Istanbul-Kadiköy

Säkulare Insel in Erdogans Reich

Taxis fahren am 05.12.2012 im Stadtteil Kadiköy in Istanbul (Tuerkei) ueber einen Zebrastreifen. Foto: Marius Becker/dpa
Der Istanbuler Stadtteil Kadiköy ist traditionell sozialdemokratisch und säkular. © picture alliance / dpa / Marius Becker
Von Luise Sammann · 28.01.2017
Bars, Restaurants, freie Theater: Der Istanbuler Stadtteil Kadiköy trotzt den Bestrebungen von Präsident Erdogan, das Land zu islamisieren. Noch. Denn irgendwann könnte es auch in Kadiköy vorbei sein mit dem freien, selbstbestimmten Leben.
Freitagabend im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Die unzähligen Bars und Restaurants des Viertels sind gut besucht, Heizpilze und hochprozentiger Raki sorgen dafür, dass die Gäste auch draußen nicht frieren. Erdogan und sein Traum vom Präsidialsystem – Polizeistaat, Islamisierung, Alkoholverbote… All die Themen, die die Türkei-Nachrichten momentan prägen, scheinen hier ganz weit weg. "Deswegen sind wir hier". Architekt Yalcin, gebürtiger Istanbuler, hebt sein Glas.
"In Kadiköy herrscht ein bestimmter Lifestyle. Die Leute hier wollen frei sein. Hier kannst du in den Parks Alkohol trinken, kannst dich im Gras rollen, laut singen, tanzen oder Yoga machen. Und das bis spät in die Nacht – auch als Frau."
Yalcins Freund Salih, Schauspieler mit Vollbart und Ohrring, nickt.
"Aus dem früheren Ausgehviertel Beyoglu, rund um den Taksim-Platz, haben sie alle vergrault. Sie haben den Bars verboten, Tische rauszustellen, haben Alkohollizenzen entzogen und so weiter. Wer jetzt noch richtig ausgehen will, der kommt deswegen nach Kadiköy."

Erdogan findet die Kadiköyer "respektlos und unsittlich"

Kein Wunder, dass Präsident Erdogan in seinen Reden gern betont, wie sehr ihn dieses Viertel mit seinen, so wörtlich, respektlosen und unsittlichen Bewohnern anwidere. Das freie, lebensfrohe Kadiköy – traditionell von der säkularen Oppositionspartei CHP regiert – wirkt zunehmend wie abgekoppelt von der aktuellen Türkei. Und das längst nicht nur am Freitagabend. Allein die 14 Kilometer Fahrradweg, die hier in den letzten Jahren angelegt wurden, gleichen im autoverrückten Istanbul einer Revolution. Ganz zu schweigen von Förderprogrammen für Kunst und Kultur, von kostenlosen Sportanlagen, Freiluftkonzerten oder dem ersten und einzigen Karikaturen-Museum der ganzen Türkei...
"Der größte Unterschied ist: Unser Verständnis von Regieren beruht auf Bürgerbeteiligung", erklärt Aykurt Nuhoglu, seit 2014 Bezirksbürgermeister von Kadiköy.
"Wir haben ein aktives Bürgerparlament hier, in jedem Kiez diskutieren die Leute ihre Probleme und fällen demokratische Entscheidungen. Das ist nicht immer leicht, kostet eine Menge Zeit, aber es funktioniert."
Und: Es steht im krassen Gegensatz zu einem Land, dessen Parlament gerade seiner eigenen Entmachtung zugestimmt hat. Von der revolutionären Stimmung aus Gezi-Tagen ist schon lange nichts mehr zu spüren – auch nicht in Kadiköy. Statt zu demonstrieren aber, schafft sich die Mischung aus Kulturschaffenden, Studenten, Atatürk-Anhängern und Aussteigern hier ihre eigene kleine Türkei. Der Rest ihres Landes, ja selbst ihrer Stadt, ist ihnen fremd geworden.

Eines Tages wird die Regierung auch in Kadiköy eingreifen

Allein 62 unabhängige Theater drängen sich inzwischen in Kadiköy. Nicht obwohl, sondern gerade weil die AKP-Regierung kritischer Kunst überall sonst im Land den Kampf angesagt hat.
"Die türkische Regierung will, dass die Leute abends brav zuhause bleiben", so Bühnenbetreiber Nevzat.
"Überall dort, wo man auf kritische Gedanken kommen könnte, greifen sie ein. Wenn sie zum Beispiel rund um den Taksim-Platz den Cafés und Bars verbieten, Tische und Stühle rauszustellen, dann nicht nur, um ihnen das Geschäft zu vermiesen, sondern auch, um das Sozialleben an sich dort zu zerstören. Hier in Kadiköy aber fördern sie die Kultur und locken Leute wie uns damit an."
Fragt sich natürlich, wie lange das noch so bleibt. Denn auch wenn Erdogan und die AKP die traditionell liberale Bevölkerung von Kadiköy in absehbarer Zeit kaum für sich gewinnen werden. Jenseits der Wahlurnen wächst der Druck. Steuerstrafen und der Entzug von Zuständigkeiten sollen dem Demokratiespiel im asiatischen Istanbul ein Ende bereiten, glaubt nicht nur Bühnenbetreiber Nevzat.
"Wir wissen, dass sie eines Tages auch in Kadiköy eingreifen werden. Die Bewohner, die Künstler, die Bezirksregierung – jeder hier sollte darauf gefasst sein."
Solange aber bleibt Kadiköy eine Insel für all jene, die sich in Erdogans Türkei schon lange nicht mehr zuhause fühlen. Anderswo, so Architekt Yalcin, lässt es sich als echter "Kadiköylü" sowieso kaum noch leben.
"Wenn ich mit der Fähre von der anderen Bosporusseite hierher zurückkomme, spüre ich, wie sich alles in mir entspannt. Den Fuß nach Kadiköy zu setzen, das ist wie nach Hause Kommen."
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