Jedes Tempo hat seine Krankheit

Von Godehard Weyerer · 18.02.2009
Der Geschwindigkeitsrausch hat die Menschheit fest im Griff: Je schneller, umso riskanter, desto gefährlicher - im Zug, auf der Straße, beim Autorennen. Zeitverschwendung gilt als Todsünde. Mit Erschöpfungszuständen und innerer Kündigung reagieren heute die, dem Diktat der Eile am Arbeitsplatz und anderswo nicht standhalten. Das Gespür für das Lebenswerte bleibt auf der Strecke - und oft auch die Psyche.
"Einszweidrei, im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit". Wilhelm Busch, der Meister knapper Texte und bitterer Zeitkritik, sah das Unheil kommen. 1877 schmiedete er diesen Vers für sein Buch "Julchen". Zum Besseren hat sich seither nichts gewendet. Im Gegenteil. Man schuftet und schuftet, und je mehr gearbeitet wird, desto unzufriedener und schwermütiger scheinen wir zu werden. Das Gespür für das Wesentliche bleibt auf der Strecke. Für Freundschaften, fürs Zuhören, für einen Ausflug oder ein gemütliches Essen, für die Arbeit, an der man Spaß hat, für ein Zusammenleben in Toleranz und Freiheit - kurzum für alles, was das Leben lebenswert macht.

Die Geschichte der menschlichen Evolution ist eine Beschleunigungsgeschichte. Kein Fortschritt ohne Temposteigerung. Stillstand heißt Rückschritt. Was zählt, sind Rekorde. Immer höher, immer weiter, immer schneller. Das Tempo fasziniert und scheint den Menschen um seinen gesunden Menschenverstand zu bringen.

Wie lässt sich anders erklären, dass die fortschrittstrunkenen Zeitgenossen um 1835 ein zischendes, dampfendes, unförmiges und träges Ungetüm, das ein paar Waggons von Nürnberg nach Fürth zog, ausgerechnet nach dem König der Lüfte benannten?

Andere, denen das alles suspekt erschien, waren wiederum felsenfest überzeugt, die enorme Geschwindigkeit, mit der die "ADLER" den ersten Eisenbahnzug durch Deutschlands Landschaft zog, würde die Reisenden notgedrungen in den Irrsinn treiben.

Aus England, dem Mutterland der Eisenbahnen, war zu hören, dass in ärztlichen Bulletins vor diesem Geschwindigkeitsrausch eindringlich gewarnt wurde. Bei einer Reisegeschwindigkeit von 35 oder gar 50 km/h käme es zwangsläufig zu irreversible Schäden der menschlichen Gesundheit, der Psyche und der Wahrnehmung. Heute kann man darüber nur schmunzeln.

Seid weise, meide Gleise.

"Daheim liegen meine beiden Buben, gesunde Jungen noch vor einem Jahr, und jetzt fehlt dem einen die Hand, dem anderen der Fuß. Die rollende Maschine hat sie ihnen weggequetscht. Sie sind Krüppel für ihr ganzes Leben und sitzen nun Tag und Nacht am Boden, um sich durch mühsames Flechten von Strohmatten ein paar Pfennige zu verdienen. Sie täten am gescheitesten, wenn sie stürben."

Ernst Willkomm, 1810 geboren, heute völlig vergessen, war zu seiner Zeit ein bekannter Autor. Über 100 Reiseberichte, Theaterstücke, Erzählungen und Romane schrieb er, unter anderem 1843 den Roman "Eisen, Gold und Geist".

"Nein, liebe Geschwister und Freunde, die Maschinen sind ein Segen Gottes, eine Wohltat für die Menschheit! Ihre Beibehaltung, ihre Vermehrung und Verbesserung muss der Wunsch eines jeden Biedermannes sein; allein man muss sich ihrer nur bedienen zur Befreiung, nicht zur Unterjochung der arbeitenden Klasse."

