Inselsozialismus

Freiheit häppchenweise

Malecon, die berühmte Uferstraße von Havanna
Malecon, die berühmte Uferstraße von Havanna © Jenny Marrenbach
Von Jenny Marrenbach  · 17.06.2014
Reisefreiheit und Wirtschaftsreformen hatte Kubas Präsident Raul Castro den Bürgern versprochen. Doch allein einen Pass zu beantragen, kostet den fünffachen Monatslohn. Und auch andere neue Freiheiten scheitern schlicht am Geld.
Ein abendlicher Spaziergang am Malecon, der berühmten Uferstraße von Havanna. "Hier kommen die Verliebten hin, um sich zu verlieben", hatte ein Kubaner mir in gebrochenem Deutsch erklärt. Links der Charme einer zerbröckelnden Prachtstraße. Rechts zischen die schaumgekrönten Wellen des karibischen Meeres über die Steinmauer. Dazwischen sind Paare und Spaziergänger, die sich von der Kulisse verzaubern lassen.
Jenny: "Was geht mit der Bar da drüben? Sollen wir uns einfach draußen hinsetzen und ein Bier trinken?"
Lukasz: "Die sieht ganz gut aus."
Nicole: "Ja, endgeil!"
In einer kleinen Bar, zum kühlen Bier - spielt ein Mann auf seiner Gitarre. In diesem Moment kann das Leben eigentlich nicht besser sein.
Dann, kurz vor Mitternacht, ist ein zweiter Mann mit Gitarre dazu gekommen. Die Umstehenden singen sich warm, als zwei Männer in Uniform auftauchen.
Die Polizisten kassieren die Daten der Gitarristen ein. "Keine Musik am Malécon", sagen sie schroff und beenden das Straßenkonzert abrupt. Eine richtige Begründung wollen sie trotz Diskussion nicht geben. Die beiden Musiker entgehen nur knapp einer Nacht im Gefängnis.
"Was heißt Spaßbremse auf Spanisch?"
Das Publikum fühlt sich vor den Kopf gestoßen, haben sie die beiden doch noch animiert. Schuldbewusst und etwas ratlos verlasse ich die Promenade. Die erste Begegnung mit der kubanischen Staatsmacht hinterlässt einen bitteren Geschmack. Und die Frage: Sind mit Raul Castro wirklich mehr Freiheiten und Wandel nach Kuba gekommen?
Wohnzimmerrunden – ohne Politik

Professor Gabriel Callaforte in seiner Wohnung in Havanna.
Professor Gabriel Callaforte in seiner Wohnung in Havanna.© Jenny Marrenbach
Ein paar Tage später in der Wohnung des kubanischen Professors Gabriel Callaforte. Bücher stapeln sich in jeder Ecke des Raumes, die Wände sind mit asiatischer Kunst behängt. Was hier vor 15 Jahren einmal als eine Lerngruppe von Studenten der Asienwissenschaften angefangen hat, ist zu einem Anlaufpunkt junger, politisch interessierter Kubaner geworden, die ihre Montagabende mit Diskussionen und Tee verbringen.
Gabriel Callaforte: "Früher war ich Professor für Asienwissenschaften an der Universität von Havanna. Ich bin 80 Jahre alt und habe in meinem Leben viele Dinge getan. Gute und schlechte, aber ich erzähle nur von den Guten! Ich habe als Diplomat in Europa gearbeitet und für die Vereinten Nationen. Ich habe mich schon immer für internationale Politik interessiert, mehr als für kubanische. Trotzdem war ich Teil der Opposition, oder was man weiche Opposition nennen könnte. Das heißt ich bin kein Feind des Regimes, aber ich bin auch kein Freund."
Politik ist ein Reizthema in Kuba. Das gilt auch für die Wohnzimmerrunde von Gabriel Callaforas. Hier wird über alles geredet, außer über Politik. Der Staat hat seine Augen und Ohren überall, sagen die Teilnehmer.
In einem Nebenzimmer der Wohnung sitzt ein junger Mann mit kurzen, braunen Locken.
David: "Ich heiße David Canela Pina, auf Deutsch übersetzt heißt das David Zimt Ananas – lustige Kombination. Ich bin 32 Jahre alt und arbeite als unabhängiger Journalist."
