Jeder ist Staat

Rezensiert von Florian Felix Weyh · 16.12.2007
"Was bedeutet Souveränität?", nennt Ulrich Haltern, Staats- und Völkerrechtler an der Universität Hannover, seine überaus gehaltvolle Denkschrift, deren intellektuelle Gewissenhaftigkeit sich schon im Titel offenbart. Der lautet nämlich nicht "Was <em>ist</em> Souveränität?" und verspräche damit eine passgenaue Definition, sondern beschreibt die Vorgehensweise, mannigfaltige versteckte Erscheinungsformen staatlicher Souveränität ans Tageslicht zu befördern.
"Die Exzesse eines körperschaftlichen, sinngeladenen und erotischen Begriffs des Politischen, der im Konzept der Souveränität kondensiert, hatten sich als physisch und moralisch verheerend herausgestellt ..." (S. 100)

... fasst Ulrich Haltern das Empfinden der Deutschen nach 1945 zusammen:

"Die Realpräsenz des Sakralen, die zuvor ehrfürchtiges Schaudern ausgelöst hatte, entpuppt sich als die Realpräsenz des ultimativen Bösen, die im Rückblick nur noch angeekelte Erschütterung auslöst. ( ... ) Im Nationalsozialismus schien sich der verborgene Gott zu materialisieren; doch er ist der leibhaftige Satan." (S. 62)

Der Topos hatte sich erledigt, man redete nicht mehr darüber. Allein der Begriff "Souveränität" erschien derart verschmittst, also mit einem nicht eben tiefgründigen Satz des verpönten Carl S. unauflöslich verklammert, dass über den Rest - blieb da ein Rest? - Philosophie, Politologie und Rechtskunde schamvoll schwiegen. Doch, da bleibt ein Rest, ein erheblicher sogar:

"Moderne Staaten haben sich der Könige entledigt, aber nicht der Souveränität. Stattdessen ist der Körper des Königs demokratisiert worden. Der corpus mysticum des Staates ist nun der Volkssouverän, der die Attribute des Königs übernommen hat: Zeitlosigkeit, Omnipräsenz und Omnipotenz." (S. 40)

"Was bedeutet Souveränität?", nennt Ulrich Haltern, Staats- und Völkerrechtler an der Universität Hannover, seine überaus gehaltvolle Denkschrift, deren intellektuelle Gewissenhaftigkeit sich schon im Titel offenbart. Der lautet nämlich nicht "Was ist Souveränität?" und verspräche damit eine passgenaue Definition, sondern beschreibt die Vorgehensweise, mannigfaltige versteckte Erscheinungsformen staatlicher Souveränität ans Tageslicht zu befördern.

Auch heute noch kommt kein Staat der Welt ohne einen absoluten Dreh- und Angelpunkt aus, von dem her sich das Gesellschaftsgefüge mitsamt seiner rechtlichen Regeln definiert. Während neun Zehntel der zivilisierten Menschheitsgeschichte lag dieser Dreh- und Angelpunkt im religiösen Raum, und als sich die Religion aus Recht und Politik zurückzog, schloss sich nicht automatisch das Vakuum, das sie hinterließ. Auch wenn man ihn gut kaschiert, bleibt der Verlust ein energetisch gefährliches Phänomen, dessen Sogkraft die betreffenden Gesellschaften durch Implosion bedroht. Denn:

"Man kann sich nicht durch logische Argumente von der Welt zu Gott hangeln; ebenso wenig kann man sich vom geschriebenen Buchstaben zum Volkssouverän hangeln. Der hierfür notwendige Glaube ist Teil der politischen Identität." (S. 41 f.)

Im Alltag sind wir alle buchstabengläubig, haben das Wesen des Rechtsstaats als feingliedriges, relatives Verweissystem in uns aufgenommen und scheren uns wenig um dessen unsichtbare Fundamente. Sie bestehen immer noch aus Glauben an ein Absolutum: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - der erste Satz unserer Verfassung bereits erweist sich als Kronzeuge des alten Souveränitätsbegriffs: Da wohnt etwas unverhandelbar Verbindliches hinter dem verhandelbaren positiven Recht.

