Jessen: "Ich fühle mich missverstanden"

Moderation: Nana Brink · 21.01.2008
Jens Jessen, Feuilleton-Chef der "Zeit", beharrt auf seiner These, unsere Gesellschaft habe ein Toleranzproblem. Zugleich verwahrte er sich gegen den Vorwurf, er habe dem zusammengeschlagenen Rentner in München die Schuld an der Gewalttat gegeben. So wie Roland Koch maßlos übertreibe mit ausländischer Gewalt, so habe er zeigen wollen, dass man auch maßlos übertreiben kann mit Vorwürfen an die eigenen Landsleute.
Nana Brink: Und wir sind jetzt verbunden für unser Feuilleton-Gespräch mit Jens Jessen, dem Kulturchef der "Zeit". Schönen guten Morgen, Herr Jessen!

Jens Jessen: Guten Morgen!

Brink: Wir haben es gehört. Die Aufregung über ihren Video-Blog hält an. Aber Sie sehen keinen Grund, Ihre Äußerungen zu relativieren?

Jessen: Nein, überhaupt nicht. Na, ich meine, zum Relativieren gibt es natürlich immer Anlass. Aber das Hauptmonitum ist in meinem Beitrag ja gar nicht enthalten, die Unterstellung, ich hätte dem Rentner die Schuld an der Gewalttat gegeben. Das habe ich ja überhaupt nicht getan. Ich habe nur gesagt, dass seine kleine Ermahnung eben möglicherweise das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und eben, dass unsere Gesellschaft ein Toleranzproblem hat und dazu neigt, auf Jugendlichen rumzuhacken, wo immer es geht, eben das halte ich für unabweisbar. Das ist jedenfalls meine persönliche Erfahrung.

Brink: Die Reaktion aus den Medienlandschaften sind aber ziemlich harsch. Wir hören jetzt zum Beispiel, was ein Kollege vom "Tagesspiegel" geschrieben hat, nämlich Bernd Matthies:

"Die politische Debatte läuft also in die völlig falsche Richtung. Erziehungscamps und verschärfte Strafen sind richtig, aber eben für den eigentlichen Schuldigen, den deutschen Rentner. Ins Ausland abschieben können wir ihn nicht, nicht einmal, wenn sein Gängelungsregister 50 und mehr Einträge enthält. Aber es wäre zumindest die Möglichkeit einer Abschiebung ins nächste Altenheim zu prüfen. Dort würde der Delinquent dann statt der fröhlichen Musikanten abends täglich 90 Minuten lang immer wieder Jessens Video-Blog anschauen müssen."

Brink: Haben Sie denn Ihren Video-Blog als Satire gemeint?

Jessen: Na, ja nicht als Satire im engeren Sinne eben, aber das steht natürlich in der Tradition so stark überspitzter Polemiken. Die Grundfigur ist ja die, ich habe ja anfangs Bezug genommen auf den hessischen Wahlkampf, und die Grundfigur ist dem Gegner, eben seine eigene Position in den Kopf zurückzuwürgen, gleichsam. Während Koch maßlos übertreibt mit ausländischer Gewalt, wollte ich mal zeigen, dass es sehr gut möglich ist, ebenfalls maßlos zu übertreiben mit Vorwürfen an die eigene Landsleute. Das ist ungefähr die Figur. Und das ist natürlich das Interessante, das so zu sehen, dass so etwas, was für einen gebildetes Publikum in einer gedruckten Zeitung oder zum Beispiel in ihrem geschätzten Sender funktioniert, dann im Internet nicht funktioniert, weil man zu Leuten spricht, die diese Tradition der überspitzten Erwiderung überhaupt nicht kennen.

Brink: Aber es ist doch erstaunlich, dass viele Ihren satirischen Ansatz einfach nicht verstanden haben. Frank Schirrmacher sagt ja auch, da das Video gestattet, ins Jessens Gesicht zu sehen, spricht wenig dafür, dass er das ironisch meint. Und wir haben uns das auch alle hier angeguckt und konnten es eigentlich nicht als Satire verstehen.

Jessen: Ironisch ist nicht der richtige Ausdruck. Das ist so eine sarkastische Überspitzung.

Brink: Fühlen Sie sich dann missverstanden?

Jessen: Ich fühle mich missverstanden, ja, aber das ist nicht so schlimm. Es wäre natürlich das Missverständnis größer, wenn man meinte, ich würde das gar nicht meinen.

Brink: Aber Sie halten ja Ihre Hauptthese aufrecht, die heißt, das haben Sie geschrieben, jetzt auch wieder im Internet als Reaktion: Ich beharre darauf, dass Deutschland ein Spießerproblem hat, und dass in diesem Land mit unerbetenen und zudringlichen Ermahnungen, Ratschlägen und scheelen Blicken jeder Ausländer schlechte Erfahrungen macht.

Jessen: Ja. Das ist ganz gewiss so. Wer das nicht weiß und nicht sieht, ich meine, dazu muss man übrigens auch keine Ausländer mit Migrationshintergrund fragen. Fragen Sie irgendeinen Korrespondenten einer geschätzten west- oder osteuropäischen Tageszeitung. Oder fragen Sie eine junge deutsche Mutter mit Kindern und einem Hund vielleicht.

