Insel Neuwerk im Wattenmeer

34 Einwohner und tausende Gänse

Blick auf den Leuchtturm über die Wiesen Neuwerks: Im Frühjahr sind die Wiesen von 18.000 Weißwangen- und Ringelgänsen kahlgefressen worden. Mehr Gänse gab es nie auf der Insel.
Blick auf den Leuchtturm über die Wiesen Neuwerks: Im Frühjahr sind die Wiesen von 18.000 Weißwangen- und Ringelgänsen kahlgefressen worden. Mehr Gänse gab es nie auf der Insel. © Deutschlandradio / Axel Schröder
Von Axel Schröder · 10.08.2016
Auf der Insel Neuwerk gibt es 34 Bewohner, drei Höfe, rund 150 Hotelbetten - und im Frühjahr Tausende Gänse. Die Tiere fressen die Insel leer und verdrecken sie fürchterlich mit Kot. Nicht das einzige Problem der Insulaner.
Die Uhren ticken anders auf Neuwerk, auf Hamburgs Außenposten im Wattenmeer. Erreichbar ist die Insel nur mit dem Schiff oder, bei Niedrigwasser, über den schwarzgrauen Wattboden per Pferdefuhrwerk. Bei Flut steht das Nordseewasser hier rund zwei Meter hoch. Die Silhouette von Cuxhaven verschwimmt im feinen, warmen Nieselregen, von Neuwerk ist schon aus der Ferne schon der längst stillgelegte Leuchtturm, das älteste Bauwerk der Freien und Hansestadt Hamburg zu sehen. Vorn auf dem Kutschbock hält Volker Griebel, der Inselwart, die Zügel in den ledrigen Händen. Seit 42 Jahren holt er Touristen aus Cuxhaven-Sahlenburg ab und bringt sie nach ihrem Urlaub wieder dorthin zurück.
"Eine Stunde und zehn Minuten fahren wir in etwa. Das macht man so. Damit die Pferde das gut aushalten. Keinen Stress entwickeln. Alles schön entspannt."
Entspannt ist auch der Inselwart. Zumindest auf den ersten Blick. Dass die Insulaner fernab von Stadtregierung und Verwaltung auf ihrer Insel leben, sei schon ein Vorteil, erzählt Volker Griebel. Von den Querelen um zu hohe Stickoxidbelastungen auf Hamburgs Straßen, um die Flüchtlings-, die Haushalts- oder die Hafenpolitik bekommen die Neuwerker nichts mit.
"Das ist auch gut so! Das ist auch gut so! Wir sind nun mal Außenbezirk. Und hier hat man sicherlich auch einige kleinere Probleme. Aber ich denke mal, dass sowas alles zu regeln ist. Das ist ja ganz normal, dass es auch hier kleinere Querelen gibt. Aber das konnte man bisher immer ausgleichen. Und wenn das so bleibt, wäre das auch sehr gut."
Nur per Schiff oder – bei Niedrigwasser - mit dem Wattwagen ist die Insel Neuwerk zu erreichen.
 
Nur per Schiff oder – bei Niedrigwasser - mit dem Wattwagen ist die Insel Neuwerk zu erreichen.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Volker Griebels Pferde ziehen den Wattwagen über den gepflasterten Weg über den Deich, der das runde Eiland umgibt. Dann dürfen die Pferde sich ausruhen bis zum nächsten Niedrigwasser, bis zur nächsten Tour. Rund zwei Kilometer misst die Insel in der Breite. Ein Rundgang rings um Neuwerk dauert bei gemächlichem Tempo gerade mal eine Stunde. Vom Deich sieht man saftiggrüne Wiesen, grasende Pferde, ein paar Kühe. Und im Zentrum der Insel den alten, backsteinroten Leuchtturm.
Wenn der Inselwart von den kleineren Querelen spricht, ist er diplomatisch. Immerhin ist er derjenige, der mit den der so weit entfernten Nationalparkverwaltung, mit der Behörde für Umwelt und Energie oder dem Bezirksamt Hamburg-Mitte verhandeln muss.
"Ich glaube auch immer, dass den Leuten, der Bürgerschaft, der Politik auch mal die Standpunkte mitgeteilt werden müssen – privater Natur und auch: Wie können die Leute hier wirtschaften? Ist das, wenn wir das und das machen, ist das noch zu praktizieren? Und da, glaube ich, da gibt es so ein bisschen Gesprächsbedarf."

