Jeder Hungertote ist eine "inakzeptable Tragödie"

Jean Ziegler im Gespräch mit Andre Zantow · 17.11.2012
Die Weltlandwirtschaft sei inzwischen in der Lage, zwölf Milliarden Menschen zu ernähren, sagt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. Die Ausrichtung der Großkonzerne auf Profitmaximierung sowie Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel und Agrardumping verhindern dies aber.
Deutschlandradio Kultur: Im Studio begrüßt Sie Andre Zantow mit einem Gast, dessen Lebensaufgabe es ist, Tacheles zu sprechen. Dabei schießt er oft über das Ziel hinaus, aber selten daneben. So sagt er es selbst. Jean Ziegler, willkommen.
Jean Ziegler: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind Schweizer, Sie sind Soziologieprofessor. Das sind erst mal keine Gründe, Sie zu verklagen. Aber trotzdem ist es häufig passiert wegen der Dinge, die Sie geschrieben haben. Für alle, die Sie nicht kennen, haben wir deshalb statt eines Lebenslaufs ein paar Zitate von Ihnen zusammengestellt.

"Ohne die Schweizer Banken wäre der Zweite Weltkrieg früher zu Ende gegangen. Dessen astronomische Kriegsgewinne begründen auch ihre internationale Macht."

"Jeder siebte Milliardär der Welt lebt in der Schweiz, aber wir haben Zustände wie in Bangladesch. Drei Prozent der Einwohner besitzen so viel wie die restlichen 97 Prozent."

"Hunger ist ein organisiertes Verbrechen. Die Weltlandwirtschaft könnte heute zwölf Milliarden Menschen normal ernähren. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet."

Deutschlandradio Kultur: Drastische Worte von Jean Ziegler. Sie haben mehr als 20 Bücher geschrieben. Einige davon haben Ihnen bis heute Schulden in Millionenhöhe eingebracht, weil Sie verklagt wurden. Zum Beispiel haben Sie in einem Buch über die Schweizer Finanzbranche einen Anwalt namentlich als "Geier" bezeichnet. Wie ist es jetzt beim aktuellen Buch mit dem Titel "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt"? Gab’s da auch schon Post vom Anwalt?

Jean Ziegler: Ja, das Buch "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt" ist eigentlich mein Erlebnisbericht als der erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Die deutsche Ausgabe liegt hier vor. Die französische Originalausgabe wurde schon eingeklagt von zwei Banken und einem Nahrungsmittelkonzern. Aber glücklicherweise habe ich die UNO-Immunität. Früher, als ich diese neun Prozesse hatte, die mich ja fast erstickt und liquidiert haben, da wurde einfach meine parlamentarische Immunität aufgehoben im Eidgenössischen Parlament in Bern. Ich war Abgeordneter von Genf in Bern. Und da kam die Prozesslawine.

Jetzt müssen diese Wegelagerer, die großen Konzerne und Banken nach Den Haag gehen zum Internationalen Gerichtshof. Und da kommen sie wahrscheinlich nicht durch. Deshalb ist die deutsche Ausgabe jetzt immer noch dieselbe wie die französische Originalausgabe.

Deutschlandradio Kultur: Ihre Erfahrungen als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung haben Sie in diesem Buch geschildert. Von 2000 bis 2008 waren Sie weltweit unterwegs. Was haben Sie da erlebt?

Jean Ziegler: Die Massenvernichtung von Millionen von Menschen auf unserem Planeten durch Hunger, durch Hungerkrankheit, durch schwerste permanente Unterernährung, ist der Skandal unserer Zeit. Ich gebe Ihnen ganz schnell einige Zahlen.

Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57.000 Menschen verhungern jeden Tag. Und eine Milliarde Menschen von den sieben, die wir sind, sind permanent schwer unterernährt. Und derselbe Welt-Food-Report der Vereinten Nationen, der die Opferzahlen gibt, die von niemandem bestritten sind, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Entwicklungsphase – das war anders vor hundert Jahren – zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Zum ersten Mal, zu Beginn dieses Jahrtausends gibt es auf diesem Planeten keinen objektiven Mangel mehr. Ein Kind, das jetzt, wo wir reden, am Hunger stirbt, wird ermordet.

