"Jede dieser Gewalttaten ist eine zu viel"

Moderation: Dieter Jepsen-Föge und Michael Groth · 20.04.2006
Nach Ansicht von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble muss der Staat mit aller Entschiedenheit gegen Gewalttaten vorgehen. Jede dieser Taten - verübt gegen einen Ausländer oder gegen einen Deutschen -, sei eine zu viel, sagte Schäuble im Deutschlandradio Kultur. Vor dem Hintergrund des Überfalls auf einen Deutsch-Äthiopier in Potsdam betonte der Innenminister, der Staat unternehme eine "Menge, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen".
Deutschlandradio Kultur: Herr Schäuble, haben Sie als Bundesinnenminister eigentlich jetzt immer mal wieder Déjà-vu-Erlebnisse als jemand, der genau dieses Amt ja schon einmal im Kabinett Helmut Kohl innehatte? Jetzt vielleicht unter anderen Bedingungen, aber vielleicht auch mit ähnlichen Themen: innere Sicherheit, Terrorismus gab es damals noch nicht so stark, aber das Thema Integration von Ausländern.

Wolfgang Schäuble: Natürlich hat es viele Themen vor 15, 20 Jahren auch gegeben. Zuwanderung hatten wir in einem viel größeren Maße als heute. Wir hatten die Asyldebatte. Wir hatten 400.000 Asylanträge in einem Jahr. Wir hatten die Aussiedlerwelle. Das Integrationsthema hatten wir damals auch. Wir hatten übrigens auch Terrorismus, nur eine andere Form von Terrorismus. Wir hatten die schlimme Geisel, dass Menschen bedroht waren, dass sie ermordet worden sind. In meiner relativ kurzen Amtszeit als Innenminister ist Alfred Herrhausen beispielsweise ermordet worden, Detlef Carsten Rohwedder. Das waren auch schlimme Heimsuchungen. Nur dieser internationale Terrorismus ist ja heute praktisch längst ein Problem der äußeren Sicherheit geworden. Es ist ja gar nicht mehr zwischen äußerer und innerer Sicherheit zu trennen. Das ist eine neue Dimension. Damals waren wir noch von der Zweiteilung des Kalten Kriegs geprägt, des Ost-West-Gegensatzes geprägt. Es war gerade die Übergangszeit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Jetzt haben wir die Probleme der Globalisierung. Gerade in dieser Woche besucht der chinesische Staatspräsident die Vereinigten Staaten von Amerika. Da zeigt sich die ganz neue Dimension, die weltpolitischen Herausforderungen und Probleme. Dann ist noch etwas ganz anders geworden als vor 15 Jahren, die europäische und internationale Dimension bei der Aufgabenbewältigung des Bundesinnenministers.

Deutschlandradio Kultur: Macht das auch den Reiz für Sie aus, dieses Amt sozusagen noch einmal auszuüben?

Schäuble: Ja, das ist ein Teil. Ich habe mich ja die letzten Jahre sehr stark mit Außen- und Europapolitik beschäftigt. Innenpolitik ist heute mit einer der wichtigsten Bereiche europäischer Politik, denn wir können viele Aufgaben – Kampf gegen den internationalen Terrorismus wie die Beherrschung und Steuerung von Zuwanderung, die Verbesserung von Integration – nur im europäischen Kontext bewältigen. Das setzt mehr, intensivere internationale Zusammenarbeit voraus. Da bewegt sich auch viel. Wenn wir uns vorstellen, bei der Fußballweltmeisterschaft werden wir Polizeibeamte aus vielen europäischen Ländern haben, die in ihren Uniformen – französische, belgische, holländische, englische – in Deutschland Dienst machen. Das ist eine Vorstellung, die man vor 20 Jahren für absurd gehalten hätte. Heute freuen wir uns darauf und es zeigt, wie stark wir vernetzt sind.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir beim Stichwort Integration, Herr Schäuble. Damals haben Sie mit der FDP regiert. Dann kamen sieben Jahre Rot-Grün. Jetzt regieren Sie in einer großen Koalition. Hat sich nach Ihrem Eindruck in den letzten zehn, zwölf Jahren die Debatte über dieses Thema geändert, versachlicht vielleicht?

