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Covid-19
Was die Corona-Pandemie für Menschen mit Behinderung bedeutet

Mehrere Millionen Menschen mit Behinderung leben in Deutschland. Viele sind je nach Beeinträchtigung durch die Corona-Krise in ihrem Alltag nun stärker eingeschränkt als sonst – oder auf weitere Hilfen angewiesen.

09.05.2020
    Symbol eines Behindertenparkplatzes, darüber ein Mundschutz
    Die Corona-Pandemie bringt für einige Menschen mit Behinderung weitere Herausforderungen mit sich. (imago images / Steinach)
    Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen führten für viele Behinderte zu mehr Ausgrenzung denn je, erklärte kürzlich Verena Bentele, Sprecherratsvorsitzende des Deutschen Behindertenrates und Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Aus Anlass des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wiesen sie und andere darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße von den Regelungen zur Corona-Eindämmung betroffen sind. Das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz betonte, veränderte Tagesstrukturen, Maskenpflicht oder Abstandhalten seien gerade für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen herausfordernd. Diakonie-Direktorin Barbara Eschen forderte zudem, Menschen mit Behinderung bei der Versorgung mit Schutzausrüstung besonders zu berücksichtigen.
    Lockerungen bedeuten auch neue Gefahr
    Auch wenn sich viele Menschen – ob mit oder ohne Behinderungen – Lockerungen gewünscht haben, so bringen sie gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen oder Vorerkrankungen auch ein neues Risiko mit sich. Nicht wenige Menschen mit Behinderungen zählen zur Risikogruppe für schwere Verläufe von Covid-19. Der Aktivist Raúl Krauthausen, der selbst im Rollstuhl sitzt, sagte im Interview mit Deutschlandfunk Nova: "Wir haben alle große Angst, dass unsere Assistenzen erkranken. Wir wissen ja nicht genau, mit wie vielen Leuten die in Kontakt sind." Die Ansteckungsgefahr sei da sicherlich gegeben. Einige Menschen mit Behinderung hätten inzwischen beschlossen, bis Ende des Jahres das Haus nicht zu verlassen, so Krauthausen.
    Die gehörlose Aktivistin Julia Probst kritisierte auf Twitter, dass in der öffentlichen Debatte, etwa auch in politischen Talkshows, die Auswirkungen der Lockerungen auf die verschiedenen Risikogruppen kaum eine Rolle spielen. Es werde wohl auf freiwillige Selbstisolation der Risikogruppen gesetzt, schrieb sie. Das sei eine Verletzung der Menschenrechte.
    Sorgen bereitet vielen Menschen mit Behinderung laut Krauthausen auch die Frage, wer im Krankenhaus beatmet werden soll, wenn doch einmal die Kapazitätsgrenzen erreicht werden. Es gebe große Unsicherheiten zur Frage, was passiere, wenn man selbst erkranke, sagt Krauthausen. "Wenn Menschen mit Behinderung auch eine Beatmung brauchen, ist dann die Gefahr groß, dass sie abgeklemmt werden, damit dann ein gesunder Mensch die Beatmung bekommt?"
    Auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, forderte im April in dieser Frage eine Klarstellung zur Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Die Bundesärztekammer betont dazu in ihrer "Orientierungshilfe", Benachteiligungen zum Beispiel aufgrund von Alter, Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder sozialem Status dürfe es nicht geben.
    Betreuung wird zur Privatsache
    Die Folgen der Corona-Pandemie träfen Familien mit behinderten Angehörigen ganz besonders hart, kritisiert die Bundesvereinigung Lebenshilfe. "Viele Eltern haben in der jetzigen Situation keinerlei Unterstützung mehr und müssen die Betreuung zu Hause irgendwie alleine schaffen", sagte die Bundesvorsitzende der Organisation und ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Weil Menschen mit Behinderungen in einigen Fällen zur Risikogruppe zählten, seien Eltern zudem hin- und hergerissen, ob sie Hilfe von außen überhaupt annehmen sollten. Auch in der Diskussion zur Öffnung der Schulen seien Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht im Blick, sagte die SPD-Bundestagsabgeordnete.
