienvater war, bevor er in die Einsamkeit ging, oder Konfuzius, der die chinesische Familie regelrecht heilig gesprochen hat – aber Jesus, unter den großen Religionsstiftern der einzige, der es nicht mit der Familie gehabt hat, im Gegenteil, mit der eigenen Familie einen unsäglichen schweren Streit und hat selber keine gegründet, ist herumgezogen mit einem lockeren Kreis von Jüngerinnen und Jüngern, das ist das Gegenteil von Familie, die sich selber unterm Christbaum feiert.

Kassel: Wie weit ist denn das gegangen? Im Untertitel nennen Sie Ihr Buch ja tatsächlich auch "Jesus, der Familienfeind". Hatte er nur Probleme mit seiner eigenen Familie, oder war er wirklich so, wie Sie das herauslesen aus der Bibel, ein Gegner der ganzen Institution Familie?

Zander: Er hat auf die Familienbindungen seiner Jünger nicht die geringste Rücksicht genommen und das in einer Weise, die überaus schockierend war für seine Zeit. Da ist ein Jünger, der ihm nachfolgen will, der ihm aber sagt: Mein Vater ist gerade gestorben, ich möchte meinen Vater begraben. Und bedenken Sie, das ist nicht, wie wenn heute ein junger Deutscher seinen Vater rasch einäschert, das war fürs jüdische Empfinden die wichtigste Verpflichtung gegenüber den Eltern, dass er ihn begräbt. Und Jesus sagt voller Verachtung: "Lass die Toten die Toten begraben."

Kassel: Es gibt die Theorie, dass man Familien oder vor allen Dingen Mütter nicht verlassen kann, die laufen einem immer hinterher. Wie war das mit Jesus? Wie hat denn Maria oder wie hat auch Josef – der ja immer gerne, wenn man über die Evangeliumsgeschichte erzählt, ein bisschen in den Hintergrund tritt –, wie haben denn die beiden auf diese Ablehnung reagiert?

Zander: Mit großer Sorge und großem Schmerz. Als er zwölf Jahre alt war, lief er ihnen bereits davon auf einer Wallfahrt nach Jerusalem, das wird geschildert in den Evangelien. Wallfahrten nach Jerusalem, das war damals so etwas wie heute, also vom Massenereignis her wie heute ein Fußballspiel, und da haben sie den Jungen verloren, mehrere Tage haben sie nach ihm gesucht, verzweifelt. Und dann finden sie ihn Gott sei Dank, und es ist Maria, erstaunlicherweise Maria, die ihm Vorwürfe macht, Josef sagt kein einziges Wort, obwohl er doch ein jüdischer Patriarch ist. Maria sagt: Warum konntest Du uns das antun? Und in Gegenwart seines Vaters Josef sagt er: Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein musste, was meines Vaters ist, und deutet zum Himmel hinauf. Was meinen Sie, wie sich Josef da vorgekommen ist?

Kassel: Aber wie passt all das. Es gibt ja auch eine Stelle oder mehrere, an denen Jesus seine Mutter Maria als Frau, in alten Übersetzungen auch als Weib bezeichnet, klingt für uns heute immer noch nicht richtig nett, aber relativ harmlos, damals hingegen in der herrschenden Kultur eigentlich eine ziemlich schlimme Beleidigung der Mutter.

Zander: Es war eine schwere Beleidigung auf der Hochzeit zu Kana. Sie kommt zu ihm und sagt, sie haben keinen Wein. Warum sie das gesagt hat, ist sehr umstritten und wird verschieden interpretiert. Es kann sein, dass sie schon schweren Streit mit ihm hatte, es hieß ja von ihm in Nahzeit, dass er ein Weinsäufer sei. Es kann bedeutet haben, mein Junge, hier ist für Dich nichts zu suchen, hier ist kein Wein. Er sagt schroff, vor allen Leuten zu ihr: Weib, was habe ich mit Dir zu schaffen?