Der Einzug der dampfgetriebenen Maschinen veränderte die Arbeitswelt in den Fabriken wie nie zuvor. Die neumodischen Maschinen, die man aus England importierte, waren teuer, sehr teuer. Sie mussten laufen, rund um die Uhr, der Mensch hechelte hinterher. Mit fortdauernder Übermüdung häuften sich die Unfälle.

Es verstummten alsbald auch die, die die Erfindung der Dampfmaschine als größtes Unglück der Menschheit geißelten.

Die menschlichen Sinne gewöhnen sich nun einmal an Geschwindigkeit. Der Sättigung folgt stets das Verlangen nach mehr. Geschwindigkeit wird zur Sucht. Auf der Strecke bleibt der Reiz des Reisens. Keine saftigen Weiden, kein schmuckes Dorf, keine städtischen Hinterhöfe, die am Abteilfenster vorbeiziehen. Der Blick aus dem Zug endet an Lärmschutzwänden, an frisch angelegten Böschungen, im Dunkel der Tunnel.

Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Niemand wollte es, niemand könnte es. Wohl aber kann jeder einen Blick in die Vergangenheit werfen. Wie Peter Borscheid es tat. Der Wirtschaftshistoriker an der Universität Marburg hat sich seine Gedanken gemacht über das Tempo-Virus und die Kulturgeschichte der Beschleunigung.

"Für mich war sehr einleuchtend gewesen, Ende des 19. Jahrhunderts, wo zwei Systeme aufeinanderprallen. Das eine war der Arbeitersport, ... das war das Zusammenleben, das war eine ästhetische Form, Menschenpyramiden zu bauen oder parallel an zehn Barren zu schwingen. Daneben entwickelte sich der moderne Sport, der aus England kam, der Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen fasziniert hat. Rudern, Schwimmen, Eisschnelllaufen und vor allem der Radsport, der der erste Geschwindigkeitssport überhaupt war. Diese Sportarten und dann die Leichtathletik haben diesen Kraftsport in den Arbeitersportvereinen total an den Rand gedrückt. Da ist kaum noch einer hingegangen, alle sind in die Stadien gegangen und haben sich die Sprinter und Schwimmer angeschaut. Und dann vor allem nachher die Autorennfahrer."

Das Risiko fasziniert.

"Wo die Nähe des Todes im Zusammenhang mit hoher Geschwindigkeit erscheint, scheint man eine tiefere Frömmigkeit zu beobachten, als man sie unter den Kanzeln oder vor den Altären noch wahrzunehmen vermag",

schreibt Ernst Jünger. Der Geschwindigkeitsrausch als eigenständiger Wert, als Selbstzweck. Das war nicht immer so. Bevor Geschwindigkeit zentraler Eckpfeiler unserer Freizeitkultur wurde, diente sie zuallererst der Herrschaftssicherung.

Der siegreiche Feldherr hatte die besten Pferde, die größten Kanonen, die schnellsten Waffen. Die Holländer lösten die Hanse ab, ihre Segelschiffe waren schnittiger, unabhängiger von Windstärke und Windrichtung und zeichneten sich durch eine höhere Tragfähigkeit aus. Gutenbergs Maschine beschleunigte den Druckvorgang um das 300fache, der Mähdrescher den Dreschvorgang um das 100fache. Die Arbeiter, die in den Fordwerken am Fließband standen, bewegten sich nach Schichtende schnelleren Schrittes durch die Straßen Detroits.

Neben Henry Ford steht für den beschleunigten Arbeitsplatz noch ein zweiter Name: Der von Frederick W. Taylor, einem amerikanischen Ingenieur, der die Arbeitsvorgänge in ihre Einzelteile zerlegte und überflüssige Bewegungen und versteckte Pausen durch eine optimierte Organisation des Arbeitsprozesses eliminierte. Die "Rote Fahne" schrieb dazu:

