Integration

"Die Schweizer wollen sich Zeit nehmen"

Schweizer Flagge weht in den Berner Alpen
Schweizer Flagge weht in den Berner Alpen © picture alliance / ZB
Moderation: Joachim Scholl · 24.03.2014
"Sechseläuten" erzählt von einen Kriminalfall im Umfeld der FIFA und über eine Schweizer Minderheit, den Jenischen. Im Interview berichtet Autor Michael Theurillat von Ressentiments gegen die Volksgruppe und dem Willen der Schweizer zur Integration.
Joachim Scholl: Die Freunde des Kriminalhörspiels kommen heute Abend bei uns im Programm wieder auf ihre Kosten, wenn um 21:33 Uhr das "Sechseläuten" erklingt. "Sechselüten" muss man eigentlich sagen, weil es nämlich eine Schweizer Tradition ist und Titel des Hörspiels, das Barbara Liebster nach dem Roman von Michael Theurillat inszeniert hat. Deutschlandradio Kultur hat es produziert, es spielt in Zürich, wo ein Mord geschieht – und so hört sich das an:
"Haben Sie sich mal die Akten angeschaut? Die Schwester der Toten, diese Lara Bischof, die Ihnen Kronenberger auf den Hals geschickt hat, die ist eine hohes Tier bei Goldmann Investments Ltd. mit Hauptsitz in Londres. Das ist britische Hochfinanz. Die beraten die FIFA schon seit – Generationen."
"Und die Tote hat auch bei der FIFA gearbeitet …"
"Ecco. Und Herr Doktor Kronenberger war bis letztes Jahr Partner bei einer Züricher Anwaltskanzlei. Kronenberger und Graf. Raten Sie mal, für wen er jetzt arbeitet?"
"Für die FIFA?"
"Certo! Als Rechtskonsulent. Ich hab im Netz nachgeschaut, auf dem Organigramm der FIFA ist er direkt dem Präsidenten untergestellt."
"Also eine Art Chefjurist!"
"Si."
"Nicht zu fassen."
"Warum? Warum kümmert sich der oberste Jurist einer Weltorganisation um einen Fall von plötzlichem Herztod?"
Joachim Scholl: Ja, warum? Darum kümmert sich dann "Sechseläuten", das Kriminalhörspiel nach dem Roman von Michael Theurillat, eine Produktion von Deutschlandradio Kultur. Heute ist Uraufführung bei uns um 21:33 Uhr, und jetzt ist der Autor der Romanvorlage in Zürich am Telefon. Guten Tag, Herr Theurillat!
Michael Theurillat: Guten Tag, ich grüße Sie!
Scholl: Sie haben eben zugehört, und wie wir wissen, kennen das Stück selbst noch gar nicht. Wie klingt denn dieser Text, diese paar Zeilen in den Ohren, die sie gerade gehört haben?
Theurillat: Ja, es ist großartig. Wie da Sara Capretti die Rosa spricht, genau so –
Scholl: – haben Sie sich das vorgestellt?
Theurillat: Ja, absolut. Ich hab mich riesig gefreut, vor ein paar Tagen zu hören, dass das Deutschlandradio hier das inszeniert hat. Und den Schweizer Kollegen da zuvorgekommen ist. Und ich denke, das ist gut so, ihr könnt das oft ein bisschen besser.
Scholl: Danke schön vorab für das Kompliment. Sie bekommen bestimmt eine CD und können es dann noch mal überprüfen. Lassen Sie uns auf das Stück, auf den Roman auch kommen. Die Vorlage "Sechselüten", "Sechseläuten" heißt das auf Deutsch. Es ist eine Schwyzer Tradition, die Sie natürlich Ihren Landsleuten nicht erklären müssen, aber uns schon ein bisschen. Was ist das?
Theurillat: Ja, es ist das "Sächsilüüte". Es ist eigentlich nicht einmal eine Schweizer Tradition, es ist eine Züricher Tradition. Wir sind ja ein Flickenteppich von lauter eigenen kulturellen Minderheiten, und das feiern die Züricher ganz groß. Die Basler und die Berner rümpfen da eher vielleicht ein wenig die Nase. Also, es ist schon sehr lokal. Und als der Titel, der ja eigentlich von meinem Berliner Verlag dann vorgeschlagen wurde, da habe ich gesagt, Mensch, in Deutschland weiß doch niemand, was "Sechseläuten" heißt. Und da haben sie gesagt, ja, wir kennen die Leser, die sind neugierig, die wollen das dann schon wissen.