Und dieser Ausdruck, was habe ich mit dir zu schaffen, ist nicht so harmlos, wie er in unseren Ohren klingt. Das war bei Juden die Einleitung zu einer Kriegserklärung. Und noch unterm Kreuz. Das wird immer als Beispiel der Mutterliebe Jesu dargestellt, wie er zum Lieblingsjünger sagt: Schau da, Deine Mutter, und zu ihr, schau da, Dein Sohn – aber Jesus hatte doch eine Familie. Die vier Brüder werden alle mit Namen genannt. Ich weiß jetzt nicht, ob ich sie zusammenkriege, Simon, Jakob, Judas, Josef – vier Brüder und ein paar Schwestern, die werden nicht mit Namen genannt, bei Frauen ist das nicht so wichtig. Er schickt sie nicht in ihre Familie zurück, sondern zu seinem Lieblingsjünger und sagt wieder "Frau" zu ihr. Schalom Ben-Chorin, ein jüdischer Jesusforscher, von dem ich einen großen Teil meiner Thesen habe, Schalom Ben-Chorin sagt, er hat in der ganzen jüdischen Literatur jener Zeit nach einem Juden gesucht, der sich unterstanden hätte, zu seiner Mutter "Frau" zu sagen oder lutherdeutsch "Weib", das gibt den Tonfall viel besser wieder, und er hat es nicht gefunden. Also es muss ein schweres Zerwürfnis gewesen sein zwischen Jesus und der Familie.

Kassel: Hat denn der von Ihnen gerade erwähnte Schalom Ben-Chorin oder haben Sie selber eine Erklärung dafür, warum das – ich formuliere es mal salopp – zwei Jahrtausende lang niemandem aufgefallen ist, dass Jesus ein so großer Familienfeind war?

Zander: Ich glaube, das hat einen einfachen Grund: Wir haben die Evangelien immer mit christlichen Augen gelesen, und wenn man die Evangelien mit christlichen Augen liest, dann ist … dann sucht man nach den Zeichen der Göttlichkeit, der göttlichen Sendung, der Mission, der göttlichen Botschaft. Aber das Dogma der Kirche ist ja: Jesus Christus war Gott und war Mensch. Wenn wir jetzt nach dem wahren Menschen schauen, dann muss man zu den Juden gehen. Sehen Sie, ich bin aus Solothurn. Kennen Sie Solothurn, waren Sie schon in Solothurn?

Kassel: Ich war da mal einen Nachmittag lang, möchte mich nicht als Experte bezeichnen, aber ich habe ein grobes Bild.

Zander: Wunderschöne kleine schweizerische Barockstadt. Also wenn Jesus aus Solothurn gekommen wäre, ja, da könnte ich Ihnen sofort eine Menge über Jesus sagen, wir Solothurner wissen über uns Bescheid. Aber er kam aus Palästina. Also muss man, wenn man den Menschen Jesus in den Blick bekommen will – und das haben wir eben die ganzen Jahrhunderte nicht getan –, muss man zu den Juden gehen.

Ich habe also, weil ich alt bin, Gnade der frühen Geburt, habe ich noch in den 80er-Jahren die großen Pioniere der jüdischen Jesusforschung selber gekannt. Das waren zum Teil also erschütternde Figuren, Schalom Ben-Chorin, ein Religionswissenschaftler aus München, der hinterm Busbahnhof in Jerusalem in einer kalten Wohnung lebte, der ganze Raum voll mit Büchern über Jesus, und da ist er seinem Bruder Jesus nachgegangen und hat jede Stelle im Evangelium aus den jüdischen Lebenszusammenhängen interpretiert, nicht aus dem christlichen Dogma. Ich habe ihm mit Faszination zugehört.

