Islamischer Staat

"Man erobert den Westen nicht durch Terror"

Zwei Männer und Blumen erinnern vor dem Pariser Café Le Carillon an die Attentatsserie.
Das Café Le Carillon war eines der Anschlagsziele in Paris. Hier töteten die Attentäter mindestens 14 Menschen. © afp / Lionel Bonaventure
Yassin Musharbash im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.11.2015
Mit den Anschlägen von Paris hat die Terrormiliz IS aus Sicht des Nahostexperten Yassin Musharbash keinen entscheidenden Schritt nach Europa gemacht. Man erobere eine Stadt oder gar den Westen nicht durch Terror, sagt der Journalist.
Zwar strebe der IS die Weltherrschaft an, so Yassin Musharbash. Aber: "Man erobert den Westen überhaupt nicht, wenn man der Islamische Staat ist und maximal 30.000 Kämpfer zur Verfügung hat. Damit kann man höchstens eine weitere irakische Stadt erobern, wenn man Glück hat. Da muss man mal die Kirche im Dorf lassen, was die Kapazitäten dieser Gruppe angeht."
Der IS will zeigen, dass er zur Vergeltung fähig sei
Strategisch gedacht hätten die Attentate in der französischen Hauptstadt vor allem drei Komponenten: Zunächst könne der IS nun behaupten, dass er zur Vergeltung fähig sei:
"Wenn man ihm etwas tut, so wie die Franzosen durch die Luftschläge, dann ist er in der Lage zu reagieren".
Zum zweiten wolle der IS neue Anhänger gewinnen: Terroranschläge im Westen ließen ihn stark und mächtig erscheinen. Schließlich gebe es noch ein mittelfristiges Ziel - die so genannte "Ausmerzung der Grauzone", so Musharbash:
"Anschläge im Westen sollen dazu führen, dass wir überreagieren - und ein Teil dieser Überreaktion soll die Diskriminierung von Muslimen aus Angst sein. Das zwingt Muslime dann - so stellt der IS sich das vor - in die Situation, in der sie sich entscheiden müssen: Entweder schließen sie sich dem Lager der Ungläubigen an und bleiben sozusagen auf unserer Seite - dann sind sie Feinde. Oder sie wechseln aus Frust über die Diskriminierung auf die 'gute Seite' aus Sicht des IS und werden Mitglieder des IS."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Der amerikanische Präsident, der britische Premierminister und zum Beispiel auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagen immer noch ISIL und reden vom Islamischen Staat im Irak und der Levante. In Deutschland heißt es oft noch ISIS, Islamischer Staat im Irak und Syrien, französische Politiker verwenden inzwischen immer häufiger den arabischen Begriff Daesh, und wir in Deutschlandradio Kultur reden vom so genannten Islamischen Staat. Gemeint ist immer das Gleiche. Aber ist es auch wirklich gleich, was man sagt? Darüber und vor allem über die Ziele dieser Organisation reden wir jetzt mit Yassin Musharbash, Journalist und Redakteur im Investigativressort der Wochenzeitung "Die Zeit". Schönen guten Morgen, Herr Musharbash!
Yassin Musharbash: Guten Morgen!
Kassel: Was sagen Sie denn?
Musharbash: Ich sage Islamischer Staat, und versuche aber, so oft wie möglich wenigstens die Abkürzung zu verwenden, IS.
Kassel: Wenn man sagen würde, ISIL oder ISIS – es ist mehr oder weniger das gleiche Gebiet, was man damit meint –, dann würde man ja auch unterstellen, die wollen nur dort, ungefähr im Staatsgebiet des heutigen Syrien und Irak etwas erreichen. Das wäre ja an sich auch schon falsch, oder?
