Jean Mattern: "September"

Die Vermummten und die Verliebten

Ein vermummter arabischer Terrorist zeigt sich am 05.09.1972 auf dem Balkon des israelischen Mannschaftsquartiers im Olympischen Dorf der Münchner Sommerspiele.
Ein vermummter arabischer Terrorist zeigt sich am 05.09.1972 auf dem Balkon des israelischen Mannschaftsquartiers im Olympischen Dorf der Münchner Sommerspiele. © dpa / picture-alliance / Olympische Spiele
Von Stefan Mesch · 27.04.2016
Jean Matterns Roman "September" erzählt eine schwule Liebe in Zeiten des Geiseldramas von München 1972. Das klingt spannend und leidenschaftlich, liest sich aber wie eine Ansammlung von Wikipedia-Sätzen. Die Meinung unseres Kritikers: zu schlicht, zu flach, zu vage.
In Annie Proulx' Short Story "Brokeback Mountain" verlieben sich zwei Schaftreiber in den Bergen Wyomings, 1963. Beide Männer heiraten Frauen, wollen Familien gründen – doch jedes Jahr, über zwei Jahrzehnte lang, treffen sie sich weiterhin für einige Tage zum Zelten.
In "September" erzählt Jean Mattern, geboren in Deutschland und heute Verlagslektor in Paris, eine ähnliche Begegnung zwischen zwei Männern, denen Worte wie "Bi"- und "Homosexualität" nicht über die Lippen kommen: Der Brite Sebastian ist 30, verheiratet und Vater einer Tochter. Sam stammt aus Südafrika, lebt in New York und schreibt für eine jüdische Wochenzeitschrift. Für zwei Wochen leben beide Tür and Tür: in München, während der Olympischen Spiele 1972. Brokeback Pressezentrum?

Gefühlsbetonte, simple Sprache

Zwei gehemmte, aber leidenschaftliche Figuren. Knapp 150 Seiten. Gefühlsbetonte, simple Sprache. Und ein Setting, das viele Deutsche über 50 seit ihrer Jugend begleitet. Die bewusst "heiteren Spiele" in München, 36 Jahre nach Hitlers Olympiade in Berlin. Und die Geiselnahme von elf israelischen Sportlern durch palästinensische Terroristen. Fernsehbilder, Wikipedia-Sätze – von Jean Mattern noch einmal literarisiert?
"September" gehört zu einer neuen Welle kurzer, aber ambitionierter Unterhaltungs-Historienromane: ein dramatisches Stück Zeitgeschichte – noch einmal neu betrachtet durch die Augen einer Figur in eigenen großen Lebens-, Liebes-, Identitätskrisen. Bücher also, die fragen: "Wie fühlt sich das an? Wie war das, damals? Was machte es mit dir?" Bücher, die erklären wollen, wie Weltgeschichte einen Menschen (und uns alle) verändert.

Der erste Flirt mit einem Mann

Ich-Erzähler Sebastian flirtet zum ersten Mal im Leben mit einem Mann. Bestaunt den Olympiapark. Feuert Schwimmer Mark Spitz an, freut sich für Hochspringerin Heide Rosendahl, misstraut dem naiven, eher selbstgerechten Stolz und Patriotismus der Deutschen – und wird, nach ein paar Tagen Werben und Umworbenwerden, über Nacht zum fassungslosen Zuschauer von Polizeiversagen, Sensationslust, hilfloser Diplomatie.
Mattern erzählt die Geiselnahme und ihre mediale Wahrnehmung nach. In Sätzen, die auch auf Wikipedia stehen könnten, und aus der nicht-sehr-geistreichen Sicht eines enttäuschend unbeteiligten, überrumpelten Briten. Das halbe Buch lang betont Erzähler Sebastian, wie charmant und geistreich sein Verführer Sam spricht und agiert. Dann, in der zweiten Hälfte, betont Sebastian, wie ungeheuerlich, verstörend alle Nachrichten und Hiobsbotschaften des 5. Septembers 1972 auf beide Männer wirken.
Mattern häuft einen Berg solcher Behauptungen an: Sebastian spricht von ungeheuerlichen Liebes-, Furcht-, Entfremdungs-Wallungen. Gibt ständig neue, übergroße Gefühle zu Protokoll – in überraschend steifer, enttäuschend hohler Sprache. Ein Ich-Erzähler also, der in jeder Szene umschreibt, dass ihn gerade die Gänsehaut packt. Aber ein Autor, der diese Gänsehaut nicht auf uns Leser übertragen kann. "September" bleibt ein lebloser, naiver Roman. Sympathisch häppchengroß. Sympathisch gefühs- und stimmungsfixiert. Doch viel zu schnell, zu vage, zu schlicht, zu flach, um diese Stimmungen, Gefühle stimmig einzufangen.
Wie fühlte sich das an: als bisexueller, 30-jähriger Journalist mit Frau und Kind, der zum ersten Mal im Leben eine Nacht mit einem Mann verbringt, im Sommer 1972? Wie fühlte sich das an: Als Brite, zu Besuch in einem Deutschland, das sich neu erfinden will – doch ständig über die eigene Provinzialität stolpert? Wie fühlte sich das an: Im Fernsehen und im Pressezentrum zuzusehen, wie Politiker, Polizisten, die ganze Welt an ein paar Männern mit Gewehren und Granaten scheitern?
"September" hat darauf keine schlüssigen, interessanten Antworten.

Jean Mattern: "September"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Berlin Verlag, Berlin 2016
160 Seiten, 15,99 EUR

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