Auch David Flusser von der Hebräischen Universität, der die gleichen Thesen aufgestellt hat, der sagt: Man kann das Evangelium, man kann da vieles hineininterpretieren, aber eins lässt sich nicht uminterpretieren - an Dutzenden von Stellen hat der Streit, und zwar schwere Streit mit seiner Familie. Sogar in dem abgehobenen Evangelium nach Johannes, da wird sogar, ist die Rede von einem Mordkomplott seiner Brüder, oder ganz am Anfang schon bei Markus, als die Seinen das hörten, wollten sie ihn festnehmen, denn sie sagten, er ist verrückt geworden – das kommt in den Blick, wenn man Jude ist und es als Jude liest. Warum? Weil die Juden einen noch viel stärkeren Familienkult hatten als wir ihn haben. Das war also … wenn einer seinen Eltern nicht gehorcht, heißt es bei Moses, der soll vor die Tore der Stadt hinausgeschleppt werden und gesteinigt werden.

Kassel: Nun gibt es aber ja diesen Familienkult nicht nur in der jüdischen Religion, im Islam natürlich, es gibt ihn in den fünf Weltreligionen eigentlich, aber nicht nur da. Ich weiß zufällig, dass zum Beispiel der Konfuzianismus einen extremen Familienkult auch treibt, da geht es so weit, dass Eltern da das ausdrückliche Recht haben, ihre Kinder wirklich zu quälen, indem sie ihnen unsinnige aber unangenehme Aufgaben geben, nur um wirklich diesen unbedingten Gehorsam zu testen. Das scheint ja fast ein Teil der menschlichen Kultur, religionsunabhängig, zu sein.

Kann man denn – und da können wir vielleicht dazu kommen, dass Ihr Buch ja kein Jesus-Buch ist, das ist das erste Kapitel, Sie haben ja viele andere Beispiele für Figuren aus der Bibel und aus der Kirchengeschichte, die Familien abgelehnt haben –, kann man denn daraus schließen: Eigentlich ist das Christentum eine Anti-Familien-Religion?

Zander: Also dass Sie gerade die Chinesen angeführt haben … Sie können auch ein bisschen näher an uns herangehen: Bei den alten Römern hatte der Pater familias das Recht, Frau und Kinder zu töten, wenn er fand, dass er als Familienrichter das tun sollte. Aber warum ist das denn in diesen ganzen alten Religionen gekommen? Selbst der liberale König Salomon sagt: Vae soli – wehe dem Alleinstehenden.

Ich glaube, dass das einmal etwas mit der Fortpflanzungssituation zu tun hatte – es war dringend nötig, dass man sich damals fortpflanzte. Als Maria Jesus gebar, hatte der Globus nach amerikanischen Berechnungen so etwa 300 Millionen Menschen. Ich finde das eigentlich schon ziemlich viel, ja, 300 Millionen. Aber immerhin, sie fanden damals, das sei noch viel zu wenig und jedes Volk war darauf bedacht, sich unbedingt bei der hohen Kindersterblichkeit fortzupflanzen, und daher dieser Familienkult.

Die einzigen, die diesen Familienkult nicht hatten, waren die Griechen. Schon die Nächstenliebe, die Jesus gepredigt hat, kommt doch viel näher der griechischen Philanthropie als der jüdischen Liebe zum eigenen Volk, und er hat ja neben der Samaritanerin am Brunnen gesessen, er hat den Samariter als Beispiel der Nächstenliebe, als Beispiel hingestellt: Jesus selber konnte nicht gut Griechisch, aber er war Galiläer und hat viele … In Galiläa waren die Juden in der Minderheit, er hat in einem griechischen Kontext gelebt. Die Evangelien sind auf Griechisch geschrieben. Und vor allem: Der Apostel Paulus, der ja der eigentliche Stifter unserer Religion ist, war ein ganz griechisch gebildeter Jude, und die Griechen haben das Individuum höher geschätzt als die Familie und in den griechischen Großstädten, griechisch geprägten Großstädten, rund ums Mittelmeer hat sich das Christentum herangebildet.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Hans Conrad Zander, Journalist und Autor des Buches "Der erste Single", und Herr Zander, auch wenn heute Weihnachten ist, lassen wir jetzt mal Jesus in Ruhe, denn wie erwähnt ist das nur das erste Kapitel. Sie haben ja viele andere Beispiele in diesem Buch, vielleicht das eine oder andere konkret, aber auch ganz allgemein: Sind das denn immer – die anderen Familienhasser, wie ich sie jetzt mal pauschal nenne – sind das immer die Ausnahmen von der Regel, oder kann man da sogar eine ganz klare Linie erkennen?

