Interpretation

Misreading "Deutschstunde"

Lenz
Siegfried Lenz © dpa / picture alliance / Axel Heimken
Von Michael Schikowski · 02.05.2014
Im Deutschen gibt es nur Missverstehen, kein Misslesen. Daher behilft man sich mit dem Englischen "misreading". Publizist Michael Schikowski knöpft sich eine interessengeleitete "FAZ"-Kritik von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" vor.
Auch Profis unterliegen dem misreading. Die Germanistik des 19. Jahrhunderts las die mittelalterlichen Darstellungen der Ritter als authentische Quellen. Das hat sie korrigiert. Nicht ohne auch festgestellt zu haben, dass solches misreading keineswegs aus Versehen geschieht, sondern im Gegenteil höchst interessegeleitet ist. So gab es ein Interesse des Kaiserreichs an geeigneten Vorbildern, an denen man sich aufrichten konnte. Heute gibt es eher ein Interesse am Richten.
Für eine Figur der "Deutschstunde“, den Maler Max Ludwig Nansen, orientiert sich Siegfried Lenz an der Biografie von Emil Nolde. Der fiktive Maler Nansen wird dabei aus der Sicht des fiktiven Ich-Erzählers Siggi Jepsen und eines fiktiven Diplomanden geschildert. Die Differenzen aber, die sich aus der Fiktion (Nansen) und Non-Fiktion (Nolde) ergeben, und die zudem von den Differenzen der fiktiven Mitteilungen der fiktiven Figuren über eine fiktive Figur überlagert werden, verrührt Jochen Hieber in der "FAZ" zu folgendem Satz:
"Es ist stupend, wie Siegfried Lenz dabei die Wirklichkeit Noldes zugunsten von Nansens fiktiver Biografie schönschreibt.“
Emil Nolde: Fiktion versus Wirklichkeit
Hieber betreibt hier misreading mit Vorsatz: Als habe Siegfried Lenz in der Fiktion des Malers Nansen zugleich eine Biografie Noldes vorlegen wollen. Dass er das nicht wollte, räumt auch der Kritiker ein. Aber:
"Es hilft ja nichts, wenn wir den Roman mit dem naheliegenden Argument zu retten suchen, er sei eben pure Fiktion. Gerade dessen Wirkungsgeschichte belegt das Gegenteil.“
Das misreading lag also bei denjenigen, die bei der Rezeption des Romans Nansen mit Nolde gleichsetzten?
Offensichtlich zündet das aber noch nicht richtig. So positioniert Hieber den Roman im Schussfeld des Antisemitismus. Im Roman erfindet Lenz für seine Figur Nansen einen oppositionellen Text, der 1938 in der Schweiz erscheinen musste. Hieber kontrastiert das mit einem echten Brief Noldes "einen Monat nach der Pogromnacht in Deutschland“, in dem Nolde auf seine "Kulturkämpfe (…) gegen die alles beherrschende jüdische Macht“ verweist. Dann macht Hieber den Sack zu:
"Solche 'Kulturkämpfe‘ sind dem Nansen des Romans fremd, mehr noch: Auf den 600 Seiten der 'Deutschstunde‘ fällt das Wort Jude nicht ein einziges Mal.“
Literaturgeschichte umschreiben
Die Tücke dieser Strategie liegt nun darin, dass den Prämissen der Argumentation eigentlich nur zugestimmt werden kann. So entsteht Hiebers Bausatz der Verleumdung:
Erster Hieb: Die Bezüge der Fiktion zur Non-Fiktion werden herausgestellt. Geben wir es doch zu: Nansen ist an Nolde orientiert.
Zweiter Hieb: Innerhalb der Non-Fiktion wird eine Wertung vorgenommen. Zweifellos ist der Nationalsozialismus ein Regime des Verbrechens.
Conclusio: Wenn sich nun Siegfried Lenz‘ Romanfigur an einer realen Person orientiert, die sich diesem Regime andiente und antisemitisch geäußert hat, ist dann nicht auch Lenz ein Antisemit?
Schließlich hat sich der Autor bislang nicht von Emil Nolde distanziert und dreisterweise seine literarische Figur auch noch als Widerständler gezeichnet. So dezidiert findet sich der Vorwurf bei Jochen Hieber in der "FAZ" freilich nicht. Damit Sie wie Hieber "Das habe ich nicht gesagt“ sagen können, dürfen Sie den Schluss also nicht selbst ziehen, sondern müssen nur etwas vom Umschreiben der Literaturgeschichte faseln.
Genau das belegt aber auch, dass es sich bei Jochen Hiebers Feuilletontext gewiss nicht allein um einen Fehler des literaturwissenschaftlichen Handwerks, sondern des Charakters handelt.
Michael Schikowski ist Lehrbeauftragter der Universität Bonn und in einem Frankfurter Verlag tätig. Auf seiner Webseite rezensiert er Sachbücher. Seit einigen Jahren stellt er Erzähler des 19. Jahrhunderts vor und liest aus ihren Werken. Er publizierte im Bramann Verlag "Warum Bücher?". Im September erscheint von ihm im selben Verlag "Über Lesen."
Publizist und Verlagsmanager Michael Schikowski
Publizist und Verlagsmanager Michael Schikowski© Privat
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