Jazzmusik

Mein Akkordeon - das vertraute Wesen

Vincent Peirani & Émile Parisien
Der Saxofonist Émile Parisien & der Akkordeonist Vincent Peirani (r) © ACT Jörg-Grosse Geldermann
Von Ilka Lorenzen · 02.02.2015
Eigentlich wollte Vincent Peirani Schlagzeug lernen. Sein Vater drängte ihn jedoch zum Akkordeon. Darin ist er inzwischen ein Meister. Jetzt ist sein Album "Living Being" erschienen.
"Am Anfang wollte ich unbedingt Schlagzeug spielen. Aber mein Vater sagte mir: Nein! – und, wenn du Musik machen willst, wirst du Akkordeon spielen! Er hat mich quasi gezwungen, was mir absolut gar nicht gefiel. Erst anhand von klassischer Musik habe ich das Akkordeon für mich entdeckt. Es klingt nach Klischee, aber ich hörte jemanden eine Cello-Suite von Bach spielen, ich war elf oder zwölf Jahre alt, und das hat mich wirklich extrem berührt! Mein Vater bekam das mit und meinte natürlich, dass man mit dem Akkordeon hervorragend klassische Musik machen könne. Also begann ich bei einem Professor, der mich Stücke von Bach und Mendelssohn spielen ließ, und ich fand es auf einmal gar nicht mehr so übel. Ich übte sehr viel, entdeckte immer mehr Möglichkeiten und habe angefangen, das Instrument zu lieben! Mittlerweile habe ich eine Beziehung zu meinem Akkordeon wie zu einer Frau, wirklich!"
Schon große Erfolge gefeiert
Denn das Akkordeon begleite ihn überall hin, nur nicht ins Bett, verrät der jungenhafte Musiker Vincent Peirani breit grinsend. Die Musik sei sein Leben.
Auch wenn er im Interview immer sehr humorvoll spricht, so nimmt er seine Arbeit doch sehr ernst. Was seinen Karrieresprung wahrscheinlich auch ausmacht. Die Kritiken überschlagen sich mit Lob, beschreiben den Ausnahme-Akkordeonisten als Jahrhunderttalent und betonen dabei immer wieder sein lebendiges und warmherziges Spiel.
Genau so wirkt auch er selbst. Das Savoir-Vivre scheint dem Südfranzosen mit in die Wiege gelegt zu sein. Mit seinem "Bruder im Herzen" und Duo-Partner, dem Saxophonisten Emilie Parisien, feierte er bereits große Erfolge. Die beiden gehören derzeit zu den führenden Jazzmusikern ihrer Generation, zu den sogenannten Young European Lions, die die Jazztradition ebenso gut kennen, wie die klassische europäische Musikgeschichte, die mit Rock und Pop aufgewachsen sind und die offen sind für all diese Richtungen. Und die mit eben diesem Background Neues schaffen, ihre eigene Musik:
"Tja, meinen Stil zu beschreiben ist sehr kompliziert. Denn ausgehend von vielen verschiedenen Erfahrungen – an einem Tag spiele ich französische Chansons, dann am nächsten traditionellen Jazz, danach wieder Flamenco… ist mein Komponieren von den Menschen inspiriert, die sie spielen werden. Für mein erstes Album Thrill Box hab ich wirklich für die Leute geschrieben – für Michel Benita am Kontrabass und für Michael Wollny am Klavier. In meinen Gedanken war ich ganz bei ihnen beim Schreiben. Außerdem geht’s dabei natürlich auch stark um meine Gefühle, meine Erlebnisse, meine Erfahrungen, alles spielt mit hinein – aber alles mit einer bestimmten Richtung: Es ist diese oder diese Person, die wird das gleich spielen, ich hab schon im Ohr, wie derjenige spielt, also gehe ich einen Schritt auf die Musiker zu und sie kommen einen Schritt auf mich zu."