David Canela Pina wundert sich nicht über die Begegnung mit der kubanischen Polizei am Malécon. Als einer der wenigen Blogger und Internetaktivisten hat er die Kontrollmechanismen des Staates schon oft genug selbst zu spüren bekommen. Zuletzt musste er seine Wohnung räumen. Ein Vertreter der Regierung ging zu seinem Vermieter und meinte, Leuten wie David solle er besser kein Dach über dem Kopf geben.
Der Grund: David schreibt Artikel über kubanische Kultur und Politik für Cubanet, eine parteiunabhängige Website, deren Redaktion in den USA sitzt. In Kuba, sagt David, könnten weder Radio, noch Zeitung oder Fernsehen unabhängig und kritisch berichten.
"Für die Regierung ist der Zugang zu Informationen wie eine tickende Zeitbombe. In Kuba gibt es keine freie Presse. Gar nichts ist unabhängig hier. Deswegen ist das Internet die einzige Alternative, um an Informationen zu kommen."
Unerreichbare Informationen
Ein paar Tage in Kuba genügen, um zu verstehen, dass der Zugang zum Internet keine Frage mangelnder Technik ist. Beim Besuch einer Konferenz der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten finden wir ein Medienzentrum, was auch in Deutschland stehen könnte: Ein großer, klimatisierter Saal mit langen Schreibtischen auf denen sich Flachbildschirme aneinander reihen.
Außerhalb des Konferenzgeländes das komplette Gegenteil: Dort verbringen Blogger wie David Pina Canela Tage damit, stabile Verbindungen zu finden.
David: "Das Internet ist extrem langsam bei uns und sehr teuer. Eine Stunde kostet viereinhalb Peso convertible. Das ist fast ein Viertel des monatlichen Durchschnitteinkommens."
In Deutschland würde das bedeuten, dass man pro Stunde Internet etwa 500 Euro bezahlen müsste. Ein Mondbetrag, der den Menschen den Zugang zu freien Informationen zwar nicht verbietet, ihn aber doch unerreichbar macht.
Zu den finanziellen Hürden kommen auch noch ein paar ganz praktische. Der Zugang zu den Computern in den großen Hotels bleibt den Kubanern oft versperrt. Die wenige Plätze sollen für zahlungskräftigeres Publikum frei bleiben. Und die Wartezeit in einem öffentlichen Internetcafé kann Stunden dauern.
Auch die angekündigte Eröffnung einiger neuer Internetcafés durch die Regierung vermag nicht Ansatzweise den Bedarf zu decken. Lange Schlangen mit frustrierten Gesichtern verstopfen weiterhin die Straßen und zeigen wie lebendige Wegweiser an, wo das begehrte Internet zu finden ist.
David: "Wenn wir freien Zugang zum Internet hätten, könnten die Menschen mit ihren Freunden und Verwandten über Netzwerke wie Facebook kommunizieren und so an Informationen aus anderen Medien kommen. Damit würde der Regierung die Kontrolle entgleiten."
Dabei waren die Hoffnungen auf mehr Freiheit eigentlich groß, als Raul Castro 2008 die Regierungsgeschäfte von seinem Bruder Fidel übernahm. Zahlreiche politische Gefangene wurden freigelassen und ein ganzer Katalog an Wirtschaftsreformen angestoßen. Doch Wirtschaft und Gesellschaft zu modernisieren, ohne den Sozialismus abzuschaffen, ist ein Balanceakt in einem Land, das fast 50 Jahre unter der Leitung eines autoritären Staatspräsidenten stand.
Freier Zugang, und trotzdem nicht nutzbar
Die neue Regierung geht deshalb nach dem Prinzip vor: Mehr Freiheit, aber häppchenweise. An der Universität von Havanna zum Beispiel funktioniert das so: Die Studenten haben dort täglich die Möglichkeit, ab 14 Uhr auf soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter zuzugreifen. Allerdings liegt auch ein großer Teil ihrer Lehrveranstaltungen in diesem Zeitraum. So haben sie zwar einen freien Zugang, können ihn aber nicht nutzen, klagt Blogger und Journalist David Canela Pina.