Deutschlandradio Kultur: Das sind die Zahlen. Was haben Sie denn auf Ihren Reisen erlebt?

Jean Ziegler: Der Erlebnisbericht, dieses Buch "Wir lassen sie verhungern", ist dreifach, wenn Sie so wollen. Einerseits kann ich endlich sagen, wer die Halunken sind. Ich muss ja nicht mehr mit den Weltbankdirektoren, mit korrupten Staatspräsidenten oder Konzernmogulen weiter verhandeln. Jetzt habe ich an der UNO einen anderen Posten, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats. Ich kann sagen, wer die Halunken sind. Da werde ich gleich ein Beispiel geben. Und dann trotz des pessimistischen Titels "Wir lassen sie verhungern" ist es ein Buch der Hoffnung. Ich sage, wie der Kampf gegen den Hunger in den demokratischen Staaten gewonnen werden könnte.

Jetzt nehme ich das Beispiel: Auf der Sierra de Joctocán in Guatemala, zehn Millionen Einwohner, sind in dem Jahr, wo ich diese Mission in Guatemala gemacht habe, 92.000 Kinder verhungert. Die amerikanischen Großgrundbesitzgesellschaften De Monte und so weiter und die einheimischen Kaffeegroßgrundbesitzer beherrschen über 70 Prozent des Bodens. Und die Maya-Bauern sind verjagt auf 2.000 Meter Höhe, ganz kärglicher Äcker.

Da komme ich an mit dem weißen Toyota der UNO mit der blauen Fahne, mit den Sicherheitsbeamten, mit meinen Mitarbeitern, mit den Maya-Dolmetschern und so weiter. Fünf Tage lang rede ich, versuche die Situation zu begreifen, mit diesen ausgemergelten Bauern zu reden, Frauen, die mit 30 aussehen, als ob sie 80 wären, Männer, die mit 25 überhaupt keine Zähne haben, Kinder mit ausgemergelten zündholzdünnen Beinen, aber wunderbaren Augen. Und dann sehe ich plötzlich nach drei Tagen ungefähr Hoffnung in den Augen dieser Menschen.

Deutschlandradio Kultur: Warum?

Jean Ziegler: Die haben zwar keine Ahnung, was die UNO ist, aber da kommt ein Weißer mit all diesen Autos, mit diesem ganzen UNO-Tross. Das muss ein mächtiger Mann sein. Deshalb plötzlich die Hoffnung, es wird etwas für uns enden. Und in dem Moment, wo ich die Hoffnung in den Augen sehe, den schönen schwarzen Augen dieser Maya-Frauen sehe, weiß ich, dass ich sie verrate. Weil, ich weiß genau, was passieren wird bei der UNO in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat.

Drei Monate später präsentiere ich ja meine Empfehlungen, meinen Bericht über Guatemala. Die erste Forderung natürlich ist Landreform in diesem Land der Massenvernichtung durch Hunger. Und die wird abgeschmettert von amerikanischen, deutschen, von den westlichen Botschaftern. Die argumentieren wie die Großkonzerne. Das sind einfach Befehlsübermittler diese Diplomaten. Das Einzige, was ich in Guatemala erreicht habe, ist, dass die Weltbank jetzt vier Helikopter bezahlt, damit endlich eine topographische Erhebung gemacht wird, ein Grundbuch gemacht werden kann und dann vielleicht im Jahr 3000 gibt es dann einmal eine Agrarreform.

Deutschlandradio Kultur: Aber man könnte ja sogar sagen, dass schon etwas passiert ist. Über die Unternehmen sprechen wir auch gleich noch. Aber erst noch mal zur Einordnung: Sie haben es gesagt, die UNO spricht von einer Milliarde Menschen, die unter Hunger leiden. Jeder siebte Mensch ist das. Aber, wenn man sich die Zahlen mal anguckt, die Weltbevölkerung wächst noch stärker, noch schneller. Und somit sinkt der Anteil der hungernden Menschen an der Weltbevölkerung leicht. Das heißt, es ist doch eigentlich eine positive Entwicklung.

Jean Ziegler: Nein. Entschuldigung. Sie haben Recht, die Frage ist total berechtigt. Es stimmt, wenn man die Statistik anschaut, dass relativ zur Weltbevölkerung die Hungerkurve sinkt. Die demographische Kurve steigt schnell.

