Islam

Theologie des Herzens

Von Rainer Kampling · 23.03.2014
In seinem Buch plädiert der islamische Religionspädagoge Mouhanad Khorchide für ein neues Verständnis der Scharia. Juristische Kategorien seien für ihn nicht entscheidend, schreibt er. Strenggläubige Muslime hören das nicht gerne.
Er hat bereits 2012 mit seinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit" für Aufsehen gesorgt. Zuspruch und Ablehnung zugleich fanden seine Grundzüge einer modernen Religion, die er aus einer neuen Lesart des Korans entwickelt. Und auch Mouhanad Khorchides neues Buch zur Scharia löste schon eine heftige Debatte aus.
Außenstehende kann deren Vehemenz verwundern, bisweilen freilich auch erschrecken, ja an dunkle Zeiten konfessioneller Streitigkeiten erinnern, wenn etwa polemisch behauptet wird, der Münsteraner Theologe sei vom Islam abgefallen. Eine Erklärung für diesen Umstand ist gewiss sein Erfolg.
Er verfügt über eine Fähigkeit, die unter Wissenschaftlern nicht häufig anzutreffen ist, nämlich Fachfragen so zu vermitteln, dass sie auch Lesern ohne Vorwissen verständlich werden. Sein Stil ist nie doktrinär, sondern dialogisch. Und da er mit seiner Analyse an die europäische Geistesgeschichte anknüpft, beheimatet er den Islam in ihr.
Dialogischer statt doktrinärer Stil
Denn letztlich beschäftigt er sich mit einer Frage, die im Judentum und Christentum bereits lange verhandelt wird, nämlich, wie das Verhältnis der nachfolgenden Zeiten zum Urdatum der Gründung zu bestimmen ist. Alle drei Religionen halten daran fest, dass dem Anfang normativer Charakter zukommt. Alle drei Religionen stehen gleichermaßen vor der Aufgabe zu klären, welche der verschiedenen Interpretationen des Anfangsereignisses verbindlich sind. Es geht um Sakralität von Tradition, darum also, Sachverhalte als wahr und unumstößlich anzusehen, weil dahinter Gottes Worte wahrgenommen werden.
Dass Khorchide die Rolle der Scharia aufarbeitet, beweist ohne jeden Zweifel seinen Mut. Denn für viele Nichtmuslime ist der Begriff durchgängig negativ besetzt. Mit ihm verbinden sich Imaginationen des Schreckens und des Terrors. Für die meisten Muslime bedeutet Scharia ein rechtliches System, an dem sie sich ausrichten und das sie peinlichst befolgen müssen, um als Glaubende zu gelten.
Damit hat der Begriff der Scharia für die Fremdwahrnehmung und die Selbstwahrnehmung gleichermaßen große Bedeutung. Und mit beiden will der islamische Religionspädagoge brechen.
"Im vorliegenden Buch möchte ich ein neues Verständnis von Scharia darlegen: Scharia nicht als Schema, das die Gott-Mensch-Beziehung über juristische Kategorien definiert, sondern als Beschreibung eines Weges zu Gott, als ein Weg des Herzens, der nah an der koranischen Vorstellung ist. Das Praktizieren des Islams beginnt mit dem Praktizieren des Herzens."
Rituale und Vorschriften ohne Selbstzweck
Mit diesen Sätzen gibt er das Leitmotiv seines ganzen Buches vor. Er entwirft eine islamische Theologie der "Innerlichkeit". Der glaubende Mensch werde nicht durch die Rituale konstituiert, sondern die Rituale lebten davon, dass der Mensch sie ohne Furcht aus tiefer Überzeugung praktiziere. Rituale und Vorschriften seien kein Selbstzweck, sondern hätten ihre Berechtigung, insofern sie dem Menschen zu einer wahren Religiosität verhelfen.
In mehreren Schritten vertieft Mouhanad Khorchide seine Grundthese. Er stellt die fünf Säulen des Islam, das Glaubensbekenntnis sowie die Pflichten zum Gebet, zum Almosengeben, zum Fasten und zur Pilgerreise, er stellt diese und andere Grundsätze in Beziehung zu einer religiösen "Praxis des Herzens". Sie seien notwendig, aber nicht hinreichend für ein religiöses Leben, da sie das Individuum nicht aus der eigenen Entscheidung entlassen. Deswegen sieht er den Menschen unterwegs im Dialog mit Gott.
"… als Weg zu Gott, und das ist der Weg des Herzens, der wiederum durch eine gerechte Gesellschaftsordnung begünstigt wird. Das reine Herz leistet seinerseits einen Beitrag zur Herstellung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Für diesen Weg zu Gott gibt es keine konkreten juristischen Rezepte ...“
Und in diesem Sinne setzt er sich sodann mit den Hauptquellen der islamischen Normenlehre theologisch auseinander. Dieses umfangreiche Kapitel ist zweifelsohne sehr lehrreich. Auch wenn man dem Autor nicht zustimmen wollte, liest man es mit Gewinn.
Um die Normen unter dem Begriff Scharia zu bewerten, verortet er die Texte kritisch in ihrem historischen Kontext und beurteilt sie danach, ob und inwieweit sie der zentralen Aussage von der Barmherzigkeit Gottes entsprechen. Schließlich setzt er sich mit der Glaubensrichtung der Salafisten auseinander und versucht zu erklären, warum rigides Denken auf muslimische Jugendliche in Deutschland attraktiv wirkt.
Weg zu einer Befreiung aus Zwängen
Mouhanad Khorchide hat eine Deutung der Scharia entworfen, die von einem anthropologischen Ansatz und einem dialogischen Gottesverständnis ausgeht. Er versteht die Scharia nicht nur als Weg zu Gott, sondern auch als Weg des Menschen zu einer Befreiung aus Zwängen, zu einem Leben, in dem der Mensch sich als glaubendes Subjekt erfährt. Mithin leistet der islamische Religionspädagoge aus Münster einen Beitrag zur religiösen Aufklärung.
Dass er dabei historische und gegenwärtige Erscheinungen im Islam kritisieren muss, ist unumgänglich, auch wenn es ihm heftige Reaktionen einbringt – mal von strenggläubigen Muslimen, mal von Skeptikern, die in diesem Buch die Quadratur des Kreises erkennen, da sie meinen, der Islam leiste keinen Beitrag zur Humanität von Individuum und Gesellschaft.
Mouhanad Khorchide: Scharia - der missverstandene Gott
Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik
Herder Verlag, Freiburg 2013
232 Seiten, 18,99 Euro
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