"Die Konsequenz ist, dass wir uns nicht so schnell entwickeln können wie unser Umfeld. Das kann man sich wie ein Software-Update vorstellen. Wenn du noch die alte Version hast, läuft dein Programm irgendwann nicht mehr. Die Regierung ist gezwungen, das zu ändern – aber sie machen es sehr, sehr langsam!"
Freiheit häppchenweise, dieses Prinzip findet sich nicht nur in den Unis des Landes, sondern auch beim Blick auf die sonnengetränkten Straßen der Insel. Ich fühle mich magisch in eine andere Zeit zurückversetzt, wenn die alten Chevys und Pontiacs aus vorrevolutionären Zeiten vorüberrollen. Sie stammen noch aus den Jahren vor 1959, als Fidel Castro, Che Guevara und ihre Guerilla-Kämpfer den Diktator Batista zur Flucht zwangen.
Doch die buntlackierten, spritschluckenden Touristenträume bedeuten für die Kubaner harte Realität und Frust.
Alte Autos auf Kuba.
Alte Autos auf Kuba.© Jenny Marrenbach
Zusammenbrechende Autos
Ohne Zugang zu Ersatzteilen rosten die Autos buchstäblich unter den Fingern weg, erklärt mir ein Taxifahrer. Aber Anfang des Jahres gab es Zeichen der Besserung. Nun ist es den Kubanern erlaubt, ohne staatliche Genehmigung neue Autos aus dem Ausland zu kaufen – auch diese Änderung ist Teil von Castros Reformpaket.
Aber durch Steuern und andere Abgaben kostet sogar ein Kleinwagen schnell über 100.000 Dollar – bei einem Monatslohn von 20 Dollar eine Freiheit, die sich kein Kubaner leisten kann. Der Taxifahrer witzelt, dass bislang ganze sechs Wagen verkauft seien.
Dann bricht das Taxi zusammen - und sein Frust heraus.
Das Taxi ist in Alt-Havanna, dem historischen Zentrum der Stadt, liegen geblieben. Obwohl die bröckelnden Fassaden ihren ganz eigenen Charme versprühen, ist klar – hier fehlen die Mittel, um die alte Pracht wieder zum Glänzen zu bringen.
In einer kleinen Gasse mit rot und gelb bemalten Wänden liegt der berühmte Friseursalon ArteCorte. Sein Ruf als Musterbeispiel für Erfolg im kubanischen Sozialismus eilt Friseurmeister Papito voraus.
In einem kleinen Studio hat sich der 50-jährige Kubaner einen Traum erfüllt und die Wände von oben bis unten mit Kunst behängt.
"Diese Bilder haben viel mit meiner Geschichte und meinen Erfahrungen zu tun. Mit diesem Friseursalon hier in dem Viertel. Die Geschichte auf diesem Bild hier zum Beispiel... es ist die Geschichte eines Friseurs, den ich kannte, ein starker schwarzer Mann. Damals waren die Zeiten noch anders und dieser Mann hat sich umgebracht, weil er eine Beziehung zu einem anderen Mann hatte."
Obwohl Homosexualität bis heute bei vielen Kubanern ein Tabu bleibt, gibt es erste Veränderungen. In den späten 60ern galt noch eine Rede Fidel Castros als Leitlinie, in der er Homosexuellen die Charakterstärke von echten Revolutionären absprach. Eine offizielle Rücknahme seiner Position erfolgte erst vor wenigen Jahren. Dass diese möglich wurde, dazu haben auch Menschen wie Friseurmeister Papito beigetragen, die für mehr Respekt und Toleranz in ihrem Beruf kämpfen.
Selbstständigkeit unter harten Bedingungen
Geholfen hat ihnen dabei der Cuenta Propismo - eine Wirtschaftsreform, die es seit 2011 Friseuren und vielen Unternehmern aus anderen Branchen möglich macht, selbstständig zu arbeiten. Ein neues Modell in Cuba und für Castro der Versuch, die von der Planwirtschaft gebremste Wirtschaft etwas anzukurbeln.
Papito: "Man muss sich den Unterschied vor Augen führen: In den 90ern gab es andere Regulationen. Ich war einer der ersten Cuenta Propista, die hier angefangen haben. Damals gab es viel mehr Beschränkungen, wir durften noch nicht mal Angestellte haben. Heute geht das."
