Italienischer Film

Die grausame Welt der Erwachsenen

Auf blauem Hintergrund sind die Silhouetten einer Familie mit Mutter, Vater, Tochter und Sohn in weiß zu sehen.
Nix mit heiler Familie: In Aria Argentos Film "Missverstanden" geht es um das Leben eines Trennungskindes. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Moderation: Susanne Burg · 17.01.2015
In ihrem neuen Film "Missverstanden" erzählt die italienische Regisseurin Asia Argento die Geschichte eines Ehekriegs aus Sicht der Tochter Aria. Ein anrührender, schmerzhafter Film - über den man aber auch herzhaft lachen kann.
Susanne Burg: Asia Argentos Vater hat Filmgeschichte geschrieben: Dario Argento gilt als einer der prägenden Köpfe des italienischen Giallo, des italienischen Horrorfilms aus den 1960ern. Ihre Mutter ist Schauspielerin, und daher ist es wohl auch nicht ganz überraschend, dass Asia Argento in die familiären Fußstapfen getreten ist. Schon mit neun Jahren hat sie in Filmen mitgespielt. Inzwischen arbeitet Asia Argento als Regisseurin. Am Donnerstag kommt der neue Film der mittlerweile 39-Jährigen bei uns in die Kinos. Er heißt "Missverstanden".
Es ist ein satirisches Familiendrama, erzählt aus der Sicht des Mädchens Aria. Die Eltern sind Künstler und hochneurotisch. Sie trennen sich und verheddern sich so sehr in ihrem Ehekrieg, dass sie dabei die Tochter völlig aus dem Blick verlieren. Aria wird wie ein Möbelstück hin- und hergeschoben. Immer wieder läuft die Neunjährige nachts mit ihrer Tasche durch die Stadt, um beim jeweils anderen Elternteil unterzukommen. Es ist witzig, anrührend und schmerzhaft zugleich, dem Mädchen dabei zuzugucken, wie sie einen Platz sucht, wie sie um Aufmerksamkeit ringt und immer wieder gegen Wände rennt. Am Ende spricht sie die Zuschauer direkt an und sagt: "Ich hab euch das nicht erzählt, um mich als Opfer darzustellen, sondern damit ihr mich besser versteht." Als ich die Regisseurin des Filmes, Asia Argento getroffen habe, habe ich sie gefragt, warum es ihr wichtig war, diese Aussage ans Ende des Filmes zu stellen.
Asia Argento: Für mich bringt das diese Figur auf den Punkt - die Tatsache, dass sie kein Opfer ist, soll Hoffnung geben. Sie macht ja ziemlich viel durch, was Kinder nicht erleben sollten, und das in so einem jungen Alter, das noch so sehr von Reinheit und Unschuld geprägt ist. Als Erwachsene sind wir davon oft schon so weit entfernt, dass wir gar nicht mehr genau wissen, was diese geistige Unschuld eigentlich ist. Die Tatsache, dass es Hoffnung für sie gibt, dass sie überleben wird, trotz der erlebten Traumata, wollte ich als Botschaft im ganzen Film präsent haben. Ich wollte zeigen, dass das Kind stärker ist als die Selbstsucht der Eltern.
Burg: Sie sagen "um Hoffnung zu geben". Das Ende ist trotzdem sehr drastisch. Sie ist am Leben. Sie ist am Leben, aber die Frage ist: Wie gebrochen ist sie eigentlich trotzdem?
Argento: Sie hat Wunden. In der Psychologie heißt es, dass so frühe Kindheitstraumata für andere, neue Verknüpfungen im Gehirn sorgen, und dass sich das sehr negativ auswirken kann, zum Beispiel Soziopathen hervorbringen oder chronische Krankheiten verursachen kann, nicht nur psychische sondern auch physische . Ich denke, weil sie so eine reiche innere, seelische Welt hat, wird sie gerettet. Man sagt ja durch die Wunden wird man geheilt. Weil sie so viel Dunkelheit erfahren hat, glaube ich, dass sie an einem Moment ihres Lebens eine Art von Erleuchtung erleben, sich zum Licht bewegen wird.
Burg: Die Eltern trennen sich und sind ab da sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Mutter geht ständig auf Reisen mit neuen Liebhabern. Einmal will Aria der Mutter etwas zum Abschied schenken. Die Mutter greift ihre Sachen und lässt es liegen. Aria schreibt daraufhin in ihr Tagebuch: "misshandelt, aber sanft". Wie schmerzhaft sind für Kinder Ihrer Meinung nach gerade diese sanften Misshandlungen?
