Islamwissenschaftler: Übergangsphase in Libyen wird sicherlich noch andauern

Michael Lüders im Gespräch mit André Hatting · 01.09.2011
Frankreich lädt heute zum internationalen Libyen-Gipfel nach Paris. Der Nahost-Experte Michael Lüders hat im Vorfeld die westlichen Regierungen davor gewarnt, den Libyern diktieren zu wollen, wie sie die Zeit des politischen Übergangs in ihrem Land gestalten sollen.
André Hatting: Während in Libyen noch gekämpft wird, schafft die Welt längst Fakten für die Ära nach Gaddafi. Heute findet in Paris eine große internationale Hilfskonferenz statt. Dort geht es vor allem um Geld für den nationalen Übergangsrat. Viel Geld. Gastgeber Frankreich plant 1,5 Milliarden Euro aus dem Gaddafi-Vermögen freizugeben. Bereits Anfang August hatte Paris den Rebellen fast 260 Millionen zugesagt. Deutschland und die EU haben nachgezogen. Aber wer genau ist der Empfänger, dieser Nationale Übergangsrat? – das möchte ich jetzt von Michael Lüders wissen, der Nahostexperte hat lange für "Die Zeit" als Korrespondent gearbeitet. Guten Morgen, Herr Lüders!

Michael Lüders: Schönen guten Morgen!

Hatting: Ich fang mal mit dem an, was wir über diesen Nationalen Übergangsrat offiziell wissen: ein bunter Haufen aus Monarchisten, Nationalisten und Ex-Gaddafi-Kämpfern. So, das war’s schon. Darf man dieser großen Unbekannten einfach so Milliarden anvertrauen?

Lüders: Na ja, es ist zumindest im Augenblick die einzige Regierung, der einzige Ansprechpartner, den es in Libyen gibt. Er ist demokratisch noch nicht legitimiert, aber immerhin hat er wesentlich die Befreiung Libyens von Gaddafi organisiert. Es sind vor allem drei Gruppierungen innerhalb des Nationalen Übergangsrates anzutreffen: Es sind zum einen Überläufer des Gaddafi-Regimes, es sind zum anderen Vertreter der Stämme in Libyen, vor allem Stammesvertreter aus dem Osten des Landes, und es sind schließlich gut ausgebildete Fachleute – darunter Juristen, Ärzte, Hochschulangehörige –, die versuchen, so etwas wie eine Verwaltung aufzubauen. Und interessanterweise ist es so, dass in den Gebieten, die jetzt von Gaddafi befreit worden sind, auch in der Hauptstadt Tripolis, überwiegend lokale Gruppen, Nachbarschaften sich formieren und vor Ort die Macht ausüben. Es gibt gegenwärtig in Libyen keine funktionierende Zentralmacht – das ist aber auch ganz normal, denn die Übergangsphase wird sicherlich noch andauern, zumindest bis Gaddafi gefasst ist.

Hatting: Aber wenn es keine Zentralmacht im Augenblick gibt, wer garantiert denn, dass dieses Geld, dass diese Milliarden, die jetzt da freigegeben werden sollen, dass die in die richtigen Hände gelangen?

Lüders: Das garantiert nüchtern besehen niemand, denn wir haben keine Kontrollmöglichkeiten darüber, was mit diesem Geld geschieht. Man muss aber andererseits sagen, diese Gelder, die im Ausland eingefroren worden sind, Gaddafis Konten, das ist Geld, das den Libyern gehört, das ist nicht Geld, das dem deutschen oder dem französischen Steuerzahler zur Verfügung stehen würde. Insofern ist es auch völlig legitim, diese Gelder freizugeben, denn Libyen steht vor gewaltigen Wiederaufbau-Herausforderungen, insbesondere muss die Wasserversorgung in Tripolis wiederhergestellt werden, es fehlt an allem – an Lebensmitteln, an Medikamenten –, und ein Großteil der Erdölinfrastruktur ist im Verlaufe der Kämpfe zerstört worden, hier werden Milliardeninvestitionen fällig. Und je eher Libyen die tätigen kann, umso eher wird es auch wieder zu geordneten politischen Verhältnissen in Libyen kommen.