Zander: Sie können durch zwei Jahrtausende, also anderthalb Jahrtausende bis zur Reformation, der christlichen Kirchengeschichte erkennen, dass, also etwas ganz Einzigartiges, der Unverheiratete über den Verheirateten gestellt wird. Das ist erstaunlich, umso mehr, als es viel mehr Verheiratete gibt als Unverheiratete, aber die Nachfolge Jesu Christi – und Herr Kassel, Sie werden mir nicht sagen können, dass das Christentum etwas anderes ist als Nachfolge Jesu Christi –, die Nachfolge Jesu Christi besteht darin, alles aufzugeben, vor allem Frau und Kinder.

Er sagt bei Lukas 14: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, so kann er nicht mein Jünger sein. Es ist die Loslösung von der Familie und die Ausrichtung auf etwas ganz anderes, Vater unser im Himmel. Den heiligen Josef hat er abschätzig behandelt, aber Vater unser im Himmel, das ist sein Evangelium. Die Ausrichtung auf den Himmel ist das spezifisch Christliche.

Reinhold Schneider hat einmal gesagt, der ganze moderne Atheismus kommt davon her, dass die Leute nicht imstande sind, um Mitternacht auf den Balkon hinauszugehen und den Himmel anzuschauen. Er ist großartig, er ist göttlich schön, und er kündet ja nur die Gottheit an, die hinter dem Himmel ist. Der Himmel ist das, worauf der Christ ausgerichtet ist, und dazu braucht man innere Ruhe.

Jetzt glauben Sie doch nicht, dass man – wenn man in einer Familie mit drei Kindern lebt –, dass man da so etwas wie Frieden hat und innere Ruhe und Besinnung, um sich auf sein eigenes Ich und auf die Gottheit zu besinnen. Ich erinnere mich, einmal bei Aristoteles gelesen zu haben, ich kann jetzt nicht sagen, wo. Aristoteles, der alte Heide, sagt: Der ganz gewöhnliche Mensch ist sein ganzes Leben über dermaßen im Streit und hadert mit Familie und auch im Beruf beschäftigt, dass er nicht einen Augenblick zu sich kommt. Man kommt am ehesten zu sich, wenn man allein ist, und Kierkegaard sagt: Die Fähigkeit, allein zu sein, ist die Voraussetzung für eine geistige Existenz.

Kassel: Nun ist es so, dass Sie diese Beispiele nennen. Es gibt viele andere.

Zander: Zum Beispiel.

Kassel: Aber ich frage mich natürlich: Kann die Welt funktionieren, wenn man all diesen Beispielen wirklich folgen würde? Sie wissen, wenn man ihnen ganz konsequent folgt, dann nicht, denn dann würden ja die Menschen aussterben. Sie müssen sich ja fortpflanzen, Überbevölkerung hin, Ein-Kind-Familie her. Ganz ohne Fortpflanzung geht es ja nicht. Und vor allen Dingen frage ich mich: Genau so einseitig wie manche die Familie als das einzig selig machende Paradies propagieren, auch heute wieder – ist nicht die Gegenseite genauso einseitig? Denn so die Hölle, wie Sie das geschildert haben mit vielen Zitaten, muss es doch auch wieder nicht sein.

