Jami Attenberg: "Saint Mazie"

Ein eindrucksvoller Roman über das Gutsein

Die Lower East Side von Manhattan
Die Lower East Side von Manhattan: Hier lebte Mazie Philipps © AFP / Stan Honda
Von Edelgard Abenstein · 24.12.2016
Mazie Philipps wandelte sich vom Paradiesvogel zu einem Engel: Zuerst ein Partygirl im New York City der 20er Jahre, hilft sie später den Gestrandeten der Weltwirtschaftskrise. Philipps gab es wirklich, doch über ihr Leben ist wenig bekannt. Diese Lücke füllt Jami Attenberg virtuos in ihrem Roman.
Eine Frau, die weiß, was sie will: Mazie Philipps ist typisch für das Jazz Age, jene Ära zwischen den 1920er und 1930er Jahren, als man junge Frauen Flapper nannte. Flatterwesen, die Jazz hörten und sich über die Regeln des guten Benehmens hinweg setzten.
Mazie Philipps ist eine von ihnen. Sie verdient ihr eigenes Geld, tagsüber verkauft sie Kinokarten im gläsernen Kassenhäuschen der Venice-Lichtspiele, während die Hochbahn über ihrem Kopf durch die Lower Eastside donnert. Nachts zieht sie allein um die Häuser, auf der Suche nach Party, nach Abenteuer in der nächsten Bar. Sie ist schön, liebt rote Kleider ("ich glaube, sie wollte, dass einem bei ihrem Anblick die Augen brannten"), und sie nimmt sich, was sie kriegen kann. Drinks, Männer, immer nach dem Motto: "Wieso sollte ich einen wollen, der mich liebt, wenn ich auch drei haben kann?"
Das ist die eine Seite. Die andere macht aus Mazie unvermutet eine Legende. Als die Weltwirtschaftskrise die Stadt erschüttert, kümmert sie sich um die Gestrandeten, um alleinerziehende Mütter, um arbeitslose, obdachlose Männer. Sie hilft, wo immer sie kann.

Ein Tagebuch aus ihrem gesamten Leben

Saint Mazie, wie man sie in den Straßen um die Brooklyn Bridge nannte, lebte wirklich. Doch neben ein paar dürren Daten weiß man wenig über diese Frau, die sich vom Paradiesvogel des Jazz Age in einen Engel der Bowery wandelte. Jami Attenberg bringt Licht ins Dunkel jenes Lebens, indem sie wie im historischen Roman erfindungsreich dessen Lücken füllt. Aber mit raffinierter Gestaltungskraft geht sie weit über dieses Genre hinaus.
Als erzählerisches Rückgrat des Romans erfindet sie für ihre Heldin ein Tagebuch, dessen Eintragungen von deren zehntem Geburtstag 1907 bis zu ihrem Tod 1964 reichen. Wir lesen von einer düsteren, von Gewalt überschatteten Kindheit, aus der die ältere Schwester sie errettet; von einem liebenswürdig-fürsorglichen Schwager, der sein Geld in Geschäften mit der Mafia verdient; von einer Amour Fou zum unsteten Bob, die dem Roman eindringliche Liebesszenen beschert. Und von der zärtlich-innigen Freundschaft mit einer blutjungen Nonne, einer der ungewöhnlichsten Frauenfiguren der neuen amerikanischen Romanliteratur.

Ein Roman der Stunde

Mazies Journal sind Beobachtungen von Zeitzeugen zur Seite gestellt, fiktive Erinnerungen von Nachbarn und Arbeitskollegen. Ein Verleger kommt zu Wort, der Mazie - vergeblich - zu einer Autobiografie zu überreden suchte, ein Musiker, der das lange verschollene Tagebuch im Trödel fand, ein High-School-Lehrer mit einem Faible für knallige Geschichten, besonders solche, in denen es um Leben und Tod geht. Eine Vielfalt von Stimmen, die dem Leben einer unbekannten Berühmtheit plakative Farbe geben, jeweils in einem ganz eigenen Ton - dramatisch, witzig, klug. Auch das New Yorker Lebensgefühl der Zeit liefert Attenberg ganz nebenbei mit.
Vor allem aber ist "Saint Mazie" ein eindrucksvoller Roman über das Gutsein. Darüber wie man den Regungen des Herzens folgt, absichtslos, ohne Moral, ohne Rechthaben zu wollen, stattdessen mit sehr viel Sexappeal. Nicht zuletzt deshalb ist er ein Roman der Stunde.

Jami Attenberg: Saint Mazie
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Christ
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016
384 Seiten, 24,00 EUR