Schäuble: Die hat sich sehr verändert, weil wir damals das Problem mit der ganz großen Zahl von Aussiedlern hatten, eine zeitlang sogar noch mit den Übersiedlern. Wir hatten ja um das Jahr 1990 herum, Ende 89 viele Turnhallen in Deutschland mit Zuwanderern und Übersiedlern belegt. Das heißt, wir waren in einer richtigen Ausnahmesituation. Wir hatten ein paar hunderttausend Asylbewerber jedes Jahr. Vor diesem Massenproblem waren wir gar nicht in der Lage, das zu machen, was wir heute in der Integrationsdebatte, in der Migrationsdebatte ja machen, nämlich zu sagen: Wir müssten auch ein bisschen darüber nachdenken, welche Menschen wollen wir eigentlich? Können wir Zuwanderung besser steuern? Damals ging es eigentlich darum, des Massenproblems Herr zu werden. Angesichts der großen Zahlen war es auch furchtbar schwierig, die Integrationsbereitschaft in der Bevölkerung wach zu halten. Heute, wo wir eine entspanntere Situation haben, was die absoluten Zahlen anbetrifft, können wir uns stärker darauf konzentrieren, stellen allerdings fest, welche Versäumnisse wir über Jahrzehnte in der Integration tatsächlich haben. Denn natürlich – insofern ist es in Frankreich nicht anders als in Deutschland – in den beiden Länder, die vor Jahrzehnten schon massenhaft Zuwanderung hatten, ist die Integration der dritten Generation schwieriger als die Integration der Ersteinwanderer.

Deutschlandradio Kultur: Ich würde in unserem Gespräch eigentlich gar nicht zurückblicken wollen, aber wenn Sie selber die Versäumnisse in der Vergangenheit ansprechen, ist das dann eine Form von Selbstkritik, die Sie damit üben?

Schäuble: Auch. Es ist im Übrigen immer ganz gut, man hält sich zunächst einmal den Spiegel selber vor und sucht bei sich selber. Da gibt es schon in der Bibel entsprechende Gleichnisse vom Splitter im Auge des anderen und vom Balken im eigenen Auge. Das schadet gar nichts, aber es ist ein bisschen mehr. Wahrscheinlich haben wir insgesamt in unserer Bevölkerung – übrigens in Europa überall, wo es Zuwanderung gegeben hat – geglaubt, das regelt sich mehr oder weniger von allein. Die Kinder von denen, die zugewandert sind, die mal als Gastarbeiter gekommen sind, die werden hier heimisch. Es hat nicht funktioniert. Vermutlich liegen mindestens so große Versäumnisse, ich glaube sogar die größeren, bei den Zugewanderten selbst, die natürlich akzeptieren müssen und sich selber auch klarmachen müssen: Wenn sie – insbesondere aus der Türkei – nach Deutschland zugewandert sind, dann müssen sie eben auch in Deutschland leben wollen und dürfen nicht versuchen sich eine türkische Scheinwelt in Deutschland bewahren zu wollen. Sie haben dann den Weg nach Deutschland gemacht und dann müssen sie dieses Land mit all seinen schönen Seiten, aber halt auch mit all dem, an das man sich vielleicht gewöhnen muss oder nicht gewöhnen mag, akzeptieren. Die Bereitschaft muss vorhanden sein. Sie müssen eben dann auch Deutsch sprechen, sonst haben die Kinder doch keine Chance. Das ist heute die Situation. Was können denn die Kinder dafür, wenn sie in den Schulen versagen, wenn sie noch nicht mal anständig Deutsch können, wenn sie in die Schule kommen? Da können auch die Lehrer nix dafür. Da müssen wir stärker ansetzen. Das wird jetzt allen deutlicher bewusst. Deswegen sehe ich in der Krise auch wieder eine Chance, dass es besser wird.

Deutschlandradio Kultur: Nun gab es in dieser Woche einen brutalen Angriff auf einen schwarzen in Potsdam. Müssen wir uns daran gewöhnen, dass Übergriffe dieser Art immer wieder vorkommen, trotz aller guten Maßnahmen, trotz aller Integrationsversuche, trotz aller öffentlichen Debatten über das Thema? Müssen wir mit solchen brutalen Dingen einfach leben, Herr Schäuble?