Scholl: Genau. Ich meine, das macht jetzt sofort neugierig auf jeden Fall. Erst denkt man, es ist vielleicht ein Ort. Aber der Kriminalfall, den Sie sich ausgedacht haben, Herr Theurillat, der führt erst mal so in die oberen Ränge der FIFA, des Weltfußballverbands, aber auch zu einer Schweizer Minderheit, die sogenanntes Rotwelsch spricht, die Sprache der Jenischen, schreibt sich J-e-n – ich muss sagen, ich habe das Wort noch nie gelesen. Was ist das für eine Volksgruppe?
Ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte
Theurillat: Das sind die Fahrenden in der Schweiz, Zigeuner kann man sich da landläufig vorstellen. Die Nichtsesshaften, die da irgendwie sich mal niederlassen, einen Winter verbringen und dann wieder des Weges ziehen. Und da gibt es ein dunkles Kapitel, in dem man versucht hatte, interessanterweise bis in die neuere – oder bis in die 70er-Jahre hinein, die auszurotten dann mit gewissen Rassenvorstellungen, also eugenischen, sehr zweifelhaften Ideen, die eigentlich, die man immer gedacht hatte, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist dieses Gedankengut nicht mehr salonfähig, und das ging dann doch hier noch weiter bis in die 70er-Jahre.
Scholl: Das ist dieser rassistische Skandal, könnte man sagen, auf den der Kommissar stößt. Man fragt sich natürlich sofort, inwieweit oder wie sehr der reale Hintergrund da aussieht.
Theurillat: Der reale Hintergrund ist vorhanden. Ich habe mit den Jenischen viel Kontakt gehabt. Die leben da in einer Siedlung in der Nähe von Zürich, sind Schweizer. War auch sehr interessant zu sehen … ich habe sie dann die Premiere am Sechseläuten-Tag, allerdings in Basel, nicht in Zürich, eingeladen. Und ich glaube, das große Erwachen der Zuhörer war, als die dann gesehen haben, das sind Schweizer, die spielen Schwyzerörgeli. Da wurde vielleicht Zigeunermusik erwartet, aber die nahmen das Schwyzerörgeli vor und sangen Schweizer Liedergut.
Scholl: "Sechselüten", als Hörspiel heute Abend im Deutschlandradio Kultur. Michael Theurillat hat die Vorlage dazu geschrieben in einem Roman. Wir sind mit ihm im Gespräch. Die Schweiz, Herr Theurillat, hat ja jüngst wieder Schlagzeilen gemacht mit jenem ominösen Referendum, das die Skepsis also in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung gegen Ausländer deutlich gemacht hat. Und dieses Ressentiment, das hat ja leider auch Tradition. Und verstehen Sie Ihren Roman, 2009 ist er erschienen, auch als einen Kommentar, so einen Reflex zu dieser Stimmung in der Schweiz, die immer wieder hochkocht und die anscheinend so schwer aufzulösen ist?
"Die müssen ein Teil von uns werden"
Theurillat: Nein, ganz pointiert nicht. Ich denke … das Problem sehe ich woanders. Ich sehe auch nicht den rassistischen Punkt im Vordergrund. Bei den Jenischen ist es die Auseinandersetzung mit dem Anderssein. Die sind ja Schweizer. Das kann ja nicht Rassismus sein – es ist etwas, eine – man will etwas domestizieren. Der Umgang der Schweiz mit den Ausländern oder mit dem Anderssein, ist: Man will es integrieren. Wir haben ja keine eigentlich großen Gettos. Wir sind sehr eng besiedelt, und sehr oft funktioniert das auch sehr gut. Und ich glaube, die Initiative war so was wie ein Denkzettel an die Regierung, zu sagen, hört mal, das geht jetzt alles ein bisschen zu schnell. Wir haben mehr als doppelt so viele Ausländer pro Kopf als Deutschland zum Beispiel. Wir wollen uns da Zeit nehmen und wollen das gründlich machen. Integrieren – die müssen ein Teil von uns werden. Und bei den Jenischen geht das ja schief. Obwohl die ja Schweizer sind, die wollen wieder weg. Die sind so, einfach, lassen sich nicht domestizieren.