Der Schmerz der sanften Misshandlungen
Argento: Wir haben wohl alle solche Ungerechtigkeiten und vielleicht auch Misshandlungen erlebt. In der Kindheit haben wir noch keine Mauer und keine Rüstung, die uns vor diesem schrecklichen Gefühl der erlittenen Ungerechtigkeit schützt. Als Erwachsener würde man sich in einem solchen Moment einfach ärgern und das Geschehene bedauern, das Herz eines Kindes wird davon gebrochen. Andererseits kann ein Kinderherz, weil es noch so frisch ist, sich viel schneller wieder heilen, als das bei Erwachsenen der Fall wäre. Ein Kinderherz sucht immer nach Liebe und ist deshalb immer bereit zu vergeben. Erwachsene kapseln dagegen ihre Gefühle ab und ziehen sich hinter ihren undurchdringlichen Schutzwall zurück.
Burg: Sie erzählen die Geschichte, den Film aus der Sicht von Aria. Welche Mittel hatten Sie sich überlegt, dass das auch funktioniert, die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen?
Argento: Ich habe nicht vergessen, wie es war ein Kind zu sein. Wie magisch, wie verzaubert die Welt der Kindheit ist, sodass man stundenlang auf die Staubkörner blicken kann, die in einem Lichtstreif herumwirbeln, und sich davon verzaubern lässt. Der Grund, dafür, dass ich das nicht vergessen habe, liegt vielleicht darin, dass ich sehr schnell erwachsen geworden bin. Mir blieb nichts anderes übrig, weil ich so jung anfangen musste zu arbeiten. Das Kind ist also nie richtig groß geworden, es ist in mir geblieben, intakt. Als Erwachsene weiche ich deshalb sozial wohl ziemlich von der Norm ab. Aber ich denke jeder hat so ein, wie James Hillman es nennt, "puer eternum" in sich, ein ewiges Kind. Mit diesem Film wollte ich an dieses heilige Wesen in uns, das Kind, erinnern.
Burg: Charlotte Gainsbourg spielt die Mutter. Sie ist sehr egoman, geht ständig auf Reisen mit ihren Liebhaber, lässt die Töchter alleine zurück. Und sie tritt eigentlich nur wenig in Erscheinung. Sie wirkt immer nur auf Durchreise. Nun hätte Sie eine Schauspielerin wie Charlotte Gainsbourg auch viel mehr Präsenz einräumen können. Sie haben es nicht. War das ebenfalls, um Arias Sicht auf die Dinge besser darstellen zu können?
Argento: Ja, sie ist undurchdringlich, sie ist wie der Mond, deshalb gibt es auch diese Szene, in der der Mond sich in die Mutter verwandelt. Sie ist ein Mysterium und unerreichbar. Ich wollte auch, dass Charlotte sie spielt, laut und mit einer etwas überdrehten Sinnlichkeit, aber anders als die Rollen, die sie früher gespielt hatte. Ich war mir sicher, dass sie das konnte. Es war natürlich auch eine Herausforderung für sie – der Film ist auf Italienisch und sie spricht kein Italienisch. Sie hat sich als sehr mutige Künstlerin erwiesen, als sie diese Rolle angenommen hat, nicht nur weil diese Figur nicht besonders liebenswert ist, sondern auch, weil sie so weit weg von ihrer eigenen Person ist.
Sie hatte zunächst etwas Angst, weil die Figur so unsympathisch, so böse war, aber als sie den Film dann mit einem Publikum sah, hörte sie, wie die Leute dauernd über sie und die Figur des Vaters lachten, und sie verstand, was ich mit diesen Charakteren im Sinn hatte. Erst erschien ihr alles einfach schrecklich, aber dann erkannte sie den Humor dahinter, dass die Eltern mit ihrer Egomanie und ihrer Selbstsucht die eigentlichen Kinder sind. Wenn das Publikum diesen Humor versteht, ist es auch eine befriedigende Erfahrung über diese beiden bösen Figuren zu lachen.
Italienisches Familienleben ohne Klischees
Burg: Die italienische Familie ist mit vielen Klischees behaftet und spielt auch im italienischen Film eine große Rolle. Inwieweit wollten Sie die Familie anders darstellen?
Argento: Ich wollte die Wahrheit erzählen, weil ich an dieses Klischee nicht glaube. Es gibt in Klischees immer auch ein Fünkchen Wahrheit, Klischees funktionieren, weil die Leute sie verstehen. Aber das Leben ist kein Klischee. Die Wahrheit hinter der Fassade ist eine andere, nicht das, was dieses Land vorgibt, mit seiner heuchlerischen Form der Religiosität, die weit davon entfernt ist, spirituell zu sein. Die Dunkelheit und das Zerbrochene in der Familie werden immer unter den Teppich gekehrt, man stellt sich diesen Tatsachen nicht. Wenn man sich der Wahrheit nicht stellt, wird sie einen auffressen und man wird ein Leben voller Lügen führen. Dann wird man die Ketten nicht sprengen und auch nicht zu besseren Eltern werden können als man sie selber hatte.
