"Irgendwie mehr der Nahe Osten"

Arye Sharuz Shalicar im Gespräch mit Frank Meyer · 29.10.2010
Sein Buch heißt "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude". Es ist die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. Als Kind in Berlin erlebte Arye Sharuz Shalicar den Hass seiner muslimischen Mitschüler auf "den Juden".
Frank Meyer: Und jetzt ist Arye Sharuz Shalicar hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Seien Sie herzlich willkommen!

Arye Sharuz Shalicar: Guten Tag!

Frank Meyer: Wir haben ja gerade gehört, dass Ihnen erst mit 13 Jahren bewusst wurde, dass Sie überhaupt Jude sind, das heißt, in Ihrer Familie wurden die jüdischen Traditionen überhaupt nicht gepflegt. Haben Ihre Eltern sich überhaupt noch selbst als Juden verstanden?

Shalicar: Meine Eltern haben mich als jungen Berliner nie irgendwie in diese jüdische Ecke versucht zu erziehen, sage ich mal. Wir haben weder Feiertage gefeiert, noch hatten wir irgendwie den Shabbat, noch haben wir koscher gegessen, Besuche im jüdischen Gemeindehaus waren auch selten. Und so haben, denke ich, meine Eltern, weil als ich dann ins Gespräch kam mit meinen Eltern nach den ersten Erlebnissen in Wedding, wo ich gefragt habe, was heißt das, Jude zu sein, hat mein Vater mir halt eine Reaktion gegeben, die mir halt gesagt hat, ja, wir sind Juden. Aber das Verständnis, was es heißt, Jude zu sein, kam dann über mein Umfeld eher.

Frank Meyer: Und dieses Coming-out als Jude oder diese Erfahrung, dass Sie Jude sind, das haben Sie 1990 im Berliner Stadtteil Wedding erlebt, mitten unter türkischen, libanesischen, arabischen Migranten. Wie fing das dort an, dass Ihnen gesagt wurde: Du bist Jude, du störst uns, du bist unser Feind?

Shalicar: Ja, also in erster Linie wird man in Bezirken wie der Wedding, also das sind wirklich Ausländergettos kann man sagen, wo halt ein ganz heftiger Anteil von Jugendlichen halt muslimischen Glaubens sind, wird man halt nicht nur gefragt, wie du heißt auf dem Fußballplatz oder in der Schule, sondern auch, ob du Türke oder Araber bist und ob du Moslem bist. Und ich sehe halt aus wie ein Moslem in Deutschland, weil ich halt dunkler Natur bin – als persischer Jude.

Und es fing dann an, dass ich die ersten negativen Reaktionen erhalten habe, ob das in der U-Bahn, auf der Straße, auf dem Fußballplatz war. Aber ein Schlüsselerlebnis war halt in der neunten Klasse. In meiner neuen Klasse hatte ich einen guten indischen Freund namens Mahavir, der mich nach zwei, drei Monaten, wo wir beste Freunde waren, hat mir den Rücken gekehrt von ein auf den anderen Tag, nachdem er erfahren hat, dass ich Jude bin. Und es war, dass wir im Deutschunterricht einen Text gelesen haben, wo es um eine jüdische Familie während des Zweiten Weltkrieges ging, wo ich halt gemerkt habe, aha, damit habe ich irgendwie wahrscheinlich zu tun, und hatte Interesse zu erfahren, was ist da passiert.

Und er gesagt hat: Sharuz, bist du nicht auch der Meinung, dass alle Juden verrecken müssen? Das sind unsere Feinde. Und ich ihm dann gesagt habe: Wieso soll ich so denken? Und er gesagt hat: Wir sind Moslems, du musst doch genauso denken wie ich. Und ich gesagt habe: Wieso denkst du, dass ich ein Moslem bin? – Weil du Iraner bist? – Und ich gesagt habe: Wieso muss jeder Iraner Moslem sein? Und er daraufhin gesagt hat: Natürlich, es gibt keine jüdischen Iraner. Ich dachte ja auch nicht, dass es indische Muslime gibt. Im Endeffekt habe ich dann am nächsten Tag den Davidstern von meiner Großmutter geschenkt bekommen damals, mitgenommen und ihm den gezeigt. Und von dem Tag an fing der Spießrutenlauf an.

Frank Meyer: Sie wurden dann immer wieder auch auf der Straße darauf angesprochen und regelrecht bedroht?

Shalicar: Ohne Ende, tagtäglich. Ich war in der neunten Klasse, zehnten Klasse, und selbst Sechst-, Siebent-, Achtklässler kamen auf mich zu, von allen möglichen Ecken Weddings und haben gefragt: Bist du wirklich Jude? Wir haben gehört … Und negative Erlebnisse waren in erster Linie auch körperlich, wo ich dann halt mit Schlagstöcken oder Messern irgendwie bedroht wurde, wegrennen musste teilweise, aber schlimmer waren fast noch die Gespräche, die ich führen musste, wo mir halt – ob das jetzt in der Schule war, wo halt ein Erlebnis war, wo ich in der neunten Klasse von drei Zwölftklässlern auf dem Schulhof angesprochen wurde, im Flur, und mir gesagt wurde: Jude, du hast auf dieser Schule nichts zu suchen, wenn du uns siehst, senkst du deinen Blick, du guckst uns nicht in die Augen, sonst geschieht dir was.

