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Dinge
"So geht's" in der Welt von Nicholson Baker

Der US-Amerikaner Nicholson Baker liebt Dinge: In seiner Kindheit waren es Dampfmaschinen, als Erwachsener setzte er dem Telefon im Roman "Vox" ein Denkmal und promovierte danach Rolltreppen und Waschmaschinen zu Hauptfiguren seiner Bücher. Sein neuer Band heißt schwungvoll "So geht's". Was?

Von Jörg Plath | 25.02.2015
    Mit Hingabe widmet sich Nicholson Baker in seinen Romanen Maschinen. In einem beschreibt der Nordamerikaner seitenlang die Funktionsweise von Rolltreppen, in einem anderen erfindet er sogenannte Fermationiergeräte, mit deren Hilfe sein Held die Zeit anhält, um unbemerkt und ungestört Frauen ausziehen und betrachten zu können – oder auch entspannt mitten im erstarrten Weihnachtstrubel einzukaufen. Bakers intensives Nachdenken über vermeintlich Banales und Übersehenes der postindustriellen Lebenswelt dehnt ebenfalls die Zeit, holt es an die Oberfläche und bringt es zur Sprache. "So geht's" heißt sein neuer Band mit Artikeln und Essays nicht zufällig, und das am Ende erlangte Wissen preist der Autor als denkbar umfassend.
    "Ich spüre, "dass ich kurz davor bin, die Regeln, Gesetze, die Taschenspielertricks, die jedes menschliche Tun bestimmen, zu verstehen. Ich weiß, warum die Menschen wütend sind, warum sie lachen, warum sie andere Menschen verklagen, warum sie bestimmte Hüte tragen, warum sie dick werden, warum sie sagen, was sie sagen – oder ich weiß es beinahe. Noch eine halbe Stunde stirnfurchend sorgfältiges Nachdenken, dann habe ich es heraus. Warum bin ich der Glückliche, der das alles beinahe weiß? Weil ich ein paar vergessene Gebiete geduldig erforscht habe. Ich habe die Bestellzettel ausgefüllt und die säurefreien Kartons mit den Archivmappen bestellt. Ich habe mehrere isolierte Rasenstücke der Geschichte gemeistert, und ich weiß auch ein wenig über meine eigene gelebte Welt, und mit diesen diversen Pflöcken zur Abstützung kann ich mein moralisches Zelt aufstellen."
    Pfade im Dschungel der Gegenwart
    Zwar ist der Zusammenhang alles Gewussten flüchtige Illusion. Doch Baker exportiert die Erkenntnisse in ein Buch und konserviert sie so. Mit dem dann wieder freien Kopf macht er sich erneut auf den Weg, um das umgebende Chaos zu begreifen. Fünf Pfade treibt Bakers "So geht's" in den Dschungel der Gegenwart: "Leben", "Lesen" "Bibliotheken und Zeitungen", "Technik" und "Krieg" heißen die Kapitel des Bandes wenig aussagekräftig. Erhellend ist nur die letzte Kapitelüberschrift für einen einzigen Essay, sie lautet "Letzter Essay". Die Sammlung von Essays, Erinnerungsstücken, Porträts, Vorworten, Streitschriften, Reportagen und Selbstversuchen aus den Jahren 1993 bis 2012 ist nämlich höchst heterogen.
    "Hierin werden Sie Sachen über Drachenschnur, E-Reader, Ohrstöpsel, Telefone, Münzen in Brunnen, Papiermühlen, Wikipedia, Kollektaneenbücher, Flugzeugtragflächen, Gondeln, das OED, Call of Duty, Dorothy Day, John Updike, David Remnick und Daniel Ellsberg finden. Ich hoffe, Sie stoßen auf ein paar Themen, die Sie interessieren."
    Da dürfen Sie sicher sein, zumal die Aufzählung bei Weitem nicht vollzählig ist. Allerdings dürften beinahe alle Themen, so seltsam und entlegen sie auch zunächst wirken, Interesse finden. Denn ob Nicholson Baker nun über die Interpunktion von Gedanken einer Romanfigur nachdenkt oder eine Bibliothek verklagt, weil sie Bücher schludrig mikroverfilmt und dann wegwirft – immer erklingt seine unverwechselbare Stimme, im Deutschen seit Jahrzehnten von Eike Schönfeld wiedergegeben. Sie spricht ohne Klage von einer "gediegenen Wikipedia-Abhängigkeit", setzt die venezianischen Gondeln, in denen der Autor und seine Frau zur Hochzeit fahren, von jenen "parvenüartigen Wellenerzeugern" ab, die gemeinhin als Vaporetti bekannt sind, äußert "nadelgestreifte Gedanken", weiß von Eichhörnchen, die "jahreszeitgemäße Sachen" machen, und charakterisiert den Stil von Edward Gibbons unübertrefflich als "jene einzigartige Schaufensterauslage aus Teetassen und Sarkophagen". Es ist eine sehr einnehmende Stimme, in der sich Enthusiasmus und Genauigkeit verbinden, Engagement und Aufrichtigkeit. Dieser Mann scheint hinter jedem seiner Worte zu stehen, und kein Gegenstand ist ihm zu gering.
    "Er kam mit UPS in einem großen Pappkarton. In dem Karton waren dicke, durchsichtige Plastikblasen, ein Packzettel mit '359 Dollar' darauf und ein weiterer Pappkarton. Auf diesem stand in kargen Kleinbuchstaben 'kindle'. Seitlich an dem Karton war ein Plastikstreifen in der Pappe, den man ziehen sollte, um das Paket sauber aufzureißen. Darauf standen die Worte 'Once upon a time.' [Es war einmal.] Ich zog und öffnete.
    Darin war ein weiterer Karton, schicker als der erste."
    Wie ein Kannibale sich dem Besucher auf der Insel widmet
    Verpackung, Präsentation und Bedienung des E-Book-Lesegeräts eines nordamerikanischen Onlinekaufhauses widmet sich Baker so liebevoll wie ein Kannibale dem frisch eingetroffenen Besucher auf seiner Insel – um nach materialgesättigtem Entsetzen über die "digitale Reductio", über das Verschwinden von Bildern und Farben auf dem Kindle, das iPhone als Lesegerät der Stunde zu empfehlen. Ebenso instruktiv entfaltet Baker vor dem Hintergrund des Golfkriegs das Hauptmotiv von Pazifisten im 2. Weltkrieg: jüdisches Leben zu retten und den Holocaust zu stoppen. Und wenn es darauf ankommt, dann wirft der Schriftsteller nicht nur seine Sprachmacht, sondern auch seine Altersversorgung in die Waagschale und bewahrt mit 150.000 Dollar gut 7000 Bände nordamerikanischer Zeitungen und Zeitschriften vor der Vernichtung. Die buchzerstörende Digitalisierung der Bibliotheken und den Pazifismus hat Baker schon in zwei seiner Bücher behandelt, in "Eckenknick" und "Menschenrauch". Die Texte in "So geht's" zeigen ihren Verfasser nun auch als eingreifenden Intellektuellen. Retten will Nicholson Baker. Allerdings vergeht ihm über dem Ernst der Lage, auch das zeigt "So geht's" mit heiterer Nonchalance, nicht der stille Witz:
    "Eines Sommers hatten wir oben in den Schlafzimmern vier Ventilatoren aufgestellt. Dann begann einer der Ventilatoren zu qualmen, und unser Wachhund bellte, um uns Bescheid zu geben. Danach hatten wir noch drei Ventilatoren."