Cuentapropista – das bedeutet, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Die Selbstständigen Kubas sollen dabei helfen, die kriselnde Wirtschaft in Schwung zu bringen. Die neuen Möglichkeiten werden von vielen Kubanern genutzt. Dem unternehmerischen Einfallsreichtum sind dabei keine Grenzen gesetzt: Überall sprießen kleine Restaurants, Bars und Modegeschäfte aus dem Boden. Aber auch Feuerzeugauffüller, Gewürztrockner oder Reparateure von Uhren machen sich selbstständig.
Für einige funktioniert das Geschäftsmodell, viele knicken unter der hohen Steuerlast und den vielen staatlichen Sonderauflagen ein und müssen nach ein paar Monaten ihre Läden wieder schließen.
Papito: "Das Wichtigste für uns Cuenta Propista ist, dass wir gemeinsam arbeiten können, um Umsatz zu erzielen. In diesem Projekt sind wir viele Cuenta Propista und werden immer mehr."
In Papitos Friseursalon ArteCorte geht das Konzept auf – auch, wenn er mit umgerechnet knapp acht Euro für einen Frauenhaarschnitt eher das Luxussegment Havannas bedient. Mit den Gewinnen aus seinem Friseursalon hat er neue Projekte im Viertel angestoßen. Einen Kinderspielplatz mit Haarschneideecke, eine Friseurschule, ein Café.
Papito: "Die Leute kommen hier hin, um ein Gläschen zu trinken, um sich die Bilder anzugucken, ein Schwätzchen zu halten oder sich die Haare schneiden zu lassen. Viele meiner Kunden sind heute auch Teil von einem der neuen Projekte. So ist dieser Ort zu etwas ganz besonderem in unserem Viertel geworden. Auf der einen Seite ist es ein Friseursalon, aber auf der anderen Seite entstehen hier Projekte, die gut für unser ganzes Viertel sind."
Reisefreiheit nur auf dem Papier
Zurück im Hinterzimmer der Montagsdiskussionsrunden. An den Wänden stapeln sich die Bücher, es liegt ein Hauch alter Gelehrsamkeit in der Luft. Der Journalist David Canela Pina nippt an seinem Tee. Für ihn sind Projekte wie ArteCorte die Ausnahme. Meistens überwiege der Frust über das, was nicht funktioniert.
David: "Ich würde zum Beispiel gerne einmal verreisen, denn ich bin noch nie aus Kuba herausgekommen. Ich möchte den Rest der Welt kennenlernen und verstehen, wie sie funktioniert. Es ist sehr frustrierend, dass wir hier so eingeschlossen sind. Wir warten und warten darauf, dass sich etwas verändert und am Ende sind die Leute so hoffnungslos, dass sie einfach nur noch weg wollen."
Und da taucht sie doch wieder auf, die Freiheit in kleinen Häppchen. Die Hoffnungen waren groß, als Raul Castro Anfang 2013 ankündigte, keiner müsse mehr einen Antrag auf Genehmigung zur Ausreise stellen. Die Reise ins Ausland steht seitdem jedem offen.
David: "Durch das Reisefreiheitsgesetz gibt es jetzt theoretisch bessere Möglichkeiten zu reisen, aber die Kosten machen es fast unmöglich in der Realität. Sie sagen: Ihr habt das Recht, wenn ihr dafür bezahlt. Das ist also keine richtige Reisefreiheit."
Alleine die Beantragung eines Passes kostet umgerechnet an die 75 Euro – das fünffache eines ganzen Monatslohns. Dazu kommen noch Flugticket, Versicherung im Ausland, Übersetzung von Dokumenten. Und so rückt der Traum von anderen Ländern für die meisten Kubaner in weite Ferne.
David: "Bei einigen klappt es trotz allem durch eine Einladung. Nicht, dass man dadurch das Recht hätte zu reisen, nein, aber man hat die Möglichkeit, dass jemand anders für dich bezahlt. Aber das sind nur wenige Fälle. In der Realität haben die meisten Kubaner einfach nicht das Geld, um eine Reise zu finanzieren."
Eigentlich sind nur ein paar Tage vergangen, aber der erste Abend am Malécon scheint schon Ewigkeiten her. Beim Gedanken an die Polizisten steigt immer noch ein bitterer Geschmack auf. Aber die Bekanntschaften mit David und Papito lassen ihn schwächer werden – wenigstens häppchenweise.