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"Sinneswechsel" - Essays
Zadie Smith öffnet ihr Schreibzimmer

In ihren gelungenen Essays zeigt sich Zadie Smith einmal mehr als Mensch mit einer undogmatischen Offenheit dem Leben gegenüber. So schreibt sie empathisch und realitätsnah über einen ehemaligen Kindersoldaten, die Oscar-Verleihung oder ihre Beziehung zu anderen Autoren.

Von Annette Brüggemann | 01.04.2016
    Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014
    Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014 (picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Zadie Smith wurde 1975 im Norden Londons geboren und lebt heute in New York. Ihr erster Roman "Zähne zeigen", 2001 erschienen, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ein internationaler Bestseller. Es folgten die Romane "Der Autogrammhändler", "Von der Schönheit" und "London NW". Nun ist ein Band mit Essays erschienen, der eine Bandbreite von Themen ihres kreativen Schaffens illustriert.
    "Das vorliegende Buch entstand hinter meinem Rücken. Oder besser gesagt: Mir war nicht klar, dass ich es geschrieben hatte, bis mich jemand darauf aufmerksam machte. Ich dachte eigentlich, ich schriebe an einem Roman. Und dann an einem gewichtigen theoretischen Werk über das Schreiben: 'Besser scheitern.' Beide Abgabetermine verstrichen. Und ich erledigte unterdessen die Anfragen, die hin und wieder eintrudelten. Fünf Seiten zum Thema Weihnachten? Zu Katherine Hepburn? Kafka? Liberia? So kamen irgendwann vierhundert Seiten zusammen."
    Der englische Titel von Zadie Smiths Essayband lautet "Changing My Mind", was wortwörtlich bedeutet: es sich anders überlegen. Der Titel formuliert eine Haltung, die Zadie Smith als Romanautorin verkörpert: die einer undogmatischen Offenheit gegenüber der Realität. Das bedeutet auch, dass hinter dieser Haltung eine Frau steht, die sich selbst hinterfragt und verschiedenste Blickwinkel zulässt. Genau davon zeugen die abwechslungsreichen und gelungenen Essays von Zadie Smith, die vom Schreiben und Reisen, von Hollywood und Familiengeschichten erzählen.
    Andere Autoren als "Echokammer"
    Ihr Essayband beginnt mit der Lektüre anderer Texte - vom Buchgeschenk "Vor ihren Augen sahen sie Gott" ihrer Mutter über biographische Betrachtungen Franz Kafkas bis hin zur Literaturtheorie von Roland Barthes. Zadie Smith beschreibt, wie wichtig die literarischen Stimmen anderer Autoren - sie nennt es Echokammer - für die Entwicklung ihres eigenen Schreibens gewesen sind:
    "Mit vierzehn ging ich im Geist eine Verbindung mit John Keats ein, die vor allem auf Klassenbewusstsein fußte - so veraltet das hier in Amerika auch klingen mag. Keats kam zwar nicht direkt aus der Unterschicht, und schwarz war er auch nicht - aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich seiner Lebenssituation doch sehr viel näher als der anderer Autoren, die mir unterkamen. Er vertrat kein solches Anspruchsdenken wie etwa Virginia Woolf oder Byron oder Pope oder Evelyn Waugh oder selbst P.G. Wodehouse und Agatha Christie. Keats gibt seinen Lesern die Möglichkeit, sich dem Schreiben durch die Hintertür zu nähern, die mit der Aufschrift "Auszubildende willkommen". Denn er ging seine Arbeit selbst wie ein Lehrling an; er legte eine Art Meisterprüfung des Geistes ab, allein und ganz gebührenfrei, in seinem kleinen Haus in Hampstead."