Aber ich gebe Ihnen eine Zahl: Die Menschheit verliert etwa ein Prozent ihrer Substanz jedes Jahr. Wir sind sieben Milliarden. 70 Millionen Menschen verlassen diesen Planeten, alle Todesopfer zusammengenommen, in einem Jahr. Letztes Jahr sind am Hunger 18,2 Millionen Menschen gestorben auf diesem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Also, der Hunger ist heute bei Weitem die schlimmste, brutalste, bedeutsamste Todesursache. Und in absoluten Zahlen steigen die Hungeropfer. Nur in der relativen Zahl zur Weltbevölkerung, wie Sie richtig gesagt haben, sinkt die Kurve. Aber jeder Hungertote – und weiß Gott, in meinen acht Jahren als Sonderberichtserstatter habe ich in der Mongolei, in Niger, in Bangladesch, in Karatschi, in den Kanisterstädten Menschen gesehen, die gestorben sind – nicht Tausende, aber genug für mich. Und dieser Alptraum begleitet mich.

Und jeder Mensch, jedes Kind, das am Hunger stirbt, und es ist ein fürchterlicher Tod, es ist nicht ein langsames Verlöschen, wie man häufig meint, ist eine individuelle singuläre total inakzeptable Tragödie.

Deutschlandradio Kultur: Verantwortlich sind, das haben Sie auch schon angesprochen, für Sie vor allen Dingen auch Unternehmen, Konzerne. Sie sprechen in Ihrem Buch von einer Art konspirativem Zirkel, wenigen Konzernen in den verschiedenen Agrarmärkten, zum Beispiel beim Saatgut. Und diese Unternehmen bestimmen dann die Preise, verknappen das Angebot. Aber dürfen da nicht auch Agrarkonzerne nach Gewinn streben?

Jean Ziegler: Das ist natürlich eine interessante Frage. Dieses Faktum, das Sie angesprochen haben, ist folgendes. Das beschreibe ich in meinem Buch ganz präzise. Und die Anwälte haben das auch durchgehen lassen. Die zehn größten Agrarkonzerne, Nahrungsmittelkonzerne der Welt kontrollieren etwa 85 Prozent der gehandelten Grundnahrungsmittel. Grundnahrungsmittel sind Mais, Reis, Getreide. Die decken 75 Prozent des Weltkonsums. Und diese Konzernmogule entscheiden jeden Tag, wer isst und wer lebt auf diesem Planeten, wer hungert und wer stirbt. Die funktionieren nach Profitmaximierung. Das ist ganz normal im Dschungelkapitalismus, in dem wir leben, in dieser kannibalischen Weltordnung. Das ist ganz normal. Ich sage es noch einmal. Ich habe genug Prozesse im Haus gehabt. Es ist auch legal. Aber es ist mörderisch. Und es handelt sich nicht um psychologische Bosheit oder so. Es geht nicht darum, der Direktor von Caritas ist ein guter Mensch und der Präsident von Cargill ist ein schlechter Mensch.

Ich gebe ein Beispiel: Der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt ist Nestlé. Der wird geführt von einem Mann, einem Österreicher. Der heißt Peter Brabeck-Letmathe, Präsident von Nestlé. Das scheint ein eher zivilisierter Mensch zu sein, kann Lesen und Schreiben. Ich kreuze ihn beim Skifahren in den Hochsavoyen hin und wieder. Aber wenn der nicht den Shareholder Value, also die Rendite auf Kapital, um soundso viel Prozent heraufjagt jedes Jahr, dann ist er eben nach drei Monaten nicht mehr Präsident von Nestlé. Also, die kannibalische Weltordnung wird beherrscht, also, diese Weltdiktatur der Finanzoligarchien, durch eine strukturelle Gewalt.

Deutschlandradio Kultur: Aber diese Funktionsweise können wir auch noch mal ein bisschen konkreter machen. Sie haben auch einen anderen Konzern angesprochen, Cargill, ein internationaler Getreidehändler. Und Sie schreiben, dass der überall auf der Welt Silos hat und dort Getreide hortet und dann wartet bis die Preise entsprechend gestiegen sind und erst dann das Getreide auch verkauft.
Ist das nicht aber das Recht des Unternehmens so zu entscheiden?