Scholl: Hat das aber auch einfach mit dem sozialen Abstand zu tun, Herr Theurillat? Sie selbst waren in einem früheren Leben bei einer Schweizer Großbank beschäftigt. Man kann sagen, in einer hoch internationalen Welt, aber natürlich einer extrem wohlhabenden. Und es gibt ja immer so das Klischee – und Sie müssen jetzt sagen, ob es wirklich eins ist oder ob wir uns da täuschen –, wenn man Geld hat, ist es kein Problem, in der Schweiz anders oder Ausländer zu sein.
Theurillat: Ich würde das nicht auf diesen einfachen Nenner bringen. Im Ort, wo ich wohne, eigentlich ursprünglich Schweizer Bauerngegend, da ist das bestlaufende Restaurant, ist eine Imbissecke, betrieben von Türken, da trifft sich alles. Und das ist eine Geschichte, die eben die Schweizer sehr gerne sehen, weil das Zusammenleben dort beidseitig funktioniert. Aber wir sind vielleicht viel härter gegen die eigenen Schmarotzer. Also es wird so etwas erwartet von … der Schweizer erwartet etwas, und wenn da damit Leistung verbunden ist und Anstrengung, dann ist er sehr versöhnlich.
Schweizerische Europa-Skepsis kein Nationalismus
Scholl: Wir haben jetzt auf der Leipziger Buchmesse verschiedentlich Gespräche hier im Deutschlandradio Kultur mit Schweizer Kollegen von Ihnen, Schweizer Schriftstellern, Gespräche geführt über natürlich diese Stimmung in der Schweiz. Und jeweils wurde auch gesagt, ja, nicht immer so die Schweiz im Ganzen sehen. Es gibt eine Art von Spaltung, die sich auch aufs Städtische, aufs Ländliche bezieht. Es hat mit Bildungsgraden zu tun – also die Hälfte der Schweizer hat sozusagen eine kosmopolitische Euro-positive Haltung, und die andere eben nicht. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Dem würden Sie fast zustimmen, habe ich den Eindruck?
Theurillat: Ja, ich kenne einige, die eigentlich – ich war persönlich nicht dabei, ich habe da nicht dafür abgestimmt, aber andere – das war gedacht als Denkzettel. Und man war ein wenig fast überrascht, dass das am Schluss eine knappe Mehrheit wurde. Und ich sehe eher, wie ich schon gesagt habe, man wollte hier sagen, das geht jetzt zu schnell alles. Weil wir gehen ja seit Traditionen mit Minderheiten um. Wenn wir an die Rätoromanen denken mit einem Prozent, die kultivieren wir, die haben eine andere Sprache, leben irgendwo in den Bergen. Aber die Schweizer wollen sich da Zeit nehmen. Und das ist das eine. Und das andere ist, wir haben eine Grundablehnung in der Schweiz gegen alles Zentralistische. Und das ist einer der Hauptgründe, denke ich, wenn es so gegen Europa geht, ist das gegen Brüssel, gegen – das ist die Geschichte der alten Landvögte. Das geht weit zurück in die Schweizer Geschichte. Ich sehe eher dort den Kern und nicht im Nationalistischen.
Scholl: Ein letztes Wort noch zu Ihrem Roman. Den Jenischen haben Sie 2009 mit Ihrem Roman ja gewissermaßen ein Denkmal gesetzt. Jetzt werden Sie hier durch Ihr Hörspiel vielleicht auch in Deutschland ein Ohr finden. Gab es damals eigentlich positive Reaktionen auf diesen Roman auch in diesem Sinne, dass hier jetzt also auch mal in einer Fiktion dieses Thema angesprochen wird?
Theurillat: Von offizieller Seite nicht, nein. Hat mich auch nicht überrascht. Hingegen habe ich sehr viele Mails bekommen von Jenischen, die ihre erschreckende Geschichte mir offenbarten. Und da musste ich dann immer sagen, es ist noch viel schlimmer, als ich das eigentlich mir ausgedacht habe.
Scholl: Michael Theurillat. Besten Dank für dieses Gespräch!
Theurillat: Ich danke Ihnen!
Scholl: Und wir hoffen, dass Sie, unsere Zuhörer, jetzt Lust bekommen haben auf heute Abend, wenn "Sechselüten", " Sechseläuten" läuft, die Ursendung des Hörspiels nach dem Roman von Michael Theurillat, hier im Deutschlandradio Kultur um 21:33 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.