Schäuble: Wir leben immer mit Gewalt. Das ist seit Adam und Eva so. Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen. Das ist die Urgeschichte menschlicher Existenz. Gewalt gibt es gegen Ausländer. Gewalt gibt es auch gegen Deutsche. Wir haben ja auch das Problem, dass Menschen Opfer von Gewalttaten werden von anderen. Wir müssen uns nicht daran gewöhnen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden. Jede dieser Gewalttaten ist eine zuviel und sie muss mit aller Entschiedenheit bekämpft werden.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist ja nun eine ganz spezifische Form der Gewalt.

Schäuble: Wir wissen zu wenig. Wir wissen, dass ein Mensch Opfer einer Gewalttat geworden ist. Wir wissen nicht die Motive, wir kennen nicht die Täter. Wir sollten ein wenig vorsichtig sein. Die Vermutung spricht viel dafür, dass es so war, aber ich sage noch einmal: Wir haben ja auch das genaue Gegenteil. Es werden auch blauäugige, blonde Menschen Opfer von Gewalt, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Das ist auch nicht besser. Das eine ist so schlecht wie das andere. Wir wollen keine Diskriminierung, von niemand, von Ausländern nicht, von Einheimischen nicht. Wir akzeptieren keine Gewalt und wir gehen mit aller Entschiedenheit dagegen vor. Das ist das, wozu wir verpflichtet sind. Nur so können wir Toleranz, Offenheit, Friedlichkeit – die grundlegenden Freiheitsrecht in unserem Land – bewahren.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie wirklich den Eindruck, der Staat habe das Mögliche getan, auch um bei dieser vermuteten Motivlage den Rechtsextremismus in diesem Land, vor allen Dingen in Ostdeutschland, wirksam zu bekämpfen?

Schäuble: Der Staat macht eine Menge, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Die Verfassungsschutzbehörden beobachten sehr sorgfältig, warnen auch. Es bleibt ein Problem. Wir haben im Übrigen, was Gewalttaten gegen Ausländer anbetrifft, und das mischt sich ja leider auch mit der rechtsextremistischen Szene, immer die Erfahrung, dass solche Taten am ehesten dort entstehen oder dass dort eine solche Stimmung wächst, wo es gar keine oder ganz wenige Ausländer gibt. Die Menschen, die gelernt, die die Erfahrung gesammelt haben, für die es selbstverständlich ist, mit Menschen ausländischer Abstammung, auch anderer Hautfarbe oder Religion zusammenzuleben, sind viel weniger in der Gefahr, solchen Verrückten, solchen Verbrechern, solchen Extremen, Extremisten nachzulaufen. Deswegen ist es eher ein Problem, dass in der früheren DDR die Menschen gar nicht die Erfahrung sammeln konnte, was für eine Bereicherung es ist, mit Menschen aus anderen Teilen der Welt zusammenzuleben. Aber die waren ja auch durch eine Mauer eingesperrt. Nun hilft uns das heute alles gar nichts. Wir müssen alles tun, um dort, wo Defizite sind, sie zu bekämpfen, dass niemand sich auch davon bedroht fühlt, dass Menschen aus anderen Teilen der Welt zu uns kommen. Wir wissen ja beispielsweise, gerade in manchen Teilen der neuen Bundesländer, dass wir das Problem haben, dass viele Menschen abwandern. Also seien wir doch auch froh, wenn junge Menschen da hinkommen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schäuble, Sie haben jetzt beim Besuch des Bundesamtes für Migration an Ausländer appelliert, sich zu integrieren. Das klingt ja zunächst sehr nachvollziehbar. Aber ist es nicht so, dass wir doch die Erfahrung haben, dass auch die türkische Gemeinde durchaus so etwas wie eine Parallelgesellschaft bildet, dass sie zusammenhalten und keineswegs gleichsam aufgehen wollen in der deutschen Gesellschaft? Müssen wir uns nicht darauf einstellen? Ist nicht dann dieses Problem, das wir jetzt erkannt haben oder mit dem wir uns jetzt beschäftigen, eines, von dem wir wissen, dass es größer wird? Denn der Anteil von ausländischen Kindern wird in vielen Städten natürlich deutlich größer, so dass die Frage der Integration oder der Parallelgesellschaft sich ganz anders stellen wird.

