Islamismus

Junge Muslime auf Sinnsuche

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Eine vollverschleierte Frau auf einer Kundgebung des radikalen Salafistenpredigers Pierre Vogel in Offenbach am Main (Hessen). © picture alliance / dpa
Moderation: Kirsten Dietrich · 07.09.2014
Es sind bislang nur wenige Tausend Menschen, die sich in Deutschland zum Salafismus bekennen. Unter ihnen sind aber auffällig viele junge Anhänger. Der Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam erklärt, was die radikale Lehre so attraktiv macht.
Kirsten Dietrich: Der akademische Islam an deutschen Universitäten entwickelt sich. Das ist die eine, hoffnungsvolle Seite, wenn es um den Islam geht. Gleichzeitig aber zeigt das Wüten des Islamischen Staates in Syrien und Irak: Auch der radikale Islam entwickelt sich. Er findet zu neuen Formen des Terrors und er ist unheimlich attraktiv – auch und gerade für manche Menschen im Westen. Natürlich ist es nur eine Minderheit, die tatsächlich ihr Leben hier abbricht, um vermeintlich für Gott im Nahen Osten zu kämpfen. Und zu den strengsten Formen des Islam – am bekanntesten ist hier wahrscheinlich der sogenannte Salafismus – bekennen sich in Deutschland nur einige Tausend Menschen, geschätzte 0,1 Prozent der Muslime hierzulande. Und doch ist es wichtig, nach den Gründen zu fragen, warum Radikalität und Strenge gerade junge Muslime so ansprechen. Denn diese Gründe weisen über die aktuellen Konflikte hinaus.
Ich habe vor der Sendung mit dem Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam gesprochen. Er forscht am Berliner Institut für Integrations- und Migrationsforschung und beschäftigt sich beim rheinland-pfälzischen Landeskriminalamt mit Fragen von Radikalisierung. Ich wollte von ihm wissen, warum ausgerechnet die strengstmögliche Auslegung des Islam für junge Menschen so attraktiv ist! Wollen die nicht normalerweise einengenden Vorschriften gerade ausweichen?
Marwan Abou-Taam: Hier muss man zunächst einmal bedenken, dass diese Interpretation des Islams, der Salafismus, eine zelebrierte Abkehr von der Liberalität darstellt. Das heißt, hier scheint es interessant für junge Menschen zu sein, dass sie ihre Mündigkeit abgeben und sich tatsächlich neu definieren in einer neuen kollektiven Identität, die hier vorgegeben wird von einer religiösen Ideologie. Warum der Einzelne das tut, ich glaube, das wäre zu einfach, hier eine Allgemeinerklärung zu produzieren. Vielmehr müsste man sich tatsächlich die einzelnen Biografien anschauen. Allerdings wird man feststellen, dass es durchaus Gemeinsamkeiten gibt.
Dietrich: Welche sind das?
"Die Identitätsfrage ist sehr zentral"
Abou-Taam: Das ist das, was für uns interessant sein müsste: Das Gemeinsame ist, dass es sich dabei sehr oft um junge Menschen handelt, die auf der Suche nach Sinn sind. Also, die Sinnsuche, die Identitätsfrage sind sehr zentrale Fragen oder sehr zentrale Bedingungen. Und auf der anderen Seite gibt es vonseiten der Ideologie scheinbar Identitätsangebote, die gerne angenommen werden.
Dietrich: Nun denkt man ja gerade bei Jugendlichen aus islamisch geprägten Familien, dass die im Gegensatz zu den anderen super liberalen, säkularen Jugendlichen mit einem fast Überangebot an Tradition und Sinnstiftung aufwachsen, weil ja die Eltern eher diesen Traditionen verhaftet sind und da viel mehr Vorgaben weitergeben. Warum ist denn trotzdem genau diese Strenge ein attraktives neues Angebot?
Abou-Taam: Diese Strenge, die von den Salafisten angeboten wird, ist deswegen interessant für diese jungen Menschen, weil sie auf der einen Seite revolutionär ist und auf der anderen Seite konservativ. Sie ist geradezu das Gegenteil dessen, was die Eltern an Religiosität zelebrieren. Hier darf man nicht vergessen, dass die Eltern sehr oft Werte vertreten, die den Alltag dieser jungen Menschen nicht mehr erklären. Mit diesen vermittelten Werten können sie ihre Umgebung nicht wahrnehmen. Und hier tritt der Salafismus ein, indem er den Eltern diesen Vorwurf macht: Ihr seid keine wahren Muslime mehr! Und den jungen Menschen sagt: Ich habe hier einen Weg, einen echten Islam letztendlich hier leben zu können, ein Islam, der gleichzeitig eine Protestnote produziert, ein Islam, der sich so als Antithese der hiesigen gesellschaftlichen Liberalität definiert.