Jean Ziegler: Ja, natürlich, absolut. Und die neoliberale Wahnidee unterstützt ja ideologisch noch diese Tätigkeit. Ein Konzern ist da, um Profit zu machen und für gar nichts anderes, anstatt den Hunger in der Welt zu bekämpfen.

Aber wir, die freien Bürger, Deutschland ist die lebendigste Demokratie dieses Kontinents und die dritte Wirtschaftsmacht der Welt, also wir, die Menschen – ich bin ja aus der Schweiz, da ist die Demokratie ein wenig komplexer und schwächer und korrupter als in Deutschland –, aber in Deutschland sind die Bürger verantwortlich, dass diese Konzernherrschaft gebrochen wird, dass die Grundnahrungsmittelspekulation an den Börsen verboten wird, dass die Agrartreibstoffe, die hergestellt werden mit Millionen von Tonnen von verbranntem Mais und Getreide, verboten wird. Und das können wir tun.

Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir uns doch mal ein Beispiel, Herr Ziegler. Sie haben die Konzerne angesprochen. Auch in Deutschland gibt es Unternehmen, die nichts mit Nahrungsmitteln zu tun haben, aber damit spekulieren. Und große deutsche Spieler auf den Rohstoffbörsen sind zum Beispiel die Allianz oder die Deutsche Bank.

Ich nehme mal an, Sie würden sich keine Allianz-Versicherung zulegen. Warum nicht, Herr Ziegler?

Jean Ziegler: Also, Sie haben absolut Recht mit dieser Frage. Einer der mörderischsten Mechanismen, die für die Massenvernichtung von Millionen Menschen in der Dritten Welt verantwortlich sind, ist ganz sicher die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Die wiederum ist total legal. Sie wissen, was geschehen ist 2007, 2008. Der internationale Bankenbanditismus hat 85.000 Milliarden Dollar Vermögenswerte auf den Finanzmärkten ruiniert. Und jetzt sind die großen Hedgefonds, die Großbanken, die Großspekulanten mehrheitlich umgestiegen auf die Rohstoffbörsen und dort mehrheitlich auf die Agrarrohstoffbörsen.

Goldmann-Sachs zum Beispiel offeriert schon wieder den Investoren Derivate, aber nicht mehr auf Immobilienpapiere, sondern auf Reis, Soja, Zucker, Getreide und Mais – total legal machen diese Spekulanten, eben die Allianz oder die Deutsche Bank, astronomische Profite. Mais ist um 63 Prozent in weniger als acht Monaten gestiegen. Die Tonne Weizen hat sich verdoppelt. Und die Tonne philippinischen Reises ist von 110 auf 1200 Dollar in zwölf Monaten gestiegen.

Deutschlandradio Kultur: Das verteuert die Preise auch auf dem Weltmarkt für Entwicklungsländer, für Menschen, die dort Reis kaufen möchten. Aber ist es denn die Lösung, Spekulationen mit Agrarprodukten komplett zu verbieten?

Jean Ziegler: Jetzt müssen wir ganz präzise sein. Einerseits haben Sie Recht zu sagen, einerseits astronomische Profite, legale astronomische Profite der Hedgefonds, der Börsenspekulanten auf Grundnahrungsmittel.

Ich gebe ein Beispiel: Ich bin kürzlich auf einer Mission für die UNO in Bolivien gewesen. Da kommt man auf 4.200 Metern an. Da bleibe ich noch drei, vier Tage in Lima. Und in Lima kenne ich eine Kanisterstadt, also einen Slum, wo ich Bekannte, sogar Freunde habe. Bei Sonnenuntergang stehen da die Mütter vor dem Reisdepot an. Keine einzige dieser Frauen hat auch nur ein halbes Kilo Reis gekauft. Alle haben Reis gekauft in Pappbechern, weil der Preis explodiert ist. Dann geht die Frau, die Mutter nach Hause, macht Feuer unter dem Kessel. Wenn das Wasser brodelt, leert sie den Pappbecher mit dem Reis in den Kessel. Und dann schwimmen ein paar Reiskörner auf dem siedenden Wasser. Und das ist die Nahrung des Tages für ihre Kinder.

