Jahrzehntelang gepflegter Unsinn

Rezensiert von Frank Hessenland · 18.08.2013
Einige Nazigrößen flüchteten nach Südamerika und lebten dort trotz all ihrer Verbrechen unbehelligt. Die Unfähigkeit der Behörden spielte ihnen in die Hände, aber auch geschickt gestreute Mythen. Daniel Stahl erzählt die Geschichte ihrer Strafverfolgung, die immer wieder auf höchster Ebene behindert wurde.
Die Geschichte der Nazi-Jagd in Südamerika ist in erster Linie eine Geschichte der vermurksten Chancen und halbherzig verfolgten Gelegenheiten, der Nazi-Mörder habhaft zu werden. Das beschreibt der junge Historiker Daniel Stahl der Uni Jena in seinem 430-seitigen Buch "Nazi-Jagd" akribisch.

Hier verschleppen deutsche Botschaftsmitarbeiter Anfragen von deutschen Gerichten, da sie den Frieden der deutschen Exilgemeinden nicht stören wollen. Da halten bundesrepublikanische Gerichte es für aussichtslos, Adressen zu recherchieren, weil das Fluchtland so weit entfernt liegt. Hier ist man sich nicht einig, ob 100.000-facher Mord ein politisches Verbrechen - und damit nicht strafbar ist - dort, ob Beihilfe zu solchem Mord verjähren kann.

Ignoranz spielte den Nazis in die Hände
Im Endeffekt führte die Ignoranz der Institutionen letztlich dazu, dass nur sechs von insgesamt etwa 50 nach Südamerika geflohenen höherkarätigen Nazi-Verbrechern in den 60 Jahren nach Kriegsende von einem Gericht verurteilt worden sind.

Daniel Stahl zeigt dies, legt aber präzise dar, dass nicht nur deutsche Institutionen für die mageren Strafverfolgungsergebnisse verantwortlich waren, sondern auch internationale, überraschenderweise auch von den ehemaligen Alliierten dominierte:

"Die Weigerung von Interpol ..."

- der effektivsten internationalen Behörde zur Ermittlung von flüchtigen Straftätern überhaupt, -

"... sich an der Aufklärung von Straftaten zu beteiligen, die 'nur irgendwie mit den besonderen Organisationen oder Einrichtungen des Deutschen Reiches von 1933-1945 zusammenhingen', war nicht zuletzt auf personelle Kontinuitäten zurückzuführen. Vor allem die Franzosen, denen innerhalb der Organisation großes Gewicht zukam, sprachen sich gegen eine Beteiligung aus. Das war nicht ganz uneigennützig, denn die Polizei des Vichy-Regimes hatte bei der Umsetzung der NS-Verbrechen viel Eigeninitiative gezeigt."

Daniel Stahl - Nazijagd
Daniel Stahl - Nazijagd© Promo
Die Stories fanden weite Verbreitung
Eine weitere Schlussfolgerung, die aus Stahls Recherche gezogen werden kann, ist, dass Legenden und Mythen bei der Nazi-Jagd in Südamerika eine immense Rolle gespielt haben. So erfanden die Vereinigten Staaten etwa den Mythos vom Nazigold, das angeblich mit U-Booten in Argentinien angelandet sein sollte.

Das Gold gab es vermutlich gar nicht. Dennoch fanden diese Stories, angestoßen durch Mitarbeiter des Foreign Office, weite Verbreitung in allen internationalen Qualitätszeitungen, schreibt Stahl:

"Braden war einer der eifrigsten Verfechter des Vorgehens (…) gewesen. (…) Dabei ging bei Braden eine Bedrohungswahrnehmung mit wirtschaftlichen Interessen Hand in Hand. Gegenüber seinen Vorgesetzten im State Department äußerte er die Überzeugung, dass die Zerstörung der deutschen Geschäftsbeziehungen in Argentinien durch die proclaimed list der amerikanischen Nachkriegswirtschaft zugutekommen werde."

Stahl schildert auch immer wieder minutiös, welchen Einfluss die Fiktion auf die Strafverfolgung von Nazitätern hatte. So herrschte bspw. im Landgericht Hamburg erst panikartige Aufregung, nachdem der Agentenroman ‘Die Odessa Akte‘ von William Forsythe in den 70ern herausgekommen war. Die Informationen aus Forsythes Thriller stammten übrigens von Simon Wiesenthal selbst, der immer wieder den letztlich erfundenen Mythos von der reichen Organisation alter SS-Mannen in die Welt setzte, die Israel zerstören könnten.

Die Faszination eines angeblichen "Geheimwissen der SS" bediente auch die Aktivistin Beate Klarsfeld in den 70er Jahren. Sie stellte die These auf, Nazis hätten die Folterregime in Südamerika mitaufgebaut. Auch das war eine fiktive Übertreibung. Letztlich befeuerte diese Idee aber den demokratischen Prozess, indem sie ein Referenzsystem erlaubte, aufgrund dessen auch die Junta-Verbrechen zweifelsfrei gegenüber einer entfernten internationalen Öffentlichkeit verurteilt werden konnten.

Stahl fehlt der Mut für Mutmaßungen
"Nazi-Jagd" von Daniel Stahl nachvollzieht die Geschichte der Strafverfolgung von nach Südamerika geflohenen Naziverbrechern. Detailreich schildert es die Meinungsbildung in den Apparaten. Das Buch liefert eine Geschichte journalistischer Mythen. Sein Verdienst hat die Arbeit da, wo sie die Mythen als solche entlarvt.

Seine Grenzen findet die Arbeit erst dort, wo man gern einen Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse der Staaten in Südamerika werfen würde: Warum war Peron kein Nazi, was für politische Verhältnisse herrschten eigentlich in Paraguay, was machte den Kern der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Chile aus? Wie unterschieden sich Klassen- und 'Rassenkämpfe' in Südamerika von Europa?

Hätte Stahl hier nur den Mut zu Mutmaßungen gehabt, würde man leichter verstehen können, warum die Idee vom NS-Regime, das die Welt von Südamerika her aufrollt, ein jahrzehntelang gepflegter Unsinn war.

Daniel Stahl "Nazi-Jagd - Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen"
Reihentitel: Beiträge zur Geschichte des 20. Jh.
Hrsg. von Norbert Frei
Wallstein Verlag
432 Seiten, 34,90 Euro
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