Islamisten

Neue Terrorgruppe zielt auf den Westen

Moderation: Dieter Kassel · 24.09.2014
Die islamistische Organisation Chorasan ist einer der gefährlichsten Gegner für die USA, warnt der Leiter des Mainzer Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt, Günter Meyer. Die Geheimorganisation sei in Syrien mit Al-Kaida identisch.
Dieter Kassel: Eigentlich wollten wir an dieser Stelle mit Günter Meyer, einem Experten der Universität Mainz, der unter anderem das Zentrum für Forschungen zur Arabischen Welt leitet, über das Verhältnis der Türkei zur Terrororganisation Islamischer Staat sprechen. Und das werden wir in der zweiten Hälfte unseres Gespräches jetzt auch gleich tun, aber inzwischen ist eine andere Terrorgruppe, die ebenfalls von Syrien aus operiert, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt: Chorasan, eine Organisation, die Geheimdienste in den USA zumindest für noch gefährlicher halten als den Islamischen Staat und deren Namen vielleicht auch Sie gestern Abend oder gar heute Morgen zum ersten Mal gehört haben. Aber erst mal schönen guten Morgen, Professor Meyer!
Günter Meyer: Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Ist Chorasan tatsächlich die zurzeit gefährlichste Terrororganisation der Welt?
Meyer: Aus US-amerikanischer Sicht kann man das durchaus annehmen, denn anders als der Islamische Staat, der sich vor allem darauf konzentriert, in der Nähe Ziele zu erreichen, das heißt, seinen Herrschaftsbereich auszudehnen, verfolgt Chorasan die Zielsetzung von Al-Kaida, nämlich vor allem die ungläubigen Staaten im Westen, angeführt von dem großen Satan, den USA, aber auch europäischen Ländern, diese direkt anzugreifen, mit spektakulären Aktionen wie etwa die Terroranschläge in den USA.
Kassel: Ist Chorasan denn eine Art Nachfolgeorganisation der Al-Kaida?
Al-Kaida tritt in den Hintergrund
Meyer: Es ist direkt Al-Kaida, das heißt, der Führer, Muhsin al-Fadhli, ein 33-jähriger Kuwaiter, gilt de facto als der Führer von Al-Kaida in Syrien. Nachdem die Nusra-Front als Ableger von Al-Kaida sich 2012 in Syrien etabliert hat, ist Muhsin al-Fadhli mit einigen anderen Afghanistan-Veteranen nach Syrien gekommen mit der Zielsetzung, hier, an einem sicheren Ort, eine Organisation aufzubauen, die eben genau das Ziel hat, spektakuläre Bombenanschläge im Westen zu verüben.
Kassel: Wieso taucht diese Organisation öffentlich jetzt erst so plötzlich auf, und wie lange gibt es sie schon?
Meyer: Es ist eine Geheimorganisation, die im Untergrund arbeitet, ganz anders wie die Nusra-Front etwa oder der Islamische Staat, die mit spektakulären Aktionen gerade in die Öffentlichkeit drängen. Die große Bedeutung dieser Organisation ist vor allem zu sehen vor dem Hintergrund des geradezu kometenhaften Aufstiegs des Islamischen Staates. Das ist inzwischen die wichtigste internationale dschihadistische Organisation, während Al-Kaida immer weiter in den Hintergrund getreten ist. Das heißt, diese Organisation ist es, die jetzt beweisen muss, dass Al-Kaida nicht in der Bedeutungslosigkeit versinkt, sondern dass sie in der Lage ist, mit spektakulären Anschlägen die Bedeutung von Al-Kaida weltweit wieder zu dokumentieren.
Kassel: Wir müssen uns ja an diesen Namen und auch seine korrekte Aussprache erst mal gewöhnen. Das geht vielleicht einfacher, wenn man weiß, was er heißt – was bedeutet denn "Chorasan"?
Meyer: Chorasan ist eine Region, die in frühislamischer Zeit etwa den Bereich Iran, Irak, Afghanistan, Turkmenistan und Usbekistan abgedeckt hat. Auf diesen Namen wurde zurückgegriffen, weil es angeblich eine Prophezeiung des Propheten Mohammed geben soll, wonach eine unbesiegbare Armee mit schwarzen Fahnen aus Chorasan kommen wird. Die schwarze Fahne der Nusra-Front von Al-Kaida, das ist das eine. Aber hier, diese Prophezeiung ist offensichtlich etwas, was dazu geführt hat, dass man diesen Namen übernommen hat.
Kassel: Nun haben Sie aber schon gesagt, Chorasan, die Organisation hat im Nahen Osten in dem Sinne keine territorialen Ansprüche. Das heißt, sie ist keine direkte Konkurrenz für IS?
Meyer: Auf keinen Fall. IS konzentriert sich auf den nahen Feind, während Chorasan auf den fernen Feind, das heißt der Ideologie von Bin Laden folgend, von Al-Kaida – hier geht es um den Kampf gegen den Westen.
Kassel: Aber machen sich die beiden nicht quasi im Ausland Konkurrenz, nämlich bei der Anwerbung neuer Mitglieder in westlichen Staaten, denn das tun sie doch offenbar beide?