Schäuble: Erstens einmal bin ich gar nicht so pessimistisch. Wir haben ja einen großen, auch wachsenden Teil ausländischer Abstammung in der Bevölkerung, die sehr gut integriert sind. Wir haben einen wachsenden, auch erfolgreichen türkischen Mittelstand. Wir haben viele Kinder türkischer Eltern, die in unserer Gesellschaft gut zurande kommen, die erfolgreiche Ausbildungsabschlüsse machen. Wir haben beachtliche Schriftsteller, Regisseure, Schauspieler. Wir sollten nicht alles nur schlecht reden. Wir müssen darauf achten. Und deswegen müssen wir schon immer wieder dafür werben.

Wer die Entscheidung trifft, auf Dauer in Deutschland zu leben, sollte versuchen in Deutschland heimisch zu werden und sollte versuchen, dass seine Kinder, seine Nachkommen sich in Deutschland wohl, zu Hause fühlen. Diese Entscheidung kann man niemandem ersparen. Wer diese Entscheidung nicht treffen möchte, was man ja respektieren muss, dem sollte man den Rat geben, sich zu überlegen, ob er nicht lieber in einem anderen Teil der Welt glücklicher wird als in einem Land, in dem man nicht heimisch werden möchte.

Deutschlandradio Kultur: Sollte man Integrationswilligen nur den Rat – wie Sie das gerade formuliert haben – geben, ihr Glück anderswo zu suchen? Oder sollte man sie ausweisen? Auch diese Forderung gibt es ja. Das ist ja ein juristischer Unterschied.

Schäuble: Na ja, man muss da ein bisschen unterscheiden. Natürlich ist zunächst einmal der Rat das Beste. Wir setzen ja immer auf Fördern und Fordern. So ist es übrigens, so funktioniert ja eine freiheitliche Gesellschaft auch. In aller Regel funktioniert es ja, dass man sich an die Regeln hält, an das, was vernünftig ist. Das tun die Menschen ja aus eigener Überzeugung und nicht nur wegen Gesetzen, wegen Zwang, wegen polizeilicher Kontrollen, sondern in der Regel funktioniert es. Deswegen sind ja auch Werte notwendig für eine freiheitlich verfasste Gesellschaft, weil sie sich sonst zerstört. Wenn Sie das alles nur durch Zwang und Kontrolle regeln müssen, dann ist alsbald die Freiheit verloren.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir reden ja von den schwarzen Schafen.

Schäuble: Ja gut, deswegen muss es am Ende zu den Regeln auch irgendwo Grenzen geben, die dann auch notfalls erzwungen, durchgesetzt werden können. Dafür hat der Staat ja auch das Gewaltmonopol. Aber deswegen darf man nicht sagen, dass es immer nur auf Strafen und Sanktionen ankommt. Im Übrigen ist es ja so: Wir haben in unserem Aufenthaltsrecht ja nur wenige Stufen und Phasen, wo wir Entscheidungen treffen. Dass man bei einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung – etwa, wenn man eine befristete Aufenthaltserlaubnis in eine dauernde umwandelt – dann berücksichtigen kann, wenn jemand erwiesenermaßen gar nicht die Bereitschaft hat, dafür zu sorgen, dass seine Kinder hier die Voraussetzungen erfüllen, um die Schule erfolgreich zu absolvieren, dass man dann sagt, nee, dann müssten wir eigentlich eine solche aufenthaltsrechtliche Entscheidung zu seinen Gunsten nicht treffen, sondern das Gegenteil, das finde ich richtig, dass man das prüft. In dem Rahmen muss man dann auch Integrationsverweigerung in aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen mit berücksichtigen können.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schäuble, Sie nannten Beispiele für erfolgreiche Integration. Ist nicht tatsächlich das Hauptproblem, auch mit dem wir es jetzt zu tun haben, gar nicht mal ein Ausländerproblem, sondern ein Problem der hohen Arbeitslosigkeit, sozusagen ein Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt? Tatsächlich sind dann viele, die in dieser Konkurrenz um Arbeitsplätze nicht erfolgreich sein können, Migranten oder Migrantenkinder, weil sie eine schlechtere Ausbildung haben. Das heißt im Umkehrschluss: Mit einem Wirtschaftswachstum, mit einer konjunkturellen Erholung, mit einem Rückgang von Arbeitslosigkeit würde auch dieses Problem entschärft werden.