"Mit Hilfe der Stoppuhr werden die geschwindesten Bewegungen bei den geschicktesten und geschmeidigsten Kollegen auf den Bruchteil einer Sekunde genau bemessen. Danach stellt man das Tempo des Bandes ein. Die meisten kommen nicht mit. Diejenigen, welche Forderungen zu stellen wagen, die verlangen, dass das Fließband sich ihrer Arbeitsfähigkeit, ihren abgearbeiteten Knochen anpassen müsse, nicht aber umgekehrt, sie werden an andere Arbeitsstellen versetzt und sind bald überflüssig und arbeitslos. Einige aber versuchen sich anzustrengen. Sie werden herausgenommen, zu Gruppen zusammengestellt und nun aus ihnen 'Musterbänder' hergestellt. Auf jene 'Musterbänder' mit den besonders gefügigen Arbeitern kann der Meister nun stets verweisen, wenn andere Arbeitsgruppen an den übrigen Bändern gegen das Tempo aufbegehren".

Der Taylorismus fand seinen Weg nach Deutschland - Peter Borscheid:

"Es sind entsprechende Institute gegründet worden, die alle unter der Vokabel Rationalisierung fungierten, Rationalisierungsinstitut der deutschen Wirtschaft, Normungsinstitute, die alle Bereiche des Lebens zu rationalisieren und zu normierensuchen, also DIN entsteht, Normierung der Suppenschlüssel, des Haushaltes, der Herdplatten, der Einweckringe. Mit der Weltwirtschaftskrise ist der Taylorismus dann wieder in Verruf geraten als Arbeitsplatzvernichter und von vielen abgelehnt worden von Literaten, Gewerkschaften und Arbeitervereinigungen, die gegen den Taylorismus vorgegangen sind."

Frederick Taylor, dieser Menscheningenieur, betrachtete sein Material nur als Kostenfaktor, und so entstand jenes Taylor-System, das die Menschenwürde des Arbeitenden außer acht ließ. Georg Glaser, proletarischer Schriftsteller in jener Zeit, packte sein ganzes Unverständnis in den Roman, den er 1932 schrieb und nach "Schluckebier", dem Protagonisten, benannte.

"Es war im Februar 1927. Das Jahr der Einführung des Fließbandes in den Betrieb der Fahrzeugwerke, in denen der kleine Schluckebier arbeitete. Er stand mit dem Gesicht gegen den Schleifer. Er stand, denn er bediente moderne Maschinen, bei denen man nicht sitzen konnte oder musste wie bei den Handschleifböcken. Acht Stunden am Fließband - das ist anstrengender als zehn Stunden an der Werkbank. Denn hier kann man verschiedene Bewegungen machen, bisweilen einige Minuten aussetzen. Jede Steigerung des Tempos des Fließbandes muss aber automatisch die Schnelligkeit der Arbeitsbewegungen steigern, somit mehr Kraft aus unseren Knochen herausziehen. Es war dieselbe Hölle wie an tausend anderen Tagen. Der alte Ronker hatte den gemeinsten Akkord und den größten Mut, wenn es galt, die Meinung zu sagen. Das erste hatte er, weil er das zweite hatte. Der dicke Zilonka war ruhig und sicher in seiner Arbeit; er war halb taub ..."

Ludwig Preller, seit 1926 Regierungsrat im Reichsarbeitsministerium und Chronist der Sozialpolitik in der Weimarer Republik notierte in jener Zeit:

"Auf das Arbeitserlebnis der breiten Arbeitsmassen konnten diese Wandlungen im Arbeitsprozess nicht ohne Rückwirkungen bleiben. Immer weitere Arbeitskreise wurden zu einer Arbeitsweise gedrängt, in der die Möglichkeit individueller Werk- oder Arbeitsfreude mehr und mehr eingeschränkt wurde".

Seit dem sind achtzig Jahre vergangen

"Mit der Geschwindigkeit, die wir im Produktionsprozess oder im Verkehrsbereich erleben, wird Geschwindigkeit für uns etwas Normales. Alle anderen, die langsam sind, sind von gestern, Hinterwäldler, Arbeitslose oder was auch immer und jetzt mehr und mehr alte Menschen, die diese Geschwindigkeit nicht mehr mitgehen brauchen. Sie haben einen Alltag, in dem nicht mehr alles auf Geschwindigkeit getrimmt ist. Sie kommen nicht mehr mit diesen Geschwindigkeitsmaschinen so oft in Berührung wie Computer am Arbeitsplatz oder Maschinen und so weiter."