Neues Bandprojekt "Living Being"
Der Ursprung seines neuen Bandprojektes "Living Being" liegt bereits vier Jahre zurück. Peirani wollte mit ganz bestimmten Musikern zusammenarbeiten, mit Freunden, allesamt aus verschiedensten Richtungen: Neben Emile Parisien entschied er sich für den E-Bassisten Julien Herne, der aus der R’n’B und HipHop Szene kommt, für den Schlagzeuger Yoann Serra, der großer Art Blakey und Elvin Jones Fan ist, und für den Keyboarder Tony Paeleman, der viel mit Popmusikern gearbeitet hat. Sie alle vereint der Jazz – und natürlich ihre Heimatstadt Nizza. Der menschliche Faktor sei bei dieser Auswahl entscheidend gewesen:
"Am Anfang war es schwierig, die verschiedenen Musiker-Persönlichkeiten unter einen Hut zu bekommen, deswegen hat es so lange gedauert, dieses Projekt ins Leben zu rufen. Ich war das Bindeglied zwischen all diesen Leuten. Wir haben Musik auf dem Album, die ist extrem improvisiert, und es gibt einige in der Band, die das super können und andere absolut nicht… tja, was sollten wir machen? Wir haben angefangen, sehr eng zusammen zu arbeiten. Ich habe versucht, sie alle in neue Richtungen zu bewegen, und gleichzeitig für sie ganz persönlich zu schreiben. Nach dem Motto: 'Du spielst nun das und das!' – 'Aber ich kann das nicht!' – 'Egal, wir kommen dahin, das ist unser Weg, los geht’s!' Und wir haben nun dieses Ergebnis hier vorliegen – in sechs Monaten wäre es wahrscheinlich wieder ein anderes. So ist es eben."
Herausragend und sinnbildlich
Frei nach dem Titel "Living Being" hat dieses Album ein Eigenleben entwickelt, ist etwas Einzigartiges geworden. Eine völlig neue Musik, verspielte Soundcollagen zwischen Harmonie und Rhythmik sind entstanden. Im Grunde ist es das, was Peirani im Interview immer wieder lachend einwirft: C’est le bordel – ein großes Durcheinander, aber durchaus im positiven Sinne zu verstehen! Denn absolut offen und grenzenlos ist eine spezielle Musik entstanden, zu einer bestimmten Zeit, mit bestimmten Musikern, die so kein zweites Mal entstehen könnte. Herausragend und sinnbildlich für das gesamte Album ist die "Suite en V":
"Suite en cinq – also das Ausgangsstück - hab ich für Cello und Gitarre geschrieben. Das hat allerdings nun absolut nichts mehr mit der Version zu tun, die nun auf der CD ist. Ich hab alles um-arrangiert für das Quintett, für diese bestimmten Musiker. Im Grunde ist das Stück sehr klassisch, und da ist immer dieser kontinuierliche Flow drin – ich mag das sehr. Auch wenn ich es nicht gut kenne, sagen viele Leute, es klingt sehr nach minimalistischer Musik (musique répétitive) – Steve Reich. All diese Leute, die kenne ich nicht besonders gut, aber für mich ist das Stück wie eine Art von Trance. Ich weiß nicht, es sind viele Sachen darin, auch viele Einflüsse asiatischer Musik – es ist im Grunde ein großes Durcheinander. – c‘ est le bordel."
Mut und die Lust, Neues zu entdecken
Auch, wenn – seinem Vater sei Dank – Peiranis Liebe zum Akkordeon und damit auch sein musikalischer Erfolg riesengroß geworden sind, braucht er dieses eben beschriebene große Durcheinander, diese Abwechslung, die ihn inspiriert, den Mut und die Lust, Neues zu entdecken. Um bei so viel Kreativität und geistigen Höhenflügen die Bodenhaftung nicht zu verlieren, gehe er immer barfuß auf die Bühne. Das sei kein Spleen, er wolle es auch keinesfalls als eine Art Markenzeichen etablieren, er fühle sich mit nackten Füßen einfach viel, viel besser. Und noch einem zweiten Grundsatz bleibe er treu:
"Ich komponiere niemals auf dem Akkordeon. Oft schreibe ich einfach am Tisch mit Papier und Bleistift. Oder aber auf einem Instrument, das ich nicht richtig beherrsche, vielleicht am Klavier oder so, da entwickle ich Ideen, die ich dann übertrage. Aber niemals komponiere ich auf dem Akkordeon, weil ich fürchte, in bestimmte Schemata zu verfallen, in irgendwelche Automatismen. Ich hab keine Lust, ein Stück auf dem Akkordeon zu entwickeln, weil ich dieses Instrument einfach viel zu gut kenne und ich hab vielmehr Lust, mich selbst zu überraschen."
Vincent Peirani: "Living Being"
Label: Act (Edel), 2015
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