Musharbash: Ja, das ist eine Komponente, weswegen ich das ein bisschen unglücklich finde. Vor allem aber finde ich IS besser, weil die Gruppe selber sich IS nennt. Sie hat sich früher Islamischer Staat im Irak und Großsyrien genannt, und sie tut das nicht mehr seit dem Juni 2014. Und es hat etwas für sich, eine Gruppe so zu nennen, wie sie sich selbst auch nennt. Wir tun das bei anderen Terrorgruppen übrigens auch. Wir haben das bei der RAF so gehandhabt oder beim Leuchtenden Pfad, und bei vielen anderen Gruppen auch.
"Daesh" hat im Arabischen abwertende Konnotationen
Kassel: Wie haben aber Al Kaida nie irgendwie ins Deutsche übersetzt oder ins Englische. Was spricht jetzt bei dieser Gruppierung dagegen, Daesh zu sagen?
Musharbash: Weil Daesh nicht die Übersetzung ist von Islamischer Staat, die Übersetzung beziehungsweise das arabische Original. Sondern Daesh ist ein Akronym, ein Kunstwort, das entsteht, wenn man die arabischen Anfangsbuchstaben der alten Bezeichnung Islamischer Staat in Irak und Großsyrien, als ein Wort ausspricht, so ungefähr, wie Sie die Abkürzung NATO als Wort aussprechen. Und Daesh hat Konnotationen im Arabischen, die abwertend sind. Darum wird dieser Begriff ausschließlich von IS-Gegnern verwendet, und der IS selbst hat die Benutzung dieses Begriffs verboten in seinen Gebieten.
Kassel: Was einen natürlich in Versuchung bringen könnte als Europäer, sie dann erst recht so zu nennen. Aber wenn wir sie nun so nennen, wie sie sich selbser nennt, Islamischer Staat, dann sagen wir damit auch was? Was wollen die wirklich? Wie groß ist dieser Islamische Staat in deren Augen idealerweise?
Musharbash: Natürlich haben Sie recht. An der Selbstbezeichnung hängt ein Anspruch, und zwar ein je nach Perspektive entweder vollkommen wahnsinniger oder ein heilsgeschichtlich relevanter. Der IS würde sagen: Im Koran steht geschrieben, am Ende der Tage, vor dem Tag der Auferstehung, werden die wahren Gläubigen die Ungläubigen besiegen in einer letzten, finalen Schlacht. Und diese Schlacht steht kurz bevor, und es ist unsere Aufgabe, quasi die wahren Gläubigen zu führen.
Und dafür müssen wir erst mal eine Basis errichten, und das ist dieser Islamische Staat, dieser einzige wahrhaft islamische Staat, den wir gründen wollen. Und ausgehend von diesem Staat, von einer Zelle, die wir gegründet haben für diesen Staat, soll der irgendwann einmal den ganzen Erdball umspannen. Deshalb die Welteroberungsrhetorik des Islamischen Staats.
Viele IS-Anhänger glauben, dass die Apokalypse kurz bevorsteht
Kassel: Ist das eine Verschwörungstheorie, oder ist das ein ernst gemeinter Plan?
Musharbash: Das trifft sich irgendwann, glaube ich. Es gibt beim Islamischen Staat tatsächlich Anhänger und Mitglieder, die wirklich glauben, dass die Apokalypse kurz bevorsteht, die hoffen, dass sie dabei sind bei der Endschlacht der Welten. Und es gibt andere, die haben ein wesentlich prosaischeres Verständnis von dem, was im Moment vor sich geht und glauben, dass es eher ein Projekt ist, das möglicherweise zu ihrer Lebenszeit nicht mit der Weltherrschaft zu Ende gehen wird. Aber für viele ist das tatsächlich ein Antrieb.
Kassel: Es gibt aber, das kursiert seit Langem nicht nur durchs Internet, auch die seriöse Presse, aber angeblich doch eine Art Sieben-Punkte-Plan des IS, und laut dem, wenn ich es richtig gelesen habe, soll eigentlich die Weltherrschaft schon 2020 erreicht sein.