Vielleicht haben Sie an dieser Stelle Lust, eine kleine Übung zu machen. Machen Sie es sich bequem. Lehnen Sie sich zurück oder legen Sie sich einfach hin. Schließen Sie die Augen und atmen Sie dreimal tief ein und aus, bevor Sie sich soviel Zeit, wie Sie möchten, nehmen, um über Achtsamkeit nachzudenken. Versuchen Sie dabei nicht, zu einem Ergebnis zu kommen. Entspannen Sie sich. Genießen Sie sich so, wie Sie sich jetzt fühlen, so wie Sie jetzt sind.

Arbeit war einst Fron und Plackerei. Heute will man sich durch sie selbst verwirklichen und übersieht dabei, wie die Arbeit zugleich immer tiefer in vormals geschützte Bereiche des Privaten dringt.

Individualisierte Arbeitsbeziehungen, Vertrauensarbeitszeiten oder Dezentralisierung von Verantwortung bergen im Arbeitsleben nicht nur ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sie sind auch hinterhältig wie ein Trojanisches Pferd:

Der Trend zur Selbstausbeutung bis hin zur Selbstschädigung ist zu beobachten, wo Freiberufler die Märkte nach Aufträgen abgrasen, Handelsreisende weisungsgebunden sind, Subunternehmer sich vertraglich an einen Auftraggeber binden oder Beschäftigte einfach nur Karriere machen wollen.

Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto komplexer und ungenierter sei der Zugriff auf menschliche Ressourcen geworden - eine These, die der Historiker Karl-Heinz Roth vertritt:

"Heute werden Bedürfnisse verinnerlicht. Es gibt neue Bedürfnisse nach Zeitsouveränität, ... es gibt das Bedürfnis nach selbstbestimmten Leben und Verwirklichung in der Arbeit. Das sind alles ernstzunehmende Veränderungen im Individualisierungsprozess der Gesellschaft, die auf das Selbstverständnis der Arbeit zurück gewirkt haben, die werden sehr hinterlistig subsumiert, ausgenutzt.

Es gibt psychologische und Managementstrategien, die darauf hinauslaufen, genau diese Motivationspotentiale zu aktivieren, dann haben Sie möglicherweise das Phänomen, das der Verinnerlichungsprozess noch weiter voranschreitet und die Mitarbeiter am Ende sagen, wir brauchen auch noch die 15-Prozent-Rendite als unser Unternehmensziel. Dann haben Sie eine noch radikalere, auswegslosere Situation."

Beschränkte sich in der Hochphase der industriellen Produktion die Arbeitsverausgabung auf körperliche Arbeiten, sind heute soziale Fähigkeiten, die kognitiven Kompetenzen, die emotionale Bindung an den Betrieb hinzugekommen.

Mit Erschöpfungszuständen und innerer Kündigung antworten die, die den forcierten Anforderungen am Arbeitsplatz nicht länger standhalten.

Diktat der Eile? Mangel an Ruhe? Tempowahn und Barbarei? Jedes Tempo hat seine Krankheit? Die Politik will neue Zeitmaßstäbe setzen zum Vorteil eines jeden Bürgers. Zeitpolitik setzt ein gewisses Maß an Zeitsouveränität voraus. Aber die Zeitsouveränität schwindet mit dem Grad der materiellen Absicherung. Zeit zu haben, kann auch deprimieren - wenn man ohne Arbeit ist und ohne Perspektive, Arbeit zu bekommen.

Auch die Demokratie benötigt Zeit; Mehrheitsentscheidungen sind immer Resultate langwieriger pluralistischer Willensbildungsprozesse. Beschleunigung ist ein demokratisches Ärgernis, während die globalisierte Ökonomie das gesellschaftliche Leben allein nach Kosten-Nutzen-Faktoren misst; der Druck auf die Politiker, schnelle Entscheidungen zu treffen, wächst.