Volker Griebel ist Landwirt, Wattwagen-Kutscher und Gastronom

Einfach drauflos poltern ist nicht die Art des Volker Griebel. Stur kann er trotzdem sein. Wer mit den Menschen auf Neuwerk spricht, merkt schnell, dass es neben einigem Lob für die Verwaltung auch viel Unmut gibt. 34 Menschen leben auf Neuwerk, mitten im "Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer", in dem strikte Regeln und Verbote gelten: Der Naturschutz hat oberste Priorität. Es gibt drei Höfe und rund 150 Hotelbetten. Und das größte Problem, da sind sich die Insulaner einig, sind die Vögel, die auf dem Flug in ihre Brutgebiete hier Rast machen. Sehr viele Vögel seien das, zu viele, findet Werner Fock. Seit hundert Jahren, nicht ganz so lange wie die Griebels lebt seine Familie auf der Insel. Wie Volker Griebel ist auch Werner Fock Landwirt, Wattwagen-Kutscher und Gastronom.
"In der Spitze sind hier bei uns 18.000 Tiere auf 300 Hektar. Das ist völlig überlastet. Das geht los im Januar, Ende Januar, manchmal Anfang Februar – Tiere wissen ja genau, wie das Wetter ist – und die Spitze ist so im Mai. Und im Mai – ich sag es mal ganz platt – ist unsere Insel kahlgefressen und zugeschissen. Das ist einfach so. Das sind Unmengen an Gänsen, Gänsekot. Und sie fressen natürlich. Und wer Gänse kennt: Das geht immer vorne – knapp, knapp, knapp – die fressen jeden Halm weg. Und hinten geht es immer freiweg raus."
Mittlerweile grasen die Gänse nicht mehr nur auf Wiesen und Feldern. Auch auf dem Deich fressen sie sich jetzt Fettreserven für den Weiterflug nach Norden und Nordosten an. Dass die massenhaften Hinterlassenschaften derart stinken, dass im Frühjahr kein Heu, die Maht, eingefahren werden kann, dass gerade bei feuchtem Wetter die Insel-Touristen wenig Freude an diesem Naturschauspiel haben – das sind nur einige Aspekte, die die Neuwerker an den Gänsescharen nerven, erzählt Werner Fock auf seinem Hof, hinter ihm eine hohe Scheune. Seine Angestellten bereiten gerade die nächste Wattwagen-Fahrt vor, schieben die Kutschen nach draußen.
"Es ist nicht nur so, dass uns die Maht und das alles fehlt. Es ist ja so: Wir machen ja auch Gastronomie, wir haben Hotelzimmer, wir haben aber auch Pferdeboxen, wir haben, auch im Frühjahr theoretisch Anmeldungen von Reitern, die hier mit Pferden bei uns übernachten wollen. Und wenn die dann auf Weiden kommen, wo nichts mehr ist und nur noch Gänsescheiße? Die machen am nächsten Tag kehrt und sind wieder weg. Die fehlen uns ja auch. Es ist nicht nur die Maht, die uns fehlt."
Von Werner Focks Hof sind es knapp fünf Minuten bis zum Nationalparkhaus. Im Sommer ist vom Einfall der Gänse nichts mehr zu sehen. Der Deich, die Wiesen, das Schilf an den Entwässerungsgräben, die die Insel durchziehen, alles grünt und gedeiht. Die Pferde auf den Weiden können sich satt fressen.

Ein Naturspektakel - doch die Gänse richten große Fraßschäden an

Geleitet wird das Nationalparkhaus von Imme Flegel. Die studierte Meeresbiologin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern auf Neuwerk. Natürlich kennt sie, die so begeistert ist von Neuwerks Vogelwelt, auch die Nöte ihrer Inselnachbarn.
"Man muss sich mal vorstellen, wie viel das ist: 18.000 Gänse auf drei Quadratkilometern. Das ist hier richtig voll! Wir haben in diesem Jahr tatsächlich auch Weißwangengänse in unserem Garten gehabt. Das gab es vorher auch noch nie. Es werden halt immer mehr. Ich habe vor zehn Jahren hier angefangen, da waren es etwa 3500 Gänse, also 3000 Ringelgänse und 500 Weißwangengänse. Und mittlerweile sind wir insgesamt bei 18.000 ungefähr. Da ist schon enorm. Das ist unvorstellbar, was hier los ist. Das ist natürlich ein Super-Naturspektakel. Und für die Neuwerker selbst, für alltägliche Leben ist es natürlich total schwer, weil unheimliche Fraßschäden entstehen. Und dann ist hier zwei, drei Monate es überhaupt nicht möglich, Tiere auf die Weiden zu kriegen. Und die sind darauf angewiesen."
In dieser Zeit stehen die 50 Inselpferde in ihren Ställen und werden mit Heu vom Vorjahr oder mit zugekauftem Heu vom Festland versorgt.