Und wenn der Reispreis, so wie jetzt, explodiert, dann verhungern die Kinder. Und das ist eine solche Absurdität, ich will das ganz kurz sagen, wenn morgen Früh der Deutsche Bundestag, L’Assemblée nationale, House of Commons, die Herrschaftsdemokratien, die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln verbieten könnten, de lege ferenda verbieten, wenn wir Bürger endlich aufstehen würden, wenn der Aufstand des Gewissens endlich käme. Dann würden Millionen und Millionen und Millionen Menschen in den Slums der Welt, den Favelas Brasiliens, den Slums von Karatschi - nach der Weltbank gibt es 1,2 Milliarden Menschen - die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, die würden gerettet.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind inzwischen 78 Jahre, noch nicht in Rente. Sie beraten noch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, waren davor lange UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, davor Soziologieprofessor, Abgeordneter im Schweizer Nationalrat, Fahrer von Che Guevara, Freund von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. All das und Ihr vehementes Anprangern von Missständen, wie Sie es heute hier auch getan haben, hat Ihnen viele Bezeichnungen eingebracht. Ein paar davon haben wir jetzt mal zusammengetragen.

"Der Rheinische Merkur bezeichnet Sie als die "Stimme der Armen" oder die "Lichtgestalt der Globalisierungskritiker".
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung sind Sie der "weltweit bekannteste lebende Schweizer".
Der Spiegel tituliert Sie als "Rambo der Soziologie".
Die Süddeutsche Zeitung schreibt "Hungerexperte".
Und ein Freund fand die Bezeichnung "der weiße Neger". "

Deutschlandradio Kultur: Jean Ziegler, Sie sitzen mir jetzt hier gut gebräunt im kalten Berlin gegenüber. Wenn Sie jetzt mit deutschen Politikern sprechen über den Hunger der Menschen in Entwicklungsländern, wer zeigt sich da gewillt, etwas zu ändern?

Jean Ziegler: Es geht nicht so sehr um die Politiker. Ich habe Freunde unter deutschen Politikern. Oskar Lafontaine und auch einige Sozialisten, die ich kenne, weil ich in dieser Bewegung bin. Hier habe ich eine große Hochachtung vor ihnen. Aber es geht um die Bürger. Mein Buch heißt "Wir lassen Sie verhungern". Wir, die Bürger in der Demokratie sind die Komplizen der Täter. Die Täter sind die Spekulanten, genauso wie die Spekulanten sind die Fabrikanten von Bio-Ethanol, sind die Großkonzerne, die den Nahrungsmittelmarkt beherrschen nach Profitmaximierungsprinzip.

Es geht nicht um die Politiker, es geht zuerst einmal um uns Menschen. Ich sag’s noch einmal: Deutschland, weil wir schon in Berlin sitzen jetzt hier, ist ganz sicher die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes und die dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Da braucht es den Aufstand des Gewissens. Weil alle diese mörderischen Mechanismen, wir haben einige, zum Beispiel das Agrardumping der EU noch nicht genannt, diese Weltkonzerndiktatur kann morgen gebrochen werden durch den demokratischen Rechtsstaat.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen, wir sind hier auch in Europa und unterstützen natürlich dann dadurch auch die Politik der EU. Und die Politik der EU beinhaltet eben auch, dass mit fast der Hälfte des EU-Haushalts die Landwirtschaft gefördert, subventioniert wird. Wir unterstützen unsere Unternehmen, um die Lebensmittel dieser Unternehmen auch zu günstigen Preisen im Ausland zu verkaufen.
Was ist daran denn falsch an dieser Unterstützung von unseren Unternehmen?

Jean Ziegler: Man muss unterscheiden – Produktion und Subvention. Also, Bauern muss man unterstützen. Mein Großvater war Bauer im Berner Oberland. Ich weiß, wie prekär die Wirtschaftslage vieler, vieler Bauern heute ist, wie unglaublich die arbeiten für wenig Ertrag. Es braucht die gesellschaftliche Unterstützung für Bergbauern zum Beispiel und Bauern überhaupt.