Zander: Also der Heilige Paulus war da sehr tolerant. Er hat die Singles nicht so verdammt wie die alten Religionen, sondern er sagt im Brief an die Korinther: Ich möchte, dass alle Menschen so sind wie ich, unverheiratet, aber ich möchte Euch damit keine Fessel auferlegen. Also wenn jemand es besser fände zu heiraten, dann soll er heiraten. Aber was Sie eben gesagt haben, es ginge der Menschheit furchtbar schlecht, wenn sich die Auffassung, wie ich sie vertrete, durchsetzen würden – im Augenblick geht es ihr schlecht, weil wir zu viele Familien haben. Die ganze Übervölkerung unseres Globus, das macht doch auch die Umwelt kaputt, dass wir sieben Milliarden sind statt zur Zeit Jesu 300 Millionen, das bringt die ganzen Umweltprobleme hervor. Eine Religion, die dafür sorgt, dass die Menschheit sich nicht so stark vermehrt im Unterschied zum Beispiel zum Islam, eine solche Religion ist doch in unserer Zeit nun weiß Gott zu begrüßen.

Kassel: Aber in der Praxis ist ja das Christentum, gerade das katholische Christentum, keine solche Religion, weil die Katholiken vom Papst bis zu jedem Bischof, ob nun liberal oder Hardliner, in Deutschland auch – gehen wir gar nicht in andere Länder –, die sind ja alle für die Familie, die sind ja alle auch gegen Gesetze, die es Alleinerziehenden leichter machen, die wollen ja alle den Klassiker eine Frau, ein Mann, drei bis acht Kinder.

Zander: Ja, also Sie denken jetzt an Haiti und an die …

Kassel: Nö, ich denke auch schon, dachte ein bisschen an Augsburg oder so ähnlich. Also, es gibt ja auch in Deutschland dieses Bild, die katholische Kirche sagt doch nicht, lebe alleine und kriege keine Kinder, oder habe ich da was überhört?

Zander: Sie sprechen gerade von Augsburg. Ich bin einmal dort gewesen und habe eine Predigt von Bischof Mixa miterlebt, über den ich mich jetzt nicht lächerlich machen möchte, das haben zu viele andere getan und ihm ist wirklich übel mitgespielt worden. Aber das Spannende bei der Predigt von Bischof Mixa war nicht der Bischof selbst, der da unablässig die Familie hoch pries als das unbedingt Fördernswerte, und wo der Staat viel mehr Geld reinstecken muss und so weiter.

Das Interessante war das Publikum. Die ganze Kirche voll mit lauter braven Gesichtern, braves Kleinbürgertum. Das ist die Klientel von so Predigern wie Mixa oder auch der Kölner Erzbischof. Das Christentum hat sich seit dem 19. Jahrhundert stark zurückgezogen ins Kleinbürgertum, hat große Teile der Bevölkerung verloren.

Und nun ist es ja so, dass Prediger auf die Dauer immer das predigen, was ihre Klientel hören will. Also dass Johannes Calvin in Genf gepredigt hat, dass das Geld Zeichen der göttlichen Gnade war, das kam davon her, dass zu seinen Füßen in der Kirche St. Peter die reichen Handelsleute von Genf saßen. Nach einer Weile ist ihm dann das in den Sinn gekommen. So sehr passt sich ein Prediger seinem Publikum an, und so ist es heute mit der Familienmystik von Kardinal Meisner oder von Bischof Mixa: Die haben ein ganz kleinbürgerliches Publikum, das eben sehr auf Familienglück ausgerichtet ist, das sind die Leute, die in den Reihen-Einfamilienhäusern in den Vorstädten wohnen und wo die grüne Witwe auf ihren treuen Gatten wartet und im Geländewagen morgens ihre drei Kinderchen in die Schule bringt. Aber das ist doch nicht moderne Welt. In Zürich sind jetzt 60 Prozent der Haushalte Ein-Personen-Haushalte, die werden nur runtergemacht von den katholischen Bischöfen.

