Investitionsstau

Deutschland lebt von der Substanz

Rucksäcke in einer sanierungsbedürftigen Grundschule in Berlin.
Rucksäcke in einer sanierungsbedürftigen Grundschule in Berlin. © imago / Rolf Zöllner
Von Ulrike Herrmann · 05.09.2016
Deutschland geht es weniger glänzend, als es derzeit aussieht, warnt die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann. Denn sowohl Staat als auch Privatwirtschaft investierten zu wenig in Infrastruktur, Technologie und Bildung und setzen so unsere Zukunft aufs Spiel.
Deutschland scheint es bestens zu gehen: Die Steuern sprudeln.
Doch so paradox es ist: Obwohl der Bundeshaushalt eine "Schwarze Null" schreibt, lebt Deutschland auf Pump. Die Zukunft wird verpfändet, obwohl die Gegenwart so glänzend aussieht.
Denn der Reichtum von morgen ist nicht das Geld, das wir heute sparen. Der wahre Reichtum einer Gesellschaft sind die Maschinen, die Infrastruktur und die Forschungsergebnisse, die dafür sorgen, dass Produkte entstehen, die sich im In- und Ausland verkaufen lassen.

"Die Zahlen sind absolut dramatisch"

Doch genau diese Investitionen fehlen. Deutschland lebt von der Substanz. Die Zahlen sind absolut dramatisch. Wer schon einmal über eine marode Straßenbrücke gefahren ist, weiß, wovon die Rede ist. Aber auch für schnelle Internetverbindungen, erneuerbare Energien oder gute Bildung wird zu wenig Geld ausgegeben.
In den privaten Unternehmen ist es kaum besser: Auch dort wird viel zu wenig in die Forschung gesteckt – obwohl Deutschland davon lebt, modernste Technik zu exportieren.
Die zentrale Frage wäre also: Wie sorgt man dafür, dass genug investiert wird, um den Wohlstand von morgen zu sichern? Doch diese Frage wird fast nie gestellt.

Die "Schwarze Null" wird zum Selbstzweck

Stattdessen wird die "Schwarze Null" zum Selbstzweck, obwohl es eine Volksweisheit gibt, die so banal wie wahr ist: "Geld kann man nicht essen."
Wie kann es zu diesem Fehler kommen, dass die Investitionen vernachlässigt werden? Es wäre zu einfach, nur die Politik verantwortlich zu machen. Denn Minister sind auf die Beratung von Experten angewiesen.
Doch die Ökonomen versagen. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler gehören einer Tradition an, die sich "Neoklassik" nennt. Es ist eine Theorie, die letztlich so tut, als ob wir in einer fiktiven Tauschwirtschaft leben würden, die von nur einem einzigen Robinson Crusoe bewohnt wird. Denn schon zwei Wirtschaftssubjekte würden die mathematischen Modelle überfordern.
Der real existierende Kapitalismus kommt nicht vor: Investitionen, Großkonzerne oder auch der Staat spielen keine zentrale Rolle.

Keynes - alles andere als ein "linker Spinner"

Dabei gäbe es eine alternative Theorie, die bestens erklärt, was heute passiert: Sie stammt von dem britischen Ökonomen Maynard Keynes, der vor 70 Jahren gestorben ist.
Keynes rückte die Finanzmärkte ins Zentrum. Er zeigte, dass es jederzeit passieren kann, dass die Finanzanleger lieber mit Aktien oder Immobilien spekulieren, statt in echte Unternehmen zu investieren.
Genau diese paradoxe Situation haben wir derzeit: Die Börsen boomen, aber neue Maschinen werden kaum gekauft. Keynes hätte daher dringend empfohlen, dass der Staat einspringt und wenigstens seinen eigenen Investitionsstau auflöst.
Es war kein Zufall, dass Keynes so klar sah, wie verhängnisvoll die Finanzmärkte sind. Keynes war nämlich nicht nur ein berühmter Ökonom – sondern er war zudem professioneller Börsenspekulant. Er setzte auf Währungen, Rohstoffe und Aktien, nutzte Derivate und Kredite, spekulierte in London genauso wie an der Wall Street. Er war überaus erfolgreich und hinterließ ein Vermögen von umgerechnet 22 Millionen Euro.

Reine Spekulation muss unterbunden werden

Heute wird Keynes gern als "linker" Spinner abgetan. Das ist ein Missverständnis. Keynes war nicht links, sondern konservativ. Er stammte aus der britischen Elite, verkehrte in den Salons von Adligen und Premierministern. Keynes wollte den Kapitalismus retten, aber genau deswegen sah er so klar: Wenn man echte Investitionen in echte Firmen will, dann muss man die reine Spekulation unterbinden und das Finanzkasino wieder schließen.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung taz, ausgebildete Bankkauffrau, Historikerin und Autorin zahlreicher Sachbücher.
In diesen Tagen erscheint ihr neuer Titel "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung".

Die Wirtschaftskorrespondentin der "taz" Ulrike Herrmann, aufgenommen am 14.03.2010 in Köln
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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