Musharbash: Dieser berühmte Plan ist kein Plan. Ich darf das deshalb mit einer gewissen Autorität sagen, weil ich als Journalist vor zehn Jahren der Erste war, der das auf Deutsch und Englisch zugänglich gemacht hat, diese Überlegungen. Die gehen zurück auf Gespräche, die ein jordanischer Terrorexperte, Fuad Hussein, geführt hat vor über zehn Jahren mit einer ganzen Reihe hochrangiger Al-Kaida-Kader, die er gefragt hat: Was wollt ihr eigentlich, was glaubt ihr, wie das hier laufen wird, im besten Fall sozusagen, aus eurer Sicht?
Und aus mehreren Antworten, die er bekommen hat, hat er eine Collage zusammengestellt, und diese Collage verdichtet zu einem Siebenstufenmodell und hat gesagt, guckt mal, so stellen die sich das vor. Und dieses Stufenmodell kursiert bis heute, und das Erstaunliche ist, dass dabei einige Aussagen getroffen worden sind, die tatsächlich sich im Nachhinein so anhören, als habe da jemand die Zukunft relativ genau vorhergesagt. Dieses Dokument hat also bis heute, ich sage mal ein bisschen abgeklärt, einen gewissen Charme, weil einiges davon eben tatsächlich zutrifft. Aber ich glaube nicht, dass es mit der Weltherrschaft der Dschihadisten in wenigen Jahren sich weiter bestätigen wird.
Der IS kann höchstens eine weitere irakische Stadt erobern
Kassel: Aber wie passen denn, egal ob nun in diesem Siebenpunkteplan oder auch die Pläne, wie Sie sie schon beschrieben haben des sogenannten IS, wie passen da die Terroranschläge in Paris wirklich rein? Ist das sozusagen ein Schritt in Richtung Europa erobern, oder geht es, wie andere sagen, jetzt erst mal nur darum, für weitere Kämpfer attraktiv zu werden?
Musharbash: Man erobert eine Stadt nicht durch einen Terroranschlag. Man erobert den Westen nicht durch Terror. Man erobert den Westen überhaupt nicht, wenn man der Islamische Staat ist und maximal 30.000 Kämpfer zur Verfügung hat. Damit kann man höchstens eine weitere irakische Stadt erobern, wenn man Glück hat. Da müssen wir mal die Kirche im Dorf lassen, was die Kapazitäten dieser Gruppe angeht. Operativ und strategisch und mittelfristig gedacht, hat der Anschlag in Paris vor allem drei Komponenten. Das eine ist, der IS kann danach behaupten, dass er in der Lage ist, Vergeltung zu üben: Wenn man ihm was tut, so wie die Franzosen durch die Luftschläge, dann ist er in der Lage, zu reagieren.
Das Zweite ist, dass der IS neue Anhänger gewinnen will, Sie sagten das schon. Dafür muss er Anschläge begehen im Westen, weil ihn das mächtig und stark erscheinen lässt. Die dritte Komponente ist eher mittelfristig ausgelegt: Der IS sagt selbst in seinen ideologischen Schriften, dass er ein Projekt betreibt, dass er die Ausmerzung der Grauzone betreibt.
Was er damit meint, ist: Anschläge im Westen sollen dazu führen, dass wir überreagieren, und ein Teil dieser Überreaktion soll die Diskriminierung von Muslimen aus Angst sein. Und das zwingt Muslime dann, so stellt sich der IS das vor, in eine Situation, in der sie sich entscheiden müssen. Entweder schließen sie sich dem Lager der Ungläubigen an und bleiben sozusagen auf unserer Seite, dann sind sie Feinde, oder sie wechseln aus Frust über die Diskriminierung auf die gute Seite aus Sicht des IS und werden Mitglieder des IS.
Kassel: Yasmin - Entschuldigung: Yassin Musharbash - ich bin noch immer so ergriffen von dem, was Sie gesagt haben über die Ziele des IS, aber auch darüber, wie wir vielleicht idealerweise nicht in seine Fallen tappen sollten. Herr Musharbash, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
Musharbash: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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