    Auch der Sozialverband VdK kritisierte zuletzt, dass Förderschulen in den bisherigen Plänen zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs keine hohe Priorität hätten. Eine Befürchtung: Die Bildungskluft zwischen Kindern mit und ohne Behinderung werde sich dadurch weiter vertiefen.
    Forderung nach Hilfen
    Viele Werkstätten, in denen Menschen mit Behinderung arbeiten, haben derzeit geschlossen. Die Linke fordert unter anderem deshalb einen Corona-Zuschlag für alle Sozialleistungen von monatlich 200 Euro zusätzlich.
    Die Bundesvereinigung Lebenshilfe fordert umfassende staatliche Hilfen für Familien mit behinderten Angehörigen, etwa Notbetreuung dort, wo es Angehörige wünschen. Zudem brauche es einen Ausgleich für den Verdienstausfall für Eltern, die ihre erwachsenen Kinder zu Hause betreuen, weil die Tagesbetreuung oder eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung geschlossen ist, sagte Schmidt.
    Barrieren in der Kommunikation
    Hürden gilt es je nach Einschränkung auch bei der Informationsbeschaffung rund um das Coronavirus zu überwinden. Bereits im März forderte der Behindertenbeauftragte Dusel barrierefreie Informationen in Krisenzeiten. "Barrierefreie Kommunikation sollte immer der Standard sein, aber besonders in außergewöhnlichen Situationen wie zum Beispiel beim Coronavirus muss sie oberstes Gebot sein. Denn fehlende Informationen bedeuten eine konkrete Gefahr für die Menschen," erklärte der Beauftragte.
    Gehörlose zum Beispiel können zwar Informationen im Internet lesen, viele Live-Übertragungen, etwa von wichtigen Pressekonferenzen, bleiben ihnen aber bisher größtenteils verwehrt. Aktivistin Probst hat deshalb eine Petition initiiert, in der sie und inzwischen rund 30.000 andere Menschen Informationen zur Corona-Situation von deutschen Behörden auch in Gebärdensprache fordern. Ebenso gefordert werden Videosprechstunden mit Ärzten und Behörden im Falle eines Infektionsverdachts oder Fragen etwa zur Betreuungssituation von Kindern. Immerhin: Die Pressekonferenz von Bund und Ländern am 6. Mai wurde live auch in Gebärdensprache übersetzt, lobt Probst. "Es hat sich was getan", schrieb sie auf Twitter.
    Diskutiert wird auch die Problematik der Maskenpflicht für Menschen, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist. Eine Gebärde besteht neben der Gestik auch aus der Mimik – die aber durch die Masken im öffentlichen Raum verdeckt werden. Auch das Ablesen der Sprache von den Lippen anderer Menschen ist nicht möglich, wenn Mund und Nase bedeckt sind.
    Auch für Menschen etwa mit Lernbeeinträchtigungen kann die aktuelle Informationsbeschaffung eine Herausforderung sein. Der Deutschlandfunk stellt die wichtigsten Nachrichten wöchentlich freitags ab 14 Uhr auf der Homepage www.nachrichtenleicht.de in Einfacher Sprache bereit. Einen Überblick über Informationen zum Coronavirus in Leichter Sprache bietet die Seite "Corona Leichte Sprache". Dort sind auch Informationen vieler Behörden in Leichter Sprache zum Coronavirus verlinkt.
    Menschen mit Behinderung "vielleicht resilienter"
    Soziale Isolation gilt zudem als Stressfaktor, der seelische Beeinträchtigungen verstärken kann. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Heinz, erklärt dazu, die Gefahr sei groß, dass schwerkranke Patienten den Verzicht auf den persönlichen Kontakt nicht lange aushielten.
    Der Aktivist Krauthausen sieht allerdings bei Menschen mit anderen Behinderungen auch einen möglichen Vorteil: Sie seien in der Krise teils vielleicht resilienter, sagt er, also psychisch belastbarer und widerstandsfähiger. Menschen ohne Behinderung machten zurzeit Erfahrungen, die viele Menschen mit Behinderung schon ihr ganzes Leben lang hätten. Dazu gehöre die Isolation zu Hause und auch, dass man nicht einfach mal spontan nach draußen gehen könne.