Aber Exportsubventionen sind mörderisch. Heute können Sie auf jedem afrikanischen Markt in Bamako, in Dakar und so weiter griechisches, deutsches, französisches, italienisches Gemüse, Geflügel, Früchte zur Hälfte oder zu einem Drittel des Preises entsprechender gleichwertiger afrikanischer Inlandprodukte kaufen. Und ein paar Kilometer weiter haben Sie einen afrikanischen Bauern, der mit seiner Frau, seinen Kindern zehn Stunden unter brennender Sonne sich abrackert und nicht die geringste Chance auf ein Existenzminimum hat.

Die Hypokrisie, also die Verlogenheit der Kommissare in Brüssel ist abgrundtief. Sie organisieren den Hunger in Afrika. Von 54 Ländern Afrikas sind 37 reine Agrarländer. Und gleichzeitig, wenn die Hungerflüchtlinge dann an die Südgrenze Europas kommen, Kanarische Inseln, 2000 Kilometer Südatlantik, oder näher Lampedusa und Malta, werfen sie mit militärischen Mitteln die Hungerflüchtlinge ins Meer zurück, wo Tausende ertrinken.

Auch dieses Agrardumping in der Demokratie kann morgen Früh gestoppt werden. Die Agrarminister, der deutsche und der französische, sind nicht vom Himmel gefallen. Die sind da, weil wir sie gewählt haben. Wir können sie zwingen, das Dumping zu stoppen.

Deutschlandradio Kultur: Jean Ziegler, es ist doch paradox, wenn man denkt, es ist etwas Schlechtes, wenn man den Menschen, die wenig Geld haben in Entwicklungsländern, die günstigen Nahrungsmittel verwehrt – sage ich mal – aus der Europäischen Union zum Beispiel. Was ist daran schlecht?

Jean Ziegler: Nein. Billige subventionierte Nahrungsmittel, die die afrikanischen Märkte jetzt überfluten, die sind mörderisch für die Subsistenzlandwirtschaft, für die einheimische Landwirtschaft. Senegal produziert immer noch Erdnüsse und importiert 75 Prozent seines Reises. Mali exportiert Baumwolle, importiert seinen Mais. Und dabei sind das uralte Bauerngesellschaften. Das Problem ist nicht nur das Dumpingproblem, sondern auch die Auslandsüberschuldung der ärmsten Staaten nicht nur in Afrika, sondern auch in der Karibik, auch auf dem Andenhochland, auch in Südasien. Die ärmsten Staaten – Benin, Niger, Senegal, alles, was die verdienen mit ihrem Export, geht direkt in die Schuldenzahlung, Schuldenzinszahlung und so weiter, beziehungsweise an die Frankfurter, Londoner und New Yorker Banken zurück. Und es gibt keine Investitionsmöglichkeit für die afrikanischen Staaten in ihre Landwirtschaft.

Afrika könnte sich längst problemlos bestens selbst ernähren, wenn die Ausbeutung durch die Schulden, wenn das Agrardumping durch die Europäer nicht so mörderisch wäre. Ich kann Ihnen nur ein Beispiel geben: Die Produktivität in Afrika ist sehr, sehr tief. In normalen Zeiten ohne Heuschrecken, Krieg, Dürrekatastrophe im Sahelgebiet, in den acht Sahelstaaten gibt ein Hektar Getreide 600 bis 700 Kilo, in Baden-Württemberg 10.000 Kilo – nicht, weil wir deutschen Bauern so kompetent oder arbeitsamer wären als die afrikanischen, sondern weil der afrikanische Bauer überhaupt keine Hilfe von seinem Staat hat, keinen Dünger, Zugtiere gibt es kaum, keinen mineralischen Dünger, keine selektierten Samen, keine Bewässerung. 3,8 Prozent des schwarzafrikanischen Bodens sind künstlich bewässert. Der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor 5.000 Jahren. Und wenn die Dürre kommt, dann sterben Millionen und Millionen Menschen wehrlos.

Totalentschuldung der Ärmsten und der Dritten Welt ist wesentlich. Und das können wir von Herrn Schäuble erhalten, wenn er jetzt zur nächsten Generalversammlung des Welternährungsfonds geht. Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen, er ist da, weil wir ihn gewählt haben, damit er einmal für die hungernden Kinder, das heißt, für die totale Entschuldung stimmt und nicht für die Gläubigerbanken.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für Ihren Besuch bei Tacheles.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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