Mückenberger: "Denken Sie nur an das schöne Buch von Momo von Michael Ende. Das ist ein Buch, das reagiert auf die Rationalisierung des Zeitgebrauchs. Da ist von Zeitdiebstahl die Rede, da sind die grauen Herren, die Zeitbanken errichten und die Zeit fremder Leute stehlen und sammeln. Und den Leuten selbst fehlt dann die Zeit."

Ulrich Mückenberger, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, Zeitforscher und Verfechter einer neuen Kategorie, der Zeitpolitik.

"Allerdings: die Zeitpolitik wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht massenhaft gelitten würde unter dem Zeitgebrauch und der Zeitgestaltung."

Die rationalisierte Form des Zeitgebrauchs dominiert unseren Alltag, strapaziert ihn über Maßen, ruiniert ihn mitunter. Einen wohlwollenderen Umgang mit der Zeit fordert Ulrich Mückenberger - Stichworte: gerechtere Zeitordnung, Zeitwohlstand, Zeitkultur der Toleranz und Vielfalt.

"Die Stadt ist in ihren Zeitgestaltungen an den mittelalten, motorisierten Mann angepasst. Es muss schnell gehen, das Auto hat Vorrang. Vielfalt bedeutet, das wir gucken, wer lebt überhaupt in einer solchen Stadt: Ausländer, Alte, Kinder. Eine Stadt braucht natürlich ein gutes und schnelles Verkehrssystem, aber es braucht Plätze, auf denen ein anderer Zeitrhythmus besteht, weil dort ein anderer Alltag gelebt wird."

2002 gründete sich in Berlin die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik. Mit dabei war Ulrich Mückenberger.

"Die Beschleunigung begradigt alle Unterschiede zwischen den Menschen und sagt, es muss schnell gehen, egal wie die Leute leben und sich bewegen können. Toleranz und Vielfalt als Gebot der Zeitpolitik will genau nicht alles unter einer Prämisse gerade gebügelt zu kriegen."

Auf stetes Wachstum sind Gesellschaft und Wirtschaft fixiert. Zeitpolitik kümmert sich hingegen um qualitative Momente der Zeit wie Liebe, Leben, Essen, um das Wohlsein, um die Kultur. Wachstumswahn und Zeitpolitik vertragen sich nicht, beide stehen in einem scheinbar unauflöslichen Spannungsverhältnis.

Der landläufigen Meinung, wonach die Zeit Privatsache sei, setzt die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik ein staatlich gestaltbares Modell entgegen: flexiblere Öffnungszeiten der Läden, Banken und Behörden; Zeitbüros als Koordinierungs- und Anlaufstellen; kein Zeitdruck in der Pflege alter und kranker Menschen; Teilzeit-Arbeit; die work-life-balance alleinerziehender Mütter.

"Wir haben aber auch Mitglieder, die im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig sind, die den Alltag von Kindern beobachten und merken, wie der Alltag dieser Kinder in Zeittakte reingerät, die eine Entfaltung der Kinder gar nicht mehr erlaubt. ... Da haben wir Leute, die sagen, das kann so nicht weitergehen."

Sie bleiben aufrecht stehen und heben beide Arme ausgestreckt nach vorn bis auf Schulterhöhe. Die geöffneten Handflächen zeigen nach oben. Während die Oberarme unbewegt bleiben, heben Sie die Unterarme, bis die Fingerspitzen Ihre Schultern berühren. Anschließend werden die Unterarme wieder in die vorherige horizontale Lage gebracht. Achten Sie auf die Bewegung Ihrer Ellbogengelenke. Wiederholen Sie die Übung bis zu 10-mal.

Gudrun Sahlender-Wulf: "Ich arbeite sehr viel mit essgestörten Jugendlichen - Stichwort Magersucht. Das sind hochintellektuelle und erfolgreiche Menschen im sportlichen wie im kognitiven Bereich. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, dass ... die viel zu früh gereift worden sind, dass die frühreif geworden sind."

