Jens Mühling: "Schwarze Erde"

Das gespaltene Land

Proeuropäische Proteste in Kiew 2014
Proeuropäische Proteste in Kiew 2014 © dpa / picture-alliance / Nikitin Maxim
Von Günther Wessel · 13.04.2016
Die Ukraine ist uns vertraut und unbekannt zugleich. Über den Alltag, das Leben und Denken der Menschen wissen viele Deutsche wenig. Der Journalist Jens Mühling schafft mit seinem Buch Abhilfe und legt Momentaufnahmen aus einem vom Bürgerkrieg geschüttelten und tief gespalteten Land vor.
Jens Mühling ist weit gereist. Er erkundete die Ukraine von den Grenzen im Westen entlang der Karpaten bis zu den umkämpften Gebieten der östlichen Donbass-Region. Er war auf der Krim und in Kiew, er besuchte die letzten Deutschen am Schwarzen Meer und die chassidischen Pilger in Umam während des Rosch Haschana, des jüdischen Neujahrsfest. Er sprach mit Nationalisten, Kommunisten, Krimtataren, Volksdeutschen und Kosaken. Er suchte, wie er schreibt, Geschichte und Geschichten, und fand beides. Mal skurrile wie die über den Mittelpunkt Europas, der angeblich in den Karpaten liegen soll, meist aber politisch-historische, die er oft mit Einzelschicksalen verbindet.
Wie dem von Stepan Bandera. Er ist der Held aller ukrainischen Nationalisten und versuchte im Bündnis mit den deutschen Nationalsozialisten, eine unabhängige Ukraine zu erkämpfen. Als er aber 1941 die Republik ausrief, landete er im Konzentrationslager. Banderas Geschichte macht die zwei Seiten des ukrainischen Nationalismus deutlich: Er liebäugelte mit Nationalsozialisten und Antisemiten, beteiligte sich an Pogromen gegen Polen und Juden, wurde gleichzeitig aber immer unterdrückt.

Eher westlich oder eher russisch?

Wo heute Ungarn ist, war einst Galizien, die Vielvölkerregion des Habsburgerreiches, die im Zweiten Weltkrieg zugrunde ging. Wehmütig erinnert Mühling an die deutschsprachigen Schriftsteller Gregor von Rezzori und Paul Celan, die aus der Westukraine stammten und deren Heimatstadt Tscherniwzi im 20. Jahrhundert sechsmal die Staatsangehörigkeit wechselte: vom Habsburgerreich über Rumänien zur Sowjetunion, erneut zu Rumänien, wieder zur Sowjetunion und seit 1991 zur Ukraine. Dabei wurde die Bevölkerung ethnisch immer homogener. Sie blieb aber bis 1991 ohne einen eigenen Staat, eine nationale Selbstverwaltung war in der Sowjetunion nicht vorgesehen.
Nationale Fragen spielen bei fast allen Gesprächspartnern Mühlings eine wichtige Rolle. Man will Unabhängigkeit, aber wo verortet man sich? Eher westlich, zu Europa zugehörig oder eher in Richtung Russland? Der deutsche Journalist trifft auf starke Meinungen und erschreckend oft auf fanatischen Antisemitismus, auf Verschwörungstheorien oder faschistische Weltbilder. Er lässt seine Gesprächspartner dabei zwar ausführlich zu Wort kommen, aber mitunter steht Suche nach den oft absonderlichen Geschichten und Menschen einer genaueren Analyse im Wege. Mehr Ukraine-Beschreibung und weniger Mühling-Gedanken hätten dem Buch gut getan. So liefert das Buch am Ende nur lesenswerte Momentaufnahmen; ein Kaleidoskop eines Landes, das mit sich selbst im Unreinen zu sein scheint.

Jens Mühling, Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
288 Seiten 19,95 Euro

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