Kassel: In Berlin ist es ja sogar noch mehr, aber wenn wir über dieses Familienbild der Kirche reden, dann sind wir jetzt natürlich – ob wir wollen oder nicht, ich will aber auch – auch bei der Frage der Sexualität. Für die Kirche – selbst die evangelische hadert ja und die katholische ist da sehr eindeutig – ist die Ehe ja auch der einzige Raum, in dem Sex zwischen Mann und Frau wirklich legitim ist, und offiziell muss er dann auch noch in jedem Einzelfall der Zeugung dienen.

Wie war denn das bei den vielen christlichen Singles, Paulus, Franz von Assisi nennen Sie in Ihrem Buch und einige andere Beispiele, eine Frau auch, aber bleiben wir meinetwegen bei den Männern: Was bedeutete denn dieses Singletum in Bezug auf Sexualität?
Zander: Es war in den einzelnen Fällen sehr verschieden und Sie werden in meinem Buch eigentlich kein Plädoyer für die Keuschheit finden, gerade weil ich katholisch bin. Also wissen Sie, unsere Kirche hat sich in sexuellen Dingen so blamiert in den letzten Jahrzehnten – da braucht man jetzt nicht auf das Gegenteil umzustellen und die sexuelle Freiheit zu propagieren. Aber wenn man sich so blamiert hat wie wir Katholiken, dann kann man auch eine Weile den Mund halten.

Ich bin also der Auffassung, dass ich nicht zuständig bin für das Sexualleben anderer Menschen, so wie andere Menschen nicht zuständig sind für mein Sexualleben. Das soll man dem Einzelnen überlassen. Der Heilige Franz von Assisi war sein Leben lang von zwei Frauen begleitet, mit denen er sich sehr gut verstanden hat – ich will nicht sagen, was zwischen denen war, das geht mich ja auch gar nichts an –, oder die Heilige Theresia von Ávila, also die größte Heilige der katholischen Kirche, hatte einen 27 Jahre jüngeren Mann, den Heiligen Juan de la Cruz, als Gefährten, an dem sie leidenschaftlich hing und mit dem sie sich ausgezeichnet verstanden hat. Was das Sexualleben zwischen denen war, ist und sein könnte und heute wieder – was geht es mich an? Ist das nicht die größte Errungenschaft des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, zu unterscheiden zwischen privatem und öffentlichem Leben?

Kassel: An dieser Stelle könnten wir jetzt eine Riesendebatte über das Internet führen, was wir nicht tun. Ich erspare Ihnen auch die Frage nach Ihrer Sexualität, die geht mich natürlich in der Tat nichts an, aber ich bin auch an Weihnachten nicht so barmherzig, Sie gar nichts Persönliches zu fragen. Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, Herr Zander, und nachdem ich auch weiß, dass Sie als junger Mann – das ist fast ein halbes Jahrhundert her jetzt – mal ein paar Jahre lang Dominikanermönch waren, aber eben ja doch nicht blieben, sondern ins weltliche Leben zurückkehrten, drängt sich mir natürlich die Frage auf: Wie ist es denn mit Ihnen? Waren Sie denn Ihr Leben lang Single, oder sind Sie auch mit einer Familie geschlagen?

Zander: Also Sie können sehen hier, dass ich einen Ehering trage, aber das ist eine Sache, die ich eigentlich in meinem Buch gar nicht angesprochen habe. Es gibt ja nicht nur den Single und die Großfamilie, es gibt Zwischenformen, und die schönste Zwischenform zwischen Single und Familie ist das Paar. Das Paar ist zusammen allein. Wenn man nur zu zweit ist, kann man die gegenseitige Intimität schätzen und zugleich respektieren. Es ist ein … nach meiner Meinung – es gibt einen japanischen Gott, der als Paargott bezeichnet wird – ist dies die schönste Art zu leben. Sie haben Gesellschaft und Sie sind doch allein, Single in Gemeinschaft.

Kassel: Herr Zander, dann wünsche ich Ihnen wunderschöne Weihnachten in der Zwischenform und danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.

Zander: Auf Wiederhören.