Burg: Es gibt drei Schwestern in dem Film. Die eine ist neun, die andere elf, die andere 14. Sie haben auch mit jungen Darstellerinnen gearbeitet. Sie selbst waren Kinderdarstellerin. Wie sehr hat Ihnen das bei der Arbeit mit den jungen Schauspielerinnen geholfen?
Argento: Ich habe vorher schon mit Kindern gearbeitet und auch Kindern Schauspielunterricht gegeben. Ich hatte selber nie die Art von Regisseurin, wie ich sie bin mit den Kindern. Ich hatte mir immer einen Regisseur gewünscht, der versteht, dass ich ein Kind war, aber auch Teil einer Gruppe. Bevor ich einen Film mit Kindern zu drehen beginne – das war auch bei meinem vorigen Film so – lade ich die Kinder, die dabei mitmachen, einen Monat lang jedes Wochenende zu mir ein. Im Sommer stelle ich ein großes Planschbecken draußen auf, sie spielen Instrumente, tanzen, was auch immer, wir lernen uns erst mal alle kennen, lernen, uns zu vertrauen. Ich kann sie beobachten, wie sie reden, wie sie vielleicht auch mal fies sein können, ich nutze dann ihr wahres Wesen im Film. Der große Vorteil bei der Arbeit mit Kindern, ist dass sie eine Wahrheit in den Film mit einbringen, die so berührend ist. Erwachsene muss man erst brechen, um ihre Wahrheit zu finden. Sie sind Schauspieler und haben ihre Tricks, auf die sie zurückgreifen um die Regisseure und das Publikum zu beeindrucken. Ich suche nicht nach Perfektion. Die Wahrheit finde ich viel bewegender, als Regisseurin und als Mensch. Viel Zeit mit den Kindern fernab vom Set zu verbringen ist für mich die Methode, die richtige Atmosphäre im Film entstehend zu lassen.
Burg: In Deutschland gibt es seit einiger Zeit wieder verstärkt eine Diskussion darum, warum es so vergleichsweise wenig Frauen gibt, die Regie führen im Film. An der Filmhochschule ist noch fast die Hälfte der Studierenden Frauen, aber im Filmgeschäft nimmt es dann dramatisch ab. Sie sind eine Regisseurin. Wie ist die Situation in Italien?
Argento: Bei mir greifen verschiedene Kategorien. Ich bin nicht nur eine Frau, ich bin auch eine Frau unter 40, ich bin Italienerin, ich bin Tochter eines Regisseurs, ich habe vom Schauspiel zur Regie gewechselt, ich könnte auch in die üblichen Fallen treten. Wir sollten aber unsere Gedanken nicht nur in diese Richtung lenken, dass wir uns im Ghetto befinden, dass Frauen die Nigger der Welt sind, wie John Lennon und Yoko Ono gesungen haben - ja, das sind wir noch, aber wir sollten uns nicht so fühlen, sondern uns auf unsere Arbeit konzentrieren. Wenn eine Frau immer denkt: "Oh, ich bin benachteiligt", dann erzeugt das Unsicherheit, Konflikte, Ambivalenzen und Machtkämpfe. Kreativität sollte meiner Meinung nach aber ein freier Fluss sein, also sperre ich mich selber nicht ins Ghetto all dieser Kategorien, unter die ich fallen könnte. Ich bin Filmemacherin, dieser Job hat kein Geschlecht, kein Alter und keine Rasse.
Burg: Das klingt sehr gut. Ich stelle es mir trotzdem relativ schwierig vor, weil die Falle, die Sie erwähnt haben, die Kräfte, sind relativ stark. Sie sind eben – wie Sie sagten – die Tochter des Horrorfilmregisseurs Dario Argento. Wie schwierig war es für Sie, aus diesem Schatten herauszutreten?
Argento: Das habe ich durch meine Arbeit geschafft. Die Arbeit, die ich liebe. Ich bin ich selber und es war nicht schwer, solange ich mich auf meine Arbeit konzentrierte. Wenn ich mich und meinen Vater da mit reinbringe, ist das schon eine Falle, das schwächt mich. Der Schatten meines Vaters, seltsam, dass Sie das so sagen, es gibt da viel Dunkelheit, wo ich herkomme, von Seiten meines Vaters, von den Filmen die er gemacht hat. Es ist schon ein Kampf, sich zum Licht hinzuarbeiten, wenn man aus so viel Dunkelheit heraus kommt. Aber ich glaube, man muss die Dunkelheit kennen, um zum Licht zu kommen.