Dietrich: Das heißt, dass man die Eltern auch durch die Betonung des Glaubens und durch die Strenge des Glaubens verstören kann?
Abou-Taam: Das ist so, dass die Religiosität dieser jungen Menschen nicht vergleichbar ist mit der Religiosität der Eltern. Vielmehr ist es so, dass wir hier feststellen, dass es tatsächlich biografische Brüche gibt, dass sehr oft der Zugang oder die zunehmende Angliederung an eine salafistische Gruppierung parallel abläuft zu einer zunehmenden Abnabelung von der Familie.
Dietrich: Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung das aktuelle Geschehen, zum Beispiel im Nahen Osten der Vormarsch des Islamischen Staates und dessen souveräner Umgang mit zeitgemäßer Bild- und Medienproduktion?
Abou-Taam: Die Bilder, die hier nach Deutschland kommen über diese Konflikte, wirken meines Erachtens katalysierend. Sie verstärken das Problem, das sowieso existiert, diese Identitätssuche. Und vor allem liefert es Bestätigungen bestimmter Annahmen, die innerhalb dieser Ideologie gegeben sind. Und eine der Hauptannahmen ist, dass die Welt sich verschworen habe gegen den Islam. Einmal hat sich hier die Gesellschaft gegen den Islam verschworen mit den ganzen Vorurteilen, Klischees und so weiter und so fort, die man im Alltag erlebt, und jetzt hat man noch einen Beleg dazu, dass nicht nur hier die Muslime benachteiligt werden, sondern dass der Islam in seiner Gesamtheit weltweit dieser Verfolgung letztendlich ausgesetzt wird. Sodass der Einzelne hier in die Pflicht genommen wird, als gläubiger Moslem, als wahrer Gläubiger sich für den Islam einzusetzen.
Dietrich: Den Salafismus und die Ideologie des Islamischen Staates, dieser Gruppe, bezeichnet man ja gerne als Steinzeit-Islam. Das ist dann eigentlich ein ganz falscher Ausdruck, weil es eigentlich genau das Gegenteil ist, ein ganz extrem moderner Islam?
"Der mittelalterliche Islam war fortschrittlicher als das, was wir heute erleben"
Abou-Taam: Hier muss man aufpassen, wenn man diese Begriffe modern und vormodern benutzt. Falsch wäre es zu behaupten, dass dieser Islam mittelalterlich sei, denn der mittelalterliche Islam war viel fortschrittlicher als das, was wir heute erleben. Wir haben hier eine neue Form des Religiösen, die gleichzeitig eine Reaktion ist auf die westliche Moderne oder auf das, was wir hier unter liberaler Demokratie verstehen. Denn tatsächlich werden hier die zentralsten Elemente der liberalen Demokratie aufgenommen und es wird eine Gegenthese quasi ... Der Salafismus ist eine Antithese des demokratischen Denkens, und das ist bewusst so gewählt. Das heißt, während wir in der Demokratie von der Volkssouveränität ausgehen, ist für den Salafisten Gott der einzige Souverän. Während wir hier von der Rechtsstaatlichkeit sprechen, sprechen wir dort vom Gesetz Gottes. Wo Gott dann sich entwickelt tatsächlich zu einem Befehlshaber.
Dietrich: Aus der Außenperspektive ist es schwer, sich vorzustellen, was daran attraktiv ist. Aber welche Sehnsüchte erfüllt denn dieser radikale Islam, die die Gesellschaft, auch die deutsche Gesellschaft vielleicht nicht erfüllt?
Abou-Taam: Das salafistische Kollektiv beschreibt eindeutige Obligationen. Während wir in einer pluralistischen Demokratie uns schwertun, klare normative Vorgaben zu machen, ist es so, dass dort komplexe Zusammenhänge nicht nur vereinfacht werden, sondern auch noch einfache Antworten geliefert werden, die in sich zunächst einmal in dieser ideologischen Perspektive schlüssig erscheinen.
Dietrich: Setzen sich denn Wissenschaft und Politik ausreichend mit den Anfragen auseinander, die dieser radikalisierte Islam stellt?
Abou-Taam: Dieser Islam ist eine Herausforderung zunächst einmal für die Muslime. Das heißt, hier wird die islamische Identität an sich infrage gestellt und ein Gegennarrativ quasi produziert. Zunächst einmal ist vielleicht gelebte Vielfalt etwas, was eine Herausforderung darstellt für den Salafismus, das heißt, hier müsste eigentlich zunächst einmal eine Auseinandersetzung stattfinden innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft. Auf der anderen Seite haben wir natürlich die Frage, wie geht Politik, Gesellschaftspolitik vor allem mit dieser Problematik um. Wir haben hier natürlich die Frage der Identitätsbildung, der identitätsbildenden Unterstützung, der Integration, die natürlich eine ganz große Rolle spielt in der deutschen Debatte. Und auf der anderen Seite haben wir die Wissenschaft, die ein Problem hat zu verstehen, dass Religion ein Bestimmungsfaktor bei Menschen darstellt in Handlungen und in anderen Zusammenhängen. Das hat viel damit zu tun, dass insbesondere die Sozialwissenschaften atheistische Wissenschaften schon fast sind.