Brink: Warum musste denn der Schlenker sein, dass der Rentner sozusagen letztendlich selbst dafür verantwortlich ist?

Jessen: Na, das habe ich ja nicht gesagt.

Brink: In der letzten Konsequenz schon, in diesem einen Satz.

Jessen: Nein! Das ganz bestimmt nicht ...

Brink: Wir haben es am Anfang gehört…

Jessen: Nein, ich habe gesagt, dass eine harmlose Bemerkung eines Rentners dann am Ende eben das Fass zum Überlaufen bringen kann. Warum? Weil es ständig solche Bemerkungen gibt. Das ist aber keine Schuldzuweisung an einen Einzelnen.

Brink: In einem Halbsatz schon, deshalb ist ja auch die Aufregung ...

Jessen: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bereue es langsam, mit Ihnen zu sprechen! Sehen Sie sich das geduldig an! Ich sage es nicht!

Brink: Die Reaktionen sind sehr harsch gewesen. Wie viel E-Mails haben Sie denn bislang bekommen, oder, Sie haben einige veröffentlicht auf Ihrer Internetseite, wie viel waren es insgesamt?

Jessen: Das weiß ich nicht genau. Ich habe irgendwann, als es über 200 waren, habe ich das nur noch höchst summarisch mir angeschaut.

Brink: Sie haben auch gesagt, dass es Sie gewundert hätte, dass die Reaktionen so harsch waren. Sie sprechen auch von einem Internetmob, der sich auf Sie gestürzt hat. Verwundert es Sie? Sie haben gesagt, das Internet ist ja nun gerade ein Medium, das einlädt jeden sich zu äußern, und zwar ungefiltert. Das heißt, Sie konnten doch mit solchen Reaktionen rechnen?

Jessen: Hätte ich wahrscheinlich tun können bei besserer Vertrautheit mit dem Medium. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe da insofern viel gelernt. Ja, das ist ungeheuerlich, was sich da organisiert. Das ist so 'n rechtsradikaler Mob, ja. Obwohl ich einschränkend sagen muss: Es gibt Experten, die behaupten, das stimme nicht oder es seien nicht weit über 200 Leute, die sich da empören, sondern nur ein paar Dutzend. Und es handelt sich immer wieder um dieselben Leuten, die neue Mails schreiben und die einem Netzwerk angehören, was in einer gewissen Verbindung zu einer Internetseite steht. Das weiß ich nicht. Aber es gibt Leute, die das behaupten.

Brink: Was ist denn Ihre Konsequenz jetzt nach den Erfahrungen, die Sie gemacht haben?

Jessen: Na ja, über manche Dinge anders zu denken als vorher.

Brink: Aha.

Jessen: Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich gegenüber einigen geschätzten Kollegen immer gesagt habe: Ja, Kinder, regt euch nicht so auf und so viel rechtsradikales Gedankengut gibt es gar nicht, und das dringt nicht in die Mitte der Gesellschaft vor. Das sehe ich jetzt zum Beispiel jetzt anders.

Brink: Würden Sie sagen, dass Sie dann bereuen, diesen Film, diese Aussage so gemacht zu haben, wie sie Sie gemacht in diesen fünf Minuten, dieses Video?

Jessen: Im allerersten Moment, als ich die ersten Reaktionen sah, habe ich das bereut und hab gesagt: Warum? Ich bin ja nicht dafür da, ich habe den Kollegen der Online-Redaktion einen kleinen Gefallen getan. Und meine aktuelle Erregung über den hessischen Wahlkampf in so einen Kommentar fließen lassen, das hättest du ja nicht machen müssen. Aber im Lichte der Reaktionen empfinde es nicht mehr falsch, nein. Das musste mal ans Licht kommen.

Brink: Journalisten als Video-Blogger sind ja sozusagen eine Modeerscheinung. Nach Ex-Spiegel-Kulturchef Matussek wird jetzt auch Ex-Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert ins Netz gehen auf dem neuen Internetportal "zoomer.de". Eine neue Aufgabe für schreibende Journalisten?

Jessen: Ja, das müssen sie sich gut überlegen.

Brink: Sie sprechen jetzt aus Erfahrung, ja?

Jessen: Diesen dringenden Rat, diese zweite Lehre, die ich daraus gezogen habe, weil es etwas ganz anderes ist. Man sendet in ein schwarzes Loch hinaus und weiß überhaupt nicht, zu wem man spricht. Und das tut man natürlich auch in sehr großen Publikumszeitungen oder Sendern schon, weil diese Sender selber durch ihre Themen und ihre Sprache, oder die Zeitung eben auch, eine Vorauswahl unter dem denkbaren Publikum treffen. Und das tut das Internet nicht. Und insofern weiß man letztlich natürlich nicht, welche Sprechart man wählen soll. Unterstellen wir mal, es sei meine Absicht gewesen, wirklich verstanden worden zu werden, dann ist das natürlich gründlich schief gegangen.

Brink: Ein Resümee. Vielen Dank, Jens Jessen! Das war der Kulturchef der "Zeit". Und "Die Zeit" erscheint in Hamburg, und dort können Sie Deutschlandradio Kultur auf der UKW-Frequenz 89.1 hören.