Gudrun Sahlender Wulf, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin.

"Für mich war sehr hilfreich, die Bekanntschaft mit der Arbeit von Emmi Pikler, einer ungarischen Kinderärztin, die 1945 in Budapest ein Waisenhaus gegründet hat, was heute noch existiert; sie hat ein bahnbrechendes Buch geschrieben mit dem Titel 'Lass mir Zeit', da geht es um die eigenständige Bewegungsentwicklung."

Gudrun Sahlender-Wulf teilt sich ihre Praxis mit ihrem Mann Herbert; zu ihm kommen vor allem erwachsene Suchtkranke.

Beiden fiel in ihrer gemeinsamen therapeutischen Arbeit immer wieder auf, dass Störungsbilder bei Kindern wie Konzentrationsschwäche, Hyperaktivität, Essstörungen oder Aufmerksamkeits-Defizite auf dieselben Verhaltensmuster zurückzuführen seien wie das Suchtverhalten bei Erwachsenen: Beide, Kinder wie Erwachsene, flöhen aus ihrer Gegenwart, die sie als nicht befriedigend erlebten.

Gudrun Sahlender-Wulf: "Das Krabbeln ist immens wichtig, dass man das Kind nicht auffordert, zu schnell in die Aufrechte zu kommen. Das hat ganz entscheidende Folgen, wenn das passiert. Dass man dem Kind Zeit lässt und Vertrauen darauf hat, dass es zu seiner Zeit und in seinem Tempo schon ganz richtig machen wird."

Herbert Sahlender-Wulf: "Vielleicht eine Ergänzung dazu. Es geht um die Entwicklung im Hier und Jetzt, das hat was mit der Gegenwart zu tun. Wenn das in frühen Jahren nicht Zeit und Raum gehabt hat, dann tragen wir in der Sucht die Spätfolgen aus. ...Andererseits kann ich nur in der Gegenwart Erfahrungen der Autonomie machen. Nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. ....Frühgeförderte Kinder sind im Heranwachsen Kinder, die beschleunigt worden sind, die zu ihrer Zeit nicht ihre Zeit hatten, nicht in Ruhe gelassen wurden. ... Und sie kommen nicht in Ruhe zu sich selber, was eigentlich die Voraussetzung für die Autonomieentwicklung ist."

Wer an sich glaubt, vermag die Gegenwart zu genießen. Wer sich aber im Hier und Jetzt unsicher und nicht geborgen fühlt, hat Angst vor dem, was auf ihn zukommt. Angst ebnet den Weg in die Sucht. Im Rauschzustand verflüchtigt sich das Gefühl der Bedrohung kurzzeitig.

Was aber ist zu tun? Gar nicht viel, antwortet das Psychologenpaar. Je autonomer sich ein Kind entwickeln könne, je mehr Zeit man es ihm gebe in seiner Entwicklung, desto besser sei dieses Kind im Erwachsenenalter vor Süchten gefeit.

Gudrun Sahlender-Wulf: "Frühförderung: Das ist schon so ein Machertum, da ist einer, der was machen muss, und einer der Empfänger ist. Das zeigt auch von wenig Respekt dem Kind gegenüber. Damit will ich nicht gegen Frühförderung sprechen. Es gibt unendlich viele Kinder, die das brauchen. Aber wenn sie das brauchen, dann ist vorher schon etwas schief gelaufen."

Gudrun Sahlender-Wulf: "Frühförderung ist ein Begriff, der auf die Zukunft weist, es geht nicht um die Gegenwart. Ich muss also etwas früh fördern, damit ich irgendwann etwas erreiche - möglichst früh im Kindergarten anfangen mit Englisch. Das heißt, ich bin nicht in der Gegenwart des Kindes. ... Eigentlich ist das Wort Frühförderung ein Hinweis auf die Beschleunigungsgesellschaft. Beschleunigung heißt, raus aus der Gegenwart - schneller, höher, weiter. Diese Steigerung der Dosis ist dann das Prinzip der Sucht. Da geht es auch um die Steigerung der Dosis."