Frank Meyer: Auf der anderen Seite aber, das haben wir auch schon gehört, sind Sie dann Gangmitglied geworden bei einer türkischen Gang, also einer Jugendgruppe, die mit allerlei kriminellen Aktivitäten da unterwegs war im Wedding und anderswo. Wie ging das aber dann, warum waren Sie da nicht ausgeschlossen als Jude?

Shalicar: Also ich muss dazu betonen, also ich hab Anschluss gesucht, also ich war wirklich als 14-, 15-Jähriger, wenn man da sich als Outsider vorkommt, dann merkt man, man muss bei den Jungs irgendwie ankommen, man muss mit denen sein, weil hier wohnt man, hier geht man jeden Tag nach Hause. Und ich hatte es irgendwann satt zu überlegen, welchen Weg wähle ich nach Hause, damit mir nichts passiert. Ich bin … Übers Sprühen habe ich mir einen kleinen Namen gemacht und habe …

Frank Meyer: Also Graffiti sprühen?

Shalicar: Graffiti, hab Graffiti angefangen zu sprühen und hab meinen Respekt dann langsam, langsam mir erarbeitet und bin so … Langsam, langsam habe ich mich mit mehreren Menschen angefreundet, unter anderem einem Araber namens Hussein und mehreren Türken, die zu mir hielten, von Anfang an, und für die das Jüdisch-Sein keine Rolle gespielt hat, die wie Brüder zu mir waren, bis heute noch. Gerade in der türkischen Gang ging es mir relativ gut. Da hat mich eigentlich niemand wirklich angemacht deshalb. Aber es gab in den Straßen Weddings Menschen anderer Gesinnung oder die mich tagtäglich immer wieder darauf angesprochen hatten, selbst während ich noch in den Gangs war.

Frank Meyer: Was auch beeindruckend ist an Ihren Schilderungen, wenn man Ihr Buch liest, Sie leben da, das ist ja mitten in Berlin, wo das Ganze spielt, eben in diesem Stadtteil Wedding, aber man hat das Gefühl, wenn Sie das beschreiben, der deutsche Staat ist eigentlich Lichtjahre entfernt. Weil es gibt, Sie beschreiben zum Beispiel, es gibt den Ehrenkodex, wir rufen nicht die Polizei. Was auch passiert, wenn jemand mit Messern abgestochen wird, die Polizei wird nicht gerufen, das ist Verrat. Oder in der Schule, Sie haben es gerade beschrieben, wo Sie gemobbt wurden, die Lehrer haben sich ja auch überhaupt nicht eingemischt. Wir diskutieren ja in Deutschland immer, gibt es Parallelgesellschaften bei uns, das war offenbar eine echte Parallelgesellschaft.

Shalicar: Das ist komplett richtig. Also Wedding ist wie so ein anderes Land gewesen fast schon. Und wenn man eine U-Bahn-Station weiter fuhr, Richtung Bernauer oder Bornholmer oder Wollankstraße rausgefahren ist, dann hat man schon im Gefühl gehabt, man ist irgendwie in einem anderen Land. Und ich hab mich damals, weil ich halt im Wedding groß geworden bin, ich hab mich auch woanders unwohl gefühlt. Ich hab gefühlt, dass ich in diesem Bezirk gleich aussehe, wie alle anderen, aber sobald man eine U-Bahn-Station weiter fährt, man sich schon fast komisch vorkommt, nicht dazugehörig. Und es ist nicht nur eine Parallelgesellschaft oder eine Parallelwelt, sondern mehrere, die aufeinanderstoßen und untereinander auch zerstritten sind.

Da gibt es die türkische, die kurdische, die libanesische, die palästinensische, und die mögen sich teilweise auch nicht und die hassen sich teilweise noch mehr als Türken vielleicht mit einem Juden nicht klarkommen oder ein Araber mit einem Deutschen nicht. Und das sind mehrere Gesellschaften, die aufeinanderstoßen, und es ist so intensiv in diesen Gebieten, dass das teilweise sehr radikal wirkt und Jugendliche in einer aggressiven Gesellschaft fast schon groß werden und Hass fast auf alles andere haben, was nicht von ihnen ist. Ich war der Jude, der andere war der Pole, dann gab es die Deutschen, und natürlich auch ging alles, was um den Bezirk herum ist, das heißt Berlin, Deutsche, der Staat, die Gesellschaft und teilweise auch das Moderne, und so ist man ausgegrenzt.

Frank Meyer: Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, wie es zu dieser extremen Abschottung kommt in diesen Milieus? Das betrifft ja natürlich nicht alle Migranten, aber es gibt eben diese Gruppen auch.