Schäuble: Ganz sicher hätten wir viele Probleme weniger, wenn wir eine geringere Arbeitslosigkeit und eine bessere Beschäftigungslage hätten. Aber so, wie Sie es gerade formuliert haben, ist mir es auch ein bisschen zu einfach. Wir haben ja durchaus das Problem, auch trotz hoher Arbeitslosigkeit, dass wir für viele geringer qualifizierte Beschäftigung auf unserem Arbeitsmarkt keine Arbeitskräfte finden, jedenfalls keine legalen. Wenn es irgendwann doch noch Frühling wird, wird der Spargel wieder zu stechen sein. Wer sticht ihn denn?

Vielleicht schaffen wir es dieses Jahr sogar, ein paar deutsche Arbeitslose dafür zu gewinnen. Aber ohne den Einsatz ausländischer Erntehelfer wird es mit Spargel, mit Erdbeeren, mit Wein im Herbst ziemlich schlecht bestellt sein. Und in vielen anderen Bereichen gering qualifizierter Tätigkeit haben wir das ja auch. Das heißt, wir haben im Übrigen auch unter den akademisch gut ausgebildeten jungen Leuten heute eine schwierige Arbeitsmarktlage. Das heißt, das Arbeitsmarktproblem ist auch ein Problem zu geringer Dynamik unseres Arbeitsmarktes, zu geringer Differenzierung. Es ist eben eine alte Erfahrung. Gerade hat es uns jetzt der IWF klar gesagt. Wir müssten in Deutschland viel entschiedener, viel mutiger den Weg zu Reformen gehen, um eine stärkere Wachstumsdynamik zu entwickeln. Aber wenn ich mir die Diskussion – übrigens auch im Bereich der Tarifpartner – um 30 oder 60 Minuten Wochenarbeitszeit anschaue, da haben wir nun wochenlang tarifliche Auseinandersetzungen heftigster Art in verschiedenen Bereichen gehabt. Ob das nun wirklich unsere dringendsten Probleme in Deutschland sind, darüber kann man ja mit Fug und Recht ein bisschen zweifeln. Wir sind ein bisschen zu schwerfällig geworden. Wir sollten unsere Chancen besser wahrnehmen. Und dazu wird sich im Übrigen dann herausstellen, dass uns das Potential von Arbeitskräften aus dem Bereich der Zugewanderten durchaus eine stärkere Wachstumsdynamik verschaffen kann, wenn wir in der Lage sind, unsere Systeme, unsere Sozialversicherungssysteme, unseren Arbeitsmarkt so zu organisieren, dass wir eine größere Dynamik haben und nicht so sehr vor lauter Besitzstandsverteidigung jede Dynamik verschlafen.

Deutschlandradio Kultur: Vor uns liegt ein Ereignis, auf das wir uns alle freuen, die Fußballweltmeisterschaft. Dass wir uns auch noch darüber freuen, wenn sie stattfindet, liegt auch daran, dass während dieses Ereignisses auch für hinreichend Sicherheit gesorgt wird. Dafür ist die Länderpolizei zuständig, aber es stehen auch 7.000 Bundeswehrsoldaten bereit. Nun handelt es sich ja nicht um einen Verteidigungs- oder Spannungsfall. Das wäre notwendig, so sagt es das Grundgesetz, wenn die Bundeswehr im Inneren tätig wird. An Sie die Frage: Was sollen, was können, was dürfen die Soldaten nach Ihrer Vorstellung während der WM hier leisten?

Schäuble: Die Bundeswehr macht das, was sie bei vergleichbaren Großereignissen in den zurückliegenden Jahrzehnten immer gemacht hat. Sie leistet mit 2.000 Soldaten in einer hervorragenden Weise logistische Unterstützung vielfältigster Art für das Organisationskomitee bei den vielen organisatorischen Aufgaben. Darüber hinaus ist die Bundeswehr darauf vorbereitet, das hat das Verteidigungsministerium sehr gut gemacht, dass sie für den Fall, dass eine größere Katastrophe oder ein Unglücksfall eintreten sollte, kurzfristig im Rahmen dessen, was nach dem Grundgesetz möglich ist – etwa im Sanitätswesen – Hilfeleistungen machen kann. Sie leistet ja bei jeder Flut, bei jedem Hochwasser auch entsprechende Einsätze. Deswegen hat der Bundesverteidigungsminister angeordnet, dass weitere 5.000 Soldaten über die 2.000 hinaus, die logistische Unterstützung leisten, während der Fußballweltmeisterschaft gewissermaßen in einer vorsorglichen Einsatzbereitschaft sein sollen für den Fall, dass wir eine solche Hilfeleistung, die nach dem Grundgesetz möglich ist und die jetzt wieder beim Hochwasser ja auch stattgefunden hat, erforderlich sein sollte. Wir hoffen, dass wir es nicht brauchen, aber es ist gut, dass wir Vorsorge leisten. Sicherheit beruht ja immer darauf, dass man sich darauf vorbereitet, auf Situationen vorbereitet zu sein, von denen man wünscht, dass sie nicht eintreten.