Dietrich: Das heißt, die Wissenschaft nimmt die Religion und die Motivationskraft, die aus Religion kommen kann, nicht ernst genug?
Abou-Taam: Zumindest hat man es lange nicht gemacht, weil man nicht hat verstehen wollen, dass die Religion einen "fait social" darstellt, dass also tatsächlich Religionen von Gläubigen nicht nur ernst genommen werden, sondern dass aus den religiösen Vorstellungen Handlungsoptionen abgeleitet werden, die tatsächlich für die Gläubigen verpflichtend zu sein scheinen. Und im Salafismus ist das besonders interessant und besonders wichtig, mit in die Analyse aufzunehmen, denn dem Salafismus ist das Gebot zur Abschottung und Abwertung anders Denkender inhärent. Das ist etwas, was sehr zentral ist. Und das drückt sich darin aus, dass wir beispielsweise in der deutschen Salafismusszene zurzeit etwas beobachten, was sich als eine Scharia-Polizei darstellt, wo dann Salafisten unterwegs sind, um dann zu schauen, wie verhalten sich Muslime gegenüber Nicht-Muslimen, um ihnen dann entsprechend Wegweisung zu geben, wie sie sich zu verhalten haben.
Dietrich: Islamische Wissenschaftler aus Deutschland haben gerade einen Appell verabschiedet und sagen darin: Den gewalttätigen Interpretationen des Islam darf nicht die Deutungshoheit überlassen werden! Diese Wissenschaftler betonen: Gerade weil so viele junge Menschen sich Organisationen wie dem Islamischen Staat anschließen, muss der Islam in der Demokratie da andere humane Mittel der Teilhabe anbieten. – Kann so ein Appell, der eben von muslimischen Wissenschaftlern kommt, etwas bewirken?
"Salafismus sakralisiert eine Lesart der islamischen Geschichte"
Abou-Taam: Das ist sehr zentral. Das ist auch wichtig, dass hier die Muslime die Definitionshoheit über ihre religiösen Begriffe zurückerobern. Denn Extremismus – und das machen Extremisten übrigens im Allgemeinen, auch andere Extremismen tun es genauso –, Extremismus versucht tatsächlich zunächst einmal, die Identität und die identitätsgebenden Inhalte, die Geschichte festzulegen, festzuschreiben. Der Salafismus macht es, indem der Salafismus eine bestimmte Lesart der islamischen Geschichte sakralisiert und vorschreibt, vorgibt und bestimmte Begriffe der islamischen Theologie mit bestimmten Inhalten, mit eben diesen radikalen Inhalten belebt und besetzt. Hier sind Muslime gefragt, natürlich, und es ist sehr wichtig, dass sie diese Begriffe im Kontext einer demokratischen Kultur nicht nur neu interpretieren, sondern entsprechend auch propagieren als Gegennarrativ zum salafistischen Narrativ.
Dietrich: Haben Sie aus Ihrer Arbeit fürs Landeskriminalamt – Sie sprechen ja unter anderem auch mit radikalisierten jungen Muslimen, die straffällig geworden sind –, haben Sie daraus irgendetwas ableiten können, wie klüger mit diesen jungen muslimischen Menschen auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft umzugehen ist?
Abou-Taam: Ich denke, es ist wichtig, dass man tatsächlich diese jungen Menschen zunächst einmal ernst nimmt. Also, noch mal: Wir haben hier die Konstellation, dass wir dieser Ideologie alles Mögliche entgegensetzen müssen, damit sie nicht Fuß fassen kann, der Ideologie gegenüber. Den jungen Menschen gegenüber müssen wir entsprechende Austrittmöglichkeiten anbieten, dass sie tatsächlich in diese Gesellschaft zurückkommen. Und diese Möglichkeiten, diese Türen, die wir öffnen müssen, die müssen begleitet werden. Natürlich von Personen, von Menschen, die diese Zugänge nicht nur organisieren können, sondern auch noch diese Menschen in ihrer jeweiligen Gläubigkeit begleiten und ihnen das Gefühl geben, es ist durchaus möglich, Demokrat und Moslem zu sein!
Dietrich: Was macht den radikalen Islam so attraktiv? Ich sprach mit dem Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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