Shalicar: Erst mal, muslimische wie auch andere Migranten sind gesund für jede Gesellschaft auf der Welt, auch in Deutschland, und Spandau ist zum Beispiel ein Bezirk, wo ich selber, wo ich groß geworden bin bis zum 13. Lebensjahr, türkische, kroatische, deutsche Freunde hatte, und da lief das gut. Wir hatten nie irgendwie Probleme miteinander. Aber im Wedding gibt es halt eine Ansammlung von bestimmten ethnischen Gruppen sage ich mal oder Muslimen in erster Linie, die halt so sehr aufeinandersitzen, dass man schon gar nicht mehr deutsch sprechen braucht. Und man fühlt auch nicht, dass der deutsche Staat sich wirklich interessiert, wie es jemandem geht im Wedding. Und dazu muss ich sagen, ich sehe – ich bin ja dunkler Natur, und ich wurde in Deutschland halt auch als Moslem gehalten.

Und in dem Sinne habe ich sowohl von der deutschen Seite halt Reaktionen bekommen oder gefühlt als jemand, der halt wie ein Moslem aussieht, sowohl von den Muslimen als Jude. Und in dem Sinne, ich fühle teilweise das Leid gerade von moderaten Muslimen, die versuchen, Teil Deutschlands zu sein, aber es schwer haben, denen Steine in den Weg gelegt werden. Und teilweise sind schuld daran die radikaleren Elemente, gerade in diesen Problembezirken, die das Ganze runterziehen und dem Außenstehenden das Gefühl vermitteln, dass jeder Moslem oder jeder, der in dieser Gegend wohnt, schlecht ist.

Frank Meyer: Sie haben gerade das Problem Deutschsprechen angesprochen. Es ist ja so, dass es jetzt Pilotprojekte gibt, wo man sich verabredet an Schulen, wir reden hier Deutsch und nichts anderes, und gerade die Bundesregierung hat in dieser Woche beschlossen, mehr Druck auf Migranten in Sachen Integration auszuüben, zum Beispiel die Teilnahme an Integrationskursen stärker zu kontrollieren und Strafen auszusprechen, wenn man nicht teilnimmt an solchen Kursen. Denken Sie denn, dass solcher Druck auf die Migranten etwas bringen könnte?

Shalicar: Schwer zu sagen, im Endeffekt, man muss verschiedene Richtungen versuchen. Man muss das aus verschiedenen Richtungen angehen das Problem. Und ich wurde auch darauf mal angesprochen, dass die deutsche Sprache, wer nicht Deutsch spricht, das ist ein Problem, aber ich hab alles, bei uns liefen die Gespräche auf Deutsch. Und nicht die Sprache ist das Problem, sondern die eigene Identität, die Menschen in diesen Bezirken teilweise über dem stellen, als wo sie leben. Und die Zugehörigkeitssache, das ist das zentrale Problem. Viele muslimische Migranten auch fühlen sich zwischen allen Stühlen.

Frank Meyer: Jetzt sind Sie Sprecher der israelischen Armee, leben seit mehreren Jahren in Israel. Wenn Sie in Israel über Ihre deutschen Erfahrungen sprechen, erzählen Sie dann, wie Sie uns jetzt gerade erzählt haben, ich bin in Deutschland als Jude mit Hass verfolgt worden?

Shalicar: Es ist ziemlich lustig oder traurig, aber es kommt wirklich vor, dass ich im Ausland oft gefragt werde: In Deutschland als Jude, mein Gott, wie war das? Und hast du nicht Probleme mit Deutschen gehabt? Wegen der Geschichte halt. Und ich dann immer gesagt hab: Schau, also ich hab persönlich keinen großen Kontakt zu Deutschen gehabt während meiner Jugend, weil ich bin in einem Bezirk groß geworden, der halt irgendwie mehr der Nahe Osten war, und das Leute halt sehr amüsant finden fast schon.

Also es ist so das Chinatown Berlins irgendwie, halt nur muslimisch. Und ich dann erzählt hab, dass ich eher Bekanntschaft mit türkischstämmigen, muslimischen oder arabischstämmigen Jugendlichen gemacht hab, die eher den Antisemitismus irgendwie in sich hatten, nicht die Deutschen. Und bei der Bundeswehr, wo ich auch gedient hab, hatte ich eigentlich eher gute Erfahrungen gemacht, was aber daran lag, nehme ich an, weil ich – ich war bei den Sanitätern, das ist halt irgendwo eine Strebereinheit, sage ich mal, von Abiturienten und nicht irgendein Panzerbataillon, wo es dann mir vielleicht auch schlecht ergangen wäre.

Frank Meyer: Arye Sharuz Shalicar hat das Buch geschrieben "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude", die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. Das Buch ist DTV-Verlag erschienen und für 14,90 Euro zu haben. Sie können übrigens Arye Sharuz Shalicar noch erleben in Deutschland, er ist noch auf Lesereise. Zwei Termine gibt es noch: Heute liest er in Berlin und am Sonntag wird er in Frankfurt am Main beim Israel-Kongress dabei sein und dort auch aus seinem Buch lesen. Ich danke Ihnen sehr für den Besuch hier bei uns.

Shalicar: Vielen Dank!