    Vom Lesen Anderer kommt Zadie Smith zu Texten über ihr eigenes Schreiben. Ihr fabelhafter Essay "In Zungen reden" ist ein Kabinettstück der besonderen Art. Sie entwirft darin als Tochter einer Mutter aus Jamaica und eines weißen britischen Vaters das Bild einer "Traumstadt", in der auch Barack Obama leben würde:
    "Sie ist ein vielstimmiger Ort, wo die einheitliche, einzigartige Identität illusorisch ist. Selbstverständlich stammt Obama von dort. Und ich ebenfalls. Wenn einem die persönliche Vielfältigkeit fast schon zu eindeutig ins Gesicht geschrieben steht, in die Gene, ins Haar und in das Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Beige der Haut - nun, dann sieht doch jeder, dass man aus Dream City stammt. In Dream City ist alles doppelt, alles vielfältig. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als Grenzen zu überschreiten und in Zungen zu reden. Nur so gelangt man von der Mutter zum Vater, vom Gespräch mit der einen Gruppe, die einen nicht schwarz genug findet, zur anderen, die einen für unzureichend weiß hält. In dieser Stadt setzt der Weise das Wörtchen 'ich' mit Vorsicht ein, weil dieses 'ich' als Phonem viel zu klar und einseitig ist, um die wahre Vielfalt seiner Erfahrungen abzudecken. Die Bürger von Dream City ziehen das Kollektivpronomen 'wir' vor."
    Spiel mit Identitäten
    Diese imaginäre Stadt liegt für Zadie Smith irgendwo zwischen dem Londoner Stadtteil Willesden - in dem sie aufgewachsen ist - und Cambridge, zwischen Streetstyle und Intellektualität. Es ist ein Ort, in dem Menschen mit einem modernen Bewusstsein leben, die Konventionen überwunden haben. Zadie Smith geht es um eine Synthese disparater Teile ohne deren Herkunft zu verleugnen und auch ohne sie in eine coole "Black Hipster"-Pose zu überführen. Ihre Vorbilder sind Dichter wie William Shakespeare oder Frank O’Hara.
    Es ist deren Spiel mit Identitäten, dem sie sich anverwandelt. Arthur Rimbaud, Walt Whitman und Allen Ginsberg ließen sich noch ergänzen in dieser Ahnenreihe der vielstimmigen Autoren, die mit ihrem Credo "Ich bin viele!" sowohl das Heilige als auch den Dreck besungen haben. Schon Zadie Smiths Debütroman "Zähne zeigen" erzählt von dieser Bandbreite des Lebens - vom missglückten Suizidversuch bis zur glücklichen Heirat - aus unterschiedlichen Perspektiven der ethnisch vielfältigen Charaktere.
    Ein Lob der Ambivalenz durchzieht ihre Texte wie ein roter Faden. Sie schreibt über die ungewöhnliche Weiblichkeit der italienischen Schauspielerin Anna Magnani; über einen ehemaligen Kindersoldaten in Liberia, der ein guter Mensch werden will; über großartige und miserable Kinofilme; über Weihnachten und Comedy; über das aufgeregte Hollywood im "Oscar"-Fieber - und das ohne den Namen irgendeines Schauspielers zu erwähnen:
    "Stell dir vor, du sollst einen Artikel über die Oscar-Verleihung schreiben und nennst dabei nicht einen einzigen Schauspieler beim Namen? Du weißt schon, so als Entmystifzierungsmaßnahme? Wie das wohl wäre? Wir müssten alle gemeinsam aus diesem Traum erwachen. Wäre das nicht zauberhaft?"
    Die beiläufige, lebendige Form und Sprache des Essaybands "Sinneswechsel" von Zadie Smith überzeugen. Sie schreibt persönlich, empathisch und realitätsnah. Mit ihren Essays öffnet Zadie Smith ihr Schreibzimmer für die Augen der Betrachter - also für uns Leser, die erleben dürfen, was Kreativität eigentlich meint: das Glück der Erkenntnis, Neugier und ein fortwährender Sinneswechsel, der nicht damit aufhört nach aktuellen Sujets zu suchen.
    Zadie Smith: "Sinneswechsel - Gelegenheitsessays", aus dem Englischen von Tanja Handels, Kiepenheuer & Witsch, Hardcover, 480 Seiten, 22,99 Euro