Hatting: Anders als in Ägypten, wo die Militärs erst mal die Macht übernommen haben, anders als in Tunesien, wo der Apparat des Regimes noch weiter funktioniert, mit Einschränkungen, herrscht in Libyen im Augenblick Chaos. Wie kann man verhindern, dass sich jetzt nicht die extremen Kräfte innerhalb dieser sehr heterogenen Gruppe durchsetzen?

Lüders: Ich glaube, dass die meisten Libyer nicht daran interessiert sind, sich erneut von Extremisten regieren zu lassen, nachdem sie nun sich von 42 Jahren Gaddafi-Herrschaft, der ja heute auf den Tag genau vor 42 Jahren, 1969, an die Macht gekommen ist. Man will jetzt nicht vom Regen in die Traufe kommen.

Aber richtig ist, der Wiederaufbau oder die politische Neuorientierung in Libyen ist schwieriger als in Ägypten oder in Tunesien, weil es in Libyen keine staatlichen Institutionen gibt, gegeben hat unter Gaddafi. Gaddafi war Libyen, und er hat alles, was man normalerweise mit einem Staat verbindet – etwa ein Parlament, ein Parteienwesen, eine unabhängige Justiz, politische Gewaltenteilung – abgeschafft. Sein Wort war Gesetz, er war diejenige Institution, die Recht gesprochen hat, so wie er es verstand. Und nun müssen erst mal staatliche Strukturen aufgebaut werden, das dauert Zeit, und hier kann man sicherlich auch, wenn die Libyer das wollen, entsprechende Hilfestellung leisten. Die Deutschen sind sicherlich gut, wenn es darum geht, beispielsweise verfassungsgebende Organe mit aufzubauen oder den Staatsbürgern Uniformen als Polizisten auch für Libyen zu entdecken. Aber ich glaube, man sollte sehr aufpassen, jetzt nicht mit Konferenzen, wie sie jetzt heute in Paris stattfinden, den Eindruck zu erwecken, die Europäer oder westliche Staaten oder die NATO gar wolle nun Libyen den eigenen Willen aufzwingen. Hier muss man sehr mit Fingerspitzengefühl vorgehen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass die NATO den libyschen Revolutionären gewissermaßen den Schneid abkaufen will – das würde zur Delegitimierung der libyschen Übergangsregierung führen.

Hatting: Die NATO oder auch die UN – die Rebellen haben ja schon gesagt, Blauhelme wollen wir nicht in unserem Land. Jetzt fragt sich nur, wie man dieses Fingerspitzengefühl, von dem Sie gesprochen haben, wie man hinbekommt, dass es trotzdem eine Art Kontrolle gibt in dem Land, ohne dass es nach Kontrolle aussieht.

Lüders: Ich glaube, dass man wirklich am Ende den Libyern überlassen muss, wie sie ihren Staat organisieren und auch, welche Kontrollmechanismen sie aufbauen. Wenn man im jetzigen Moment, in dieser Situation allzu forsch auftritt oder wie der französische Außenminister Alain Juppé öffentlich bekundet, dass die Libyer keine Erfahrung hätten im Führen von Staatsgeschäften und deswegen sei man von französischer Seite sehr gerne bereit, dabei behilflich zu sein – solche Aussagen sind wirklich sehr gefährlich, weil sie eine Steilvorlage für diejenigen Kräfte sind, die wir in Libyen nicht gestärkt sehen wollen. Das sind die Reste des Gaddafi-Regimes, es sind aber auch radikale Islamisten, Monarchisten oder andere Minderheitenströmungen, die allerdings sehr viel Ärger bereiten können in der Zukunft.

Hatting: Wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt. Das waren Informationen von Michael Lüders. Der Nahostkorrespondent hat lange für "Die Zeit" gearbeitet. Herr Lüders, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!

Lüders: Ich danke auch!

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