Meyer: Offensichtlich ist es so, dass es bei ISIS deutlich weniger der Fall ist, während Chorasan genau das in das Zentrum seines Interesses gestellt hat. Das heißt, Chorasan rekrutiert ausländische Kämpfer bei Al-Nusra – wie gesagt, Ableger von Al-Kaida –, die dann hier als Bombenleger ausgebildet werden. Insofern wird Chorasan als deutlich gefährlicher angesehen, weil hier systematisch auf Terrorarbeit im Westen hingearbeitet wird.
Kassel: Zumindest vom Islamischen Staat hört man aber immer wieder, dass diese Anwerbungen nicht nur durch politische Indoktrinierung geschieht, sondern auch durch sehr viel Geld. 100.000 Euro sollen zum Beispiel einem jungen Mann in Dinslaken geboten worden sein, wenn er in den Krieg zieht in Syrien. Ist das realistisch, und wissen Sie etwas darüber, ob Chorasan das auch tut?
Meyer: Also, hier müssen wir deutlich unterscheiden. Das eine: Beim Islamischen Staat geht es darum, überhaupt erst einmal Kämpfer zu rekrutieren. Wenn hier von 100.000 Euro die Rede ist, dann ist es durchaus möglich, dass so etwas gesagt wird, aber den Realitäten entspricht das nicht. Zweifellos ist der Islamische Staat die wohlhabendste, die reichste Organisation unter den dschihadistischen Gruppen. Zwei Milliarden Dollar ist etwa die Größenordnung, die hier genannt wird. Damit ist der Islamische Staat durchaus in der Lage, die höchsten Honorare zu zahlen für ihre Kämpfer. Aber Größenordnungen von 100.000 Euro für einen einzelnen Kämpfer, das geht weit über die Realität hinaus.
Das heißt, der Islamische Staat wirbt ausländische Kämpfer unter anderem mit solchen Versprechen an, während Chorasan eben nicht darauf angewiesen sind. Hier sind die ausländischen Kämpfer schon vor Ort, sie sind ausgebildet bei der Nusra-Front, und die werden jetzt abgezweigt, bekommen noch eine gesonderte Ausbildung, gerade, wenn es darum geht, Bomben zu basteln.
Kassel: Den militärischen Kampf gegen vor allen Dingen die Organisation Islamischer Staat in Syrien hat die Türkei, ja Nachbarland Syriens, bisher explizit nicht unterstützen wollen. Seit gestern Abend hört sich das jetzt anders an. Man hat logistische und militärische Unterstützung angekündigt. Was sagt das über die Rolle der Türkei?
Kurswechsel in der Türkei
Meyer: Die Türkei war bisher das Land, was am meisten vom Islamischen Staat profitiert hat. Die politische Zielsetzung der Erdogan-Regierung ist erstens der Sturz von Baschar al-Assad als Hauptgegner, und zweitens die Bekämpfung der PKK, des PKK-Ablegers, der kurdischen Partei der demokratischen Union, als Ableger von PKK, wird das als die größte Bedrohung der Türkei angesehen.
Kassel: Das heißt, wenn die ISIS jetzt Angriffe durchführt auf die kurdischen Gebiete, auf die Gebiete des PKK-Ablegers, dann ist das durchaus im Interesse der Türkei. Aus diesem Grunde hat die Türkei in der Vergangenheit in erheblichem Maße ISIS unterstützt. Das heißt, die Waffen für den PKK-Gegner kamen über türkisches Gebiet. Die verletzten Kämpfer des Islamischen Staates wurden in türkischen Kliniken gepflegt. Es gibt auch Beobachtungen von kurdischer Seite in den letzten Tagen, dass etwa Kämpfer des Islamischen Staates über die türkische Grenze gegangen sind und dann an anderer Stelle im Rücken der kurdischen Verteidigungseinheiten wieder über die Grenze auf syrisches Gebiet zurückgekommen ist. Das heißt also: Die Türkei hatte ein großes Interesse daran, mit dem Islamischen Staat einerseits Baschar al-Assad zu schwächen und andererseits die Kurden zu schwächen. Und das hat sich jetzt offensichtlich geändert, nachdem auch die türkischen Geiseln freigelassen sind. Und ein weiterer wichtiger Punkt ist eine der wichtigsten Finanzquellen vom Islamischen Staat, nämlich Erdöl, größenordnungsmäßig drei Millionen Dollar pro Tag, die hier gewonnen werden, die kommen aus den besetzten Gebieten des Islamischen Staates in die Türkei. Die profitiert enorm davon. Also hier gibt es erhebliches Interesse an einer Unterstützung des Islamischen Staates. Aber durch den massiven Druck der USA ist es jetzt offensichtlich zu diesem Umschwung gekommen.
Meyer: Der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt, Professor Günter Meyer, über das Verhältnis der Türkei zu IS und über die neue Terrororganisation, Chorasan. Vielen Dank für das Gespräch!
Kassel: Vielen Dank, Herr Kassel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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