Jeder verliert

26.09.2013
Massimo Carlotto ist ein italienischer Krimiautor. Einst war er Mitglied einer militanten linken Vereinigung und geriet in die Mühlen der italienischen Justiz. Nach seiner Freilassung wurde er Schriftsteller. In seinem neusten Buch geht es um die russische Mafia in Marseille.
Es geht zur Sache in diesem Buch, und zwar rasant. Russische Mafiosi springen im Dutzendpack über die Klinge, womit sich der Ziehsohn eines großen Bosses das Vertrauen des Geheimdienstes erkauft und nach Marseille geschickt wird. Hier muss er einer eiskalten Agentin gehorchen, aber Sosim verfolgt insgeheim eigene Pläne und greift als Investor der darbenden Bauwirtschaft unter die Arme.

In Paraguay hetzt ein junger Mann diverse Clans aufeinander, wird selbst zum Gejagten und landet ebenfalls in der südfranzösischen Hafenstadt. Die sagenumwobene Kommissarin Bernadette Bourdet – lesbisch, hässlich, unorthodox in ihren Methoden – nimmt den Latino unter ihre Fittiche und weist ihn an, sich die Unterwelt des 13. Arrondissements unter den Nagel zu reißen. Sie hat korrupte Lokalpolitiker im Visier, an denen sie sich schon seit Langem die Zähne ausbeißt. Unterdessen drehen Sosim und seine Verschworenen, Sprösslinge aus Unternehmerfamilien, am ganz großen Rad, suchen Zugang zu eben jener verkommenen Politbranche und etablieren sich im Organhandel und Giftmüllvertrieb.

Es geht Schlag auf Schlag. Schauplätze, Allianzen, Verbündete, Identitäten, riesige Geldmengen, alles ist in Bewegung: Eindrucksvoll beweist Massimo Carlotto, Jahrgang 1956 und einer der renommiertesten Krimiautoren Italiens, dass er sein Geschäft versteht und mindestens ebenso schnell feuert wie seine Helden. Rhythmus, Figuren, Zuspitzungen, alles stimmt. Und: Am Ende hat in seinem neuen Roman jeder verloren, nur das System hat Bestand.

In "Die Marseille Connection" leuchtet Carlotto die Grauzone zwischen legaler und illegaler Wirtschaft aus und zeigt, wie mafiotische Vereinigungen von der Globalisierung profitieren und staatliche Strukturen längst für eigene Zwecke nutzen. Er ist dicht dran an realen Begebenheiten und zeichnet die Folgen der Finanzkrise nach: Kapital, egal welchen Ursprungs, ist noch gefragter als sonst. Die Syndikate funktionieren ähnlich wie multinationale Konzerne und operieren nach dem Muster des Turbo-Kapitalismus. Wer nicht spurt, wird eliminiert, die effizienteste "Firma" setzt sich durch. Nach Carlottos Diagnose sind kriminelle Machenschaften längst zentraler Bestandteil der globalen Wirtschaftsbeziehungen und werden politisch instrumentalisiert.

Dieser Schriftsteller ist nicht nur als Rechercheur mit allen Wassern gewaschen. Schließlich zählt sein Schicksal zu den spektakulärsten Fällen der italienischen Justizgeschichte, bei dem eine komplizierte Faktenlage, Terrorismus-Hysterie und schlichte Unfähigkeit der Behörden eine Rolle spielten. Elf Prozesse und sechs Jahre Gefängnis brachte der Autor hinter sich, 86 Richter und 50 Gutachter waren mit dem Caso Carlotto befasst, dessen Akten 96 Kilo wiegen und mehrere Kisten füllen. Nach vielen Jahren im Ausland, einem langwierigen juristischen Hin und Her wurde er 1993 vom damaligen Staatspräsidenten Scalfaro begnadigt. Vielleicht machen ihn diese Erfahrungen so unerschrocken in seiner Wahrnehmung, so präzise in seinen Schilderungen. "Die Marseille Connection" auf jeden Fall ist beste Genreliteratur.

Besprochen von Maike Albath

Massimo Carlotto: Die Marseille Connection
Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Tropen, Stuttgart 2013
239 Seiten, 18,95 Euro
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