Deutschlandradio Kultur: Wie groß sind Ihre Befürchtungen? Das heißt auch, wie konkret sind Erkenntnisse einmal für die Vorbereitung auf Gewalttaten durch Hooligans, das ist die eine Form, oder die Besorgnisse vor terroristischen Anschlägen?

Schäuble: Die Hooligan-Problematik haben wir eben bei solchen großen Fußballereignissen. Das weiß man. Da haben die Fußballverbände, auch die Polizei in den letzten Jahren ja auch große Fortschritte in der Zusammenarbeit gemacht. Ich finde wirklich, dass das auf einem guten Weg ist.

Ich bin eigentlich optimistisch, dass wir es schaffen werden, die Probleme zu beherrschen. Wir haben eine neue Dimension deswegen, weil wir nicht mehr nur die Spiele in den Stadien haben, sondern weil wir die Fernsehübertragungen auf Großleinwandflächen in allen Städten in Deutschland haben werden, so dass das ganze Land gewissermaßen im Zeichen der Fußballweltmeisterschaft steht und dass die Fans eben nicht nur in den Stadien und in den Spielorten sein werden, sondern überall. Wir werden wahrscheinlich Zehntausende Fans aus vielen, insbesondere europäischen Ländern wochenlang in Deutschland haben, die vermutlich nicht ein einziges Mal bei einem Fußballspiel im Stadion sein werden, sondern die irgendwo sind. Und da weiß man im Vorhinein nicht ganz genau, in welcher Stadt sie sich das anschauen. Das stellt natürlich eine neue Dimension an Aufgaben für die Verantwortlichen der Polizei in den Ländern dar, der sich die Länder, auch der Bund in der Zusammenarbeit mit den Ländern, sehr intensiv stellen, auch in internationaler Zusammenarbeit. Wir tun alles auch in der Zusammenarbeit mit den Polizeien unserer europäischen Nachbarländer und mit den Sicherheitsbehörden aller Länder, deren Mannschaften an der Fußballweltmeisterschaft teilnehmen. Daneben haben wir die generelle Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Da gibt es keine konkreten Hinweise. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch da die Sicherheit gewährleisten. Ich kann jedenfalls sagen, wir sind in der Vorbereitung auf einem wirklich guten Weg.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schäuble, zum Schluss: Die Gefahr ist die des internationalen Terrorismus. Sie haben häufig in der Vergangenheit geäußert, dass die Bundesrepublik, dass auch das Grundgesetz, unsere Verfassung eigentlich nicht auf diese Art von Bedrohung eingestellt ist, dass das Grundgesetz geändert werden müsste. Ist Ihre Sorge – auch nach den Vorbereitungen auf diese Fußballweltmeisterschaft – weiter da, dass die Bundesrepublik auf diese Form von Bedrohung eigentlich nicht eingerichtet ist?

Schäuble: Ich sage seit Anfang der 90er Jahre, seit dem Ende des Kalten Kriegs, dass die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit so nicht mehr stimmt. Und wenn Sie sich anschauen, dass der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen am Tag nach dem 11. September 2001 diesen Anschlag auf das World Trade Center nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen als einen kriegerischen Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika bezeichnet hat, oder wenn Sie den Bericht zur Reform der Vereinten Nationen von Generalsekretär Kofi Annan lesen, dann sehen Sie genau, die neuen Bedrohungen lassen sich nicht mehr zwischen äußerer und innerer Sicherheit unterscheiden. Deswegen hat ja auch der frühere Verteidigungsminister Struck richtigerweise gesagt, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt, aber sie wird eben nicht nur am Hindukusch verteidigt, sondern sie wird auch in Deutschland selbst zu verteidigen sein, wenn sie bedroht wäre. Wir wollen hoffen, dass es nicht dazu kommt.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Schäuble.