Wenn die politische Identität in den glaubenslosen Gesellschaften Westeuropas nun aber immer noch Bestandteile dieser Art aufweist, sich das Politische samt seiner Handlungsmotive also nicht restlos in kantianische Rationalität auflösen lässt, dann ist es nicht nur redlich, sondern eine Frage der Vernunft, dies zu thematisieren. Weil es nämlich unvernünftig wäre, das Nicht-Vernünftige zu übergehen.

"Dies zu beschreiben ist keine konservative Revolution im Geiste demokratie- und liberalismusfeindlicher Gegenrede." (S. 114)

... wehrt Ulrich Haltern falsche Verortungen seines Essays vorsorglich ab. Er beschreibt. Er beschreibt ohne Furcht, wie das theologisch abgesicherte monarchische System durch die im Kern nicht minder irrationale Französische Revolution zu Fall gebracht wurde, die eine verblüffende strukturelle Ähnlichkeit zur christlichen Verkündigung aufweist:

"Revolution und Offenbarung ( ... ) berufen sich nicht auf die Vergangenheit, sondern ausschließlich auf Wahrheitspostulate, die Gegenstand eines Glaubens sind." (S. 33)

Das seither praktizierte Konzept vom Volkssouverän, das mehr ist als nur ein frei verhandelbarer Gesellschaftsvertrag, nämlich auch die Pflicht zur Opferung bis hin zu der des eigenen Lebens umfasst, dieses Konzept hat den König beerbt.

"Opferbereitschaft entspringt, wie man seit der Geschichte von Abraham und Isaak weiß, dem Glauben, nicht dem Vertrag oder dem Interesse." (S. 90)

Wir sind als Bürger auch deswegen Souveräne unseres Staates, weil sich der über unser individuelles Leben hinaus immer wieder erneuert. So gesehen erscheint Volkssouveränität sogar einleuchtender als das mühsame Konstrukt der "beiden Körper", mit denen frühere Theoretiker die Unsterblichkeit des Staates gegenüber der Sterblichkeit des Monarchen rechtfertigten; neben dem biologischen Königskörper gab es immer auch einen metaphysischen Leib, der sich in der Erbfolge wiederbelebte.

Aber Ulrich Haltern beschreibt nicht nur, er denkt auch selber, kantianisch unerschrocken. Als Völkerrechtler stößt er auf die schmerzliche Folgerichtigkeit, dass Volkssouveränität Konflikte entgrenzt und grausamer macht:

"Heute ist der Körper des Königs unter das Volk verteilt; das Wesen des Staates ist im Körper des Volkssouveräns verkörpert. Ein Angriff auf das Wesen des Staates schließt daher die Bevölkerung mit ein. Jeder Staat und jeder Terrorist versteht diese Logik." (S. 84 f.)

Ebenso logisch ist auch der Gedanke, dass bei Preisgabe des alten metaphysischen und damit unverhandelbaren Souveränitätsbegriffs der Markt mit seiner Beweglichkeit, Austauschbarkeit und Haltlosigkeit in die Politik einzieht. Stichwort Menschenwürde:

"Ein abwägbarer Art. 1 GG entlässt den Rest Heiligkeit aus unserem konstituierenden Text und nähert unsere politische Gemeinschaft dem Markt an. Dies ist die sich selbst einholende Reformation." (S. 75)

Nicht zufällig taucht hier der theologische Begriff der "Reformation" auf - Ulrich Haltern unterscheidet zwischen katholisch und protestantisch geprägter Souveränität, letztere textgläubig und in Hermeneutik verliebt, erstere symbolversessen und glaubenstief. Wie sich beide Konzepte in der Moderne verwirklichen, und welchen Preis man jeweils dafür bezahlt, führt der Hannoveraner Staatsrechtler luzide und schlüssig aus.

Derart Fundamentales hat man lange nicht mehr aus juristischen Gefilden vernommen. Anregend, klug und obendrein noch flüssig lesbar. Ein Vademecum aus dem Legitimationsnebel zeitgenössischer Politik.


Ulrich Haltern: Was bedeutet Souveränität?
Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 136 Seiten, 34 Euro