Internet

Die selbstverletzte Würde des Netz-Nutzers

Das Archiv der Stasiunterlagenbehörde in Berlin. Die Zukunft der Behörde ist ungewiss.
Das Archiv der Stasiunterlagenbehörde in Berlin. Die Zukunft der Behörde ist ungewiss. © dpa / picture-alliance / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Rolf Schneider · 26.09.2016
Wer lässt sich schon freiwillig überwachen? Alle? Im Internet geben Millionen Menschen Privatheit und Menschenwürde öffentlich preis. Im Vergleich zur heutigen Situation seien die Abhörmethoden der DDR-Stasi völlig veraltet gewesen, meint der Schriftsteller Rolf Schneider.
Unter älteren Ostdeutschen ein beliebter Gesprächsgegenstand ist die Idee, das Ministerium für Staatssicherheit des Erich Mielke wäre bereits im Besitz jener elektronischen Technik gewesen, die heute existiert. Die riesigen Archive mit ihren Karteikarten, Aktenordnern und laufenden Protokollen hätten dann Platz auf ein paar Festplatten gefunden.
Einzeldaten wären abrufbar gewesen durch einen Mausklick. Die hinter verhängten Fenstern lauernden Beobachter, üblicherweise eingesetzt in zwei Schichten, wären ebenso überflüssig geworden wie Überwachungskameras, Richtmikrofone und Spitzel. Alle Angaben über sich hätten die Oberservierten nämlich selber geliefert.
Ihren Tagesablauf, ihre Aufenthalte, ihre Ansichten, ihre Sorgen, Erfolge, Begierden und Aversionen hätten sie einem der sozialen Netzwerke mitgeteilt, in die sich die Stasi dann bloß noch hätte einklinken müssen.

Digitale Netzwerke haben die Stasi ersetzt

Die Stasi gibt es nicht mehr. Die drei Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland interessieren sich für das Privatleben gewöhnlichen Bundesbürger nicht oder noch nicht. An die Stelle der Stasi sind die Ausnutzer der digitalen Netzwerke getreten, also Marktforscher, Vertriebscenter, Werbefirmen und Personalchefs. Sie alle wissen über den jeweils Behelligten, so heißt es, oft mehr als dieser selbst.
Wer sich in den digitalen Ozean der Homepages, Tweets, Blogs und Posts begibt, ist überwältigt von dem Maß an Selbstentblößung, das er dort findet. Die Bereitschaft dazu gerät deutlich größer, je jünger die Teilnehmer sind. Das hat nichts mit nachlassender Scham zu tun. Die ältere Generation tut sich bloß schwerer im Umgang mit Rechner, Tablet und Smartphone als die Jüngeren, die mit der Digitalisierung groß geworden sind.
Die allgemeine Mitteilsamkeit scheint freiwillig, ist es aber nicht. Es existiert ein Zwang zur Anpassung: durch die Gruppe und das Milieu, in dem sich der Einzelne bewegt, und der, wenn er sich verweigert, seine sozialen Isolation riskiert, was er schon aus Karrieregründen fürchten muss.

Anstelle des Staates wird die Privatheit transparent

Nun gibt es Leute, die das alles verteidigen. Über Facebook habe sich der arabische Frühling organisiert. Freilich, Massenproteste gab es vielfach auch schon in vordigitaler Zeit. Ein anderes Rechtfertigungsargument lautet: Transparenz. Sie gilt als Förderung von Demokratie, und in der Tat erleichtert das Internet die Kontrolle der politisch Mächtigen. Auch die freundliche Einrichtung des Whistleblowing verdanken wir der Digitalisierung.
Ist aber Wikileaks zwanghaft gekoppelt an jenen allgemeinen Exhibitionismus auf Facebook und das Gestammel auf Twitter? Ist jenes elektronische Massengebrüll namens Shitstorm schon demokratisch, wenn es dabei um Politisches geht?
Die Transparenz der sozialen Netzwerke betrifft weniger die Staatsmacht als das individuelle Leben. Die Privatheit, eine der großen Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters, wird durch das Netz demontiert. Selbst die Intimsphäre wird ständig verletzt: durch die Verletzten selber.

Exhibitionismus gerät zu selbstverletzendem Verhalten

Eigentlich ist sie gesetzlich geschützt, als unverzichtbarer Teil dessen, was unsere Verfassung die Menschenwürde nennt. Die ersten beiden Artikeln lauten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Was aber, wenn sich die Menschen ihrer Würde ihrerseits entledigen?
Die innig-heimliche Nähe von Stasi und Internet beschreibt übrigens auch der US-Autor Jonathan Franzen in seinem jüngsten Roman "Unschuld". Und ein anderer Amerikaner, der Schauspieler George Clooney, hat neulich gesagt: "Lieber eine OP als eine Facebookseite." Darüber lässt sich nachdenken.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller.
Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.
Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.

Der Schriftsteller Rolf Schneider
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