Der Slogan "Kinder stark machen" stößt bei Gudrun Sahlender-Wulf auf Protest. Kinder seien von Natur aus stark, es sei denn, sie seien schwach gemacht worden.

Ein Gräuel sind der Psychologin aus Oldenburg großrädrige Kinderwagen, die joggende Eltern über Stock und Stein schieben und nicht merken, wie auf den sichtlich verstörten Nachwuchs die ganze Welt einstürzt.

In guter Absicht tragen Mütter ihre Säuglinge in Tragetüchern - mit dem Gesicht nach vorne.

Den Kleinkindern werde die Zeit geraubt, sich auf Bewegungsabläufe und Geschwindigkeitswahrnehmungen altersgerecht einzulassen. Die Gegenwart empfänden sie als unbefriedigend.

Gudrun Sahlender-Wulf: "Ich weiß gerade nicht, wie diese Fahrradanhänger heißen, wo Kinder scheinbar selber fahren können. Es ist aber nicht autonom, es ist in der Regel ein Tempo, das vorgegeben wird. Oft sind die Väter ganz stolz, wenn sie mit ihren Jungs da so fix lang fahren. Aber wenn das Kind dann tatsächlich anfängt, selber Fahrrad zu fahren, ist es gewohnt an dieses Tempo des Vaters und es wird enttäuscht sein von seiner eigenen, nun im Verhältnis dazu geringeren Leistung."

Jedes Alter hat sein spezifisches Zeitbewusstsein. Werden Bewegungsabläufe "gepusht", gehen Geborgenheit und Sicherheit verloren, Ängste bleiben.

Kinder zu achten und sie ernst zu nehmen, heißt, ihnen die Zeit zu geben, die Welt für sich zu entdecken, und sich selbst die Zeit zu nehmen, sie dabei zu beobachten. Zeitnot in der Kindheit, resümieren Gudrun Sahlender-Wulf und ihr Ehemann Herbert, münde häufig in psychische Auffälligkeiten.

Eine zu früh einsetzende, rationale und zielgerichtete Erziehung ziehe dem Kind den Boden unter den Füßen weg. Suchterkrankungen im Erwachsenenalter interpretieren sie als Versuch, dieser Zeitnot zu entfliehen.

Über die Fortschrittsskeptiker von 1835, die meinten, die hohe Geschwindigkeit der Eisenbahn würden die Fahrgäste um ihren Verstand bringen, rümpfen die beiden jedenfalls nicht die Nase.

Sie: "Nee, überhaupt nicht."
Er: "Wir haben uns zwar daran gewöhnt an die Geschwindigkeit, ... aber die Indianer haben ja noch immer diese Haltung, dass sie sich hinsetzen müssen, bis ihre eigene Seele hinterherkommt. 1835 lag die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 18 oder 25 km/h, aber die Idee der Befürchtung, dass uns da irgend etwas abhanden kommt, ist aktueller denn je."

So ist das also mit der überstürzten Eile. Sie macht uns nicht glücklich. Aber mit weniger geben wir uns ja nicht zufrieden. Es muss mehr sein, immer mehr, immer schneller, höher, weiter. Der Wachstumswahn hypnotisiert den gesunden Menschenverstand. Oder ist es der menschlichen Intelligenz und dem rationalen Anspruch der Aufklärung geschuldet, dass nichts unerforscht und unbeantwortet bleiben darf, dass jede Generation die vorherige überflügeln will? Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit, sagen Menschen, die von außen auf die industrialisierten Gesellschaften gucken und über unseren Zeittakt den Kopf schütteln.
Arbeiterin am Fließband
Arbeiterin am Fließband© AP
Blick auf eine viel befahrene Autobahn bei Nacht
Der Tempowahn diktiert das moderne Leben.© Stock.XCHNG / Petr Pokorny
Skater mit Kinderwagen
Zu schnell für das individuelle Wahrnehmen der Kinder: Skater mit Kinderwagen© AP