Islamismus

Europäische Idee versus Dschihad

Eine Frau schaut auf eine Website mit Propaganda des IS.
Attraktiv für junge Menschen aus Europa: der Dschihad. © picture alliance/dpa/Oliver Berg
Von Christiane Kort · 19.04.2015
Die Berliner Diskussion "The Civil Wars" stellte die Frage, welche Gültigkeit das europäische Versprechen auf Gleichheit und Brüderlichkeit hat - angesichts junger Männer, die von hier aus in den Dschihad ziehen.
"Wie lässt sich die demokratische Gesellschaft in einer Epoche der Radikalismen und des wachsenden Populismus nicht nur gerechter, sondern auch attraktiver gestalten? Nicht nur für weiße Mittelschichtskinder, sondern auch für alle anderen? Milo Rau verhandelt diese Fragen künstlerisch und individuell, und sie sollen im Streitraum heute aufgenommen und weitergesponnen werden."
Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, die an der Freien Universität Berlin lehrt, wurde gefragt, ob der junge Marokkaner Karim im Stück typisch sei für viele junge muslimische Männer der zweiten Einwanderergeneration. Im Versuch einer Antwort wurden mehrere Aspekte gestreift. Franziska Brantner, Bundestagsabgeordnete der Grünen, verwies auf Studien, die belegen, dass autoritäre Strukturen und frühe Gewalterfahrung eine Voraussetzung dafür wären, dass sich junge muslimische Männer dem Dschihad anschlossen.
Einwandererväter seien sowohl autoritär als auch schwach und zerbrächen im westeuropäischen Land. Die 'Vaterlosigkeit' hatte Milo Rau als Problem benannt, das mit dem Untergang des Patriarchats einherginge. Die Mütter hingegen seien stark, verdienten das Geld, hielten die Familien zusammen und würden dennoch zu Hause unterdrückt.
Carolin Emcke fragte, warum greift vorher, bevor sich junge Muslime für den Dschihad rekrutieren lassen, nicht die europäische Identität und rettet sie sozusagen vor der Radikalisierung? Franziska Brantner meinte, die Frage nach der Identität sei sehr schwierig:
"Ich glaube, das klappt auf der nationalen Ebene schon nicht, und klappt noch weniger auf der europäischen, wo es ja auch nicht für alle Europäer - im Sinne von: egal wer - klappt. Und ich glaube, dass da dieses Versprechen, dass man eben gemeinsam etwas Neues auch aufbaut, nicht funktioniert."
Das Gespräch wanderte hier- und dorthin
Warum funktioniert es nicht, das "Versprechen, gemeinsam etwas Neues aufzubauen"? Dass Migranten permanent Ausgrenzung erfahren, wurde nur am Rand gestreift. Das Gespräch wanderte hier- und dorthin, verlor sich in einzelnen Ansichten zu diesem und jenem, ohne eine erkennbare Richtung. Lediglich, als Carolin Emcke einmal fragte, was denn so attraktiv an Gewalt und am Töten sei - wovon ja offensichtlich alle Diskutanten ausgingen; sie würde das nicht verstehen -, kam ein bisschen Leben in die Runde. Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer meinte:
"Ich glaube, der Kampf ist das Attraktive, der Kampf gegen das Böse, dass man tatsächlich etwas machen kann, dass man ausbrechen kann aus der Konvention, dass man jemand sein kann, dass man in einer Gemeinschaft ist, dass man anerkannt wird, und dass man tatsächlich auch etwas bewirkt."
Emcke: "Aber wir reden schon von Genickschuss, wir reden schon von Leuten, die wirklich…"
Krämer: "Aber nicht jeder."
Milo Rau, der gerade an einem Projekt im afrikanischen Kongo arbeitet, brachte eine andere Perspektive ins Gespräch:
"Man muss die politische Konsequenz dieser Taten, auch des Charlie Hebdo-Anschlags und so weiter, man muss die ernst nehmen als eine Antwort auf das europäische Projekt. Wir tun gerade so als würden wir das europäische Projekt als das universalste von allen anstreben. Wir sind noch zu klein, aber wie werden es irgendwann schaffen, über uns hinauszuwachsen. In Wahrheit ist es für 90 Prozent der Weltbevölkerung ein partikulares aggressives Festungsprojekt."
Phänomene unzutreffenderweise als privat verhandelt
Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer sagte, das Versprechen der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - hätte nur für Europa gegolten. Die Politikerin Franziska Brandtner kritisierte, bei Charlie Hebdo wäre wieder nur gesagt worden, der Islam gehöre zu Deutschland, anstatt "Der Islam gehört zu Europa". Und Milo Rau stellte fest:
"Auch, zum Beispiel, Charlie Hebdo, das war ja wirklich eine schreckliche Tat, die dann propagandatechnisch ausgenutzt wurde, um eine europäische Ideologie der Toleranz wirklich mal ganz klar zu zeigen. Zu zeigen, das ist Europa, das sind unsere Werte, und so sieht's aus. Und wer diese Werteskala nicht akzeptiert, der gehört nicht zu Europa. Um das mal ganz klar und fest zu machen und von allen dieses Bekenntnis abzufordern. Was eine imperiale Ideologie ist, was ich nicht ablehne als Ideologie, weil sie liberal und tolerant ist, die für mich in dem Moment problematisch wird, weil sie an den Grenzen Europas aufhört."
Als nach eineinhalb Stunden die Podiumsdiskussion für das Publikum geöffnet wurde, kamen von dort Anmerkungen, die bislang fehlten: Etwa: Das Motto der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - sei wohl deshalb so attraktiv gewesen, weil es damals noch nicht mit der Aufforderung zum permanenten Wettbewerb und zur Effektivität verbunden war.
Außerdem würden Phänomene unzutreffenderweise als privat verhandelt. Wird der junge Muslim zum Dschihadisten, hatte er in der Familie ein Problem. Das Politische, also die gesellschaftliche Dimension, bliebe dabei außen vor. Zu einer kritischen Selbstbefragung, was die europäische Idee ist und welcher Realität sie sich heute gegenüber sieht, kam es leider in dieser Streitraum-Diskussion nicht.
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