Der Neuwerk-Beauftragte in Hamburg schweigt lieber

Ortswechsel. Das für Neuwerk zuständige Bezirksamt Hamburg-Mitte liegt vis-à-vis zum Hauptbahnhof. Hier arbeitet der Neuwerk-Beauftragte des Bezirks Gerd Schustermann. Mit Schustermann gebe es eine tolle Zusammenarbeit, sagen die Neuwerker, allen voran Inselwart Volker Griebel. Trotzdem möchte der Neuwerk-Beauftragte lieber kein Interview zu den Querelen mit den Insulanern geben. Das übernimmt Sorina Weiland, die Sprecherin des Bezirks:
"Einfach, um das Ganze zu bündeln und es den Neuwerkern ein bisschen leichter zu machen, kommen alle Sorgen, Wünsche und Nöte hier bei unserem Kollegen, dem Neuwerk-Beauftragten an. Und er regelt das dann, dass es entsprechend an die zuständigen Fachbehörden weitergeleitet wird. Es sind so viele Akteure, die hier mit einzubeziehen sind. Und das ist manchmal gar nicht so einfach, die alle unter einen Hut zu kriegen."
Im Fall der Fraßschäden durch die Weißwangen- und Ringelgänse ist die Umweltbehörde in Hamburg-Wilhelmsburg zuständig. In dem buntgekachelten, modernen Gebäude arbeitet Klaus Janke. Seit 25 Jahren leitet er den "Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer". Und die Sache mit dem Vogelmist findet natürlich auch Klaus Janke nicht toll:
"Von Seiten des Naturschutzes müssen wir allerdings sagen: Wir haben diese Gänse nicht gerufen! Wir haben sie auch nicht angelockt. Und sie stehen auch nicht unter dem besonderen Schutz des Nationalparks, sondern unter dem Schutz des Europäischen Naturschutzrechts. Und deshalb darf man sie auf ihrem Zug in den Norden nicht vergrämen. Man darf sie auch nicht schießen."

Wenn man die Gänse in Ruhe lässt, werden sie schnell fett und fliegen weiter

Und am Ende, erzählt Klaus Janke in seinem Büro, würde ein Vergrämen, also der Einsatz von Schreckschusspistolen, auch gar nichts bringen:
"Je häufiger man sie stört, desto mehr Energie verlieren sie. Beim Auffliegen und wieder zurückkommen. Und umso länger bleiben sie. Und umso mehr fressen sie. Das Beste ist also, sie möglichst ruhig sitzen zu lassen. Dann sind sie schnell fertig mit dem Fett-Werden und dann machen sie sich auf und fliegen davon. Und das tun die natürlich später, wenn sie ständig gestört werden."
Eine finanzielle Entschädigung für die Fraßschäden oder dadurch entstehende Einbußen von Hotelbetrieben und Gaststätten, die wird es sicher nicht geben, so Klaus Jahnke:
"Die Antwort des Senats an dieser Stelle ist unisono: 'Wir sind nicht verpflichtet, die Gänseschäden zu entschädigen. Also werden wir das Geld des Steuerzahlers auch nicht in die Hand nehmen dafür, um es dann zu tun!'"
Dazu kommt: im Nationalpark gilt ein Bau- und Jagdverbot. Aber diese Verbote würden die Insulaner kaum zu spüren bekommen, erzählt Klaus Janke: denn bislang sind fast alle kleinen Anbauten an bestehende Hotels unter Auflagen genehmigt worden.
Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz und Umweltsenator Jens Kerstan haben sich im Sommer 2015 ein Bild der Lage gemacht. In Gummistiefeln, Windjacke und ohne Krawatte waren die Politiker mit dem Schiff, der "MS Flipper" auf die Insel gekommen. Gefeiert wurden 25 Jahre "Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer". Vor dem Gespräch in Volker Griebels Gaststube erklärte der Bürgermeister seine Sicht auf die Dinge:
"Ich bin überzeugt, dass das Miteinander von Landwirtschaft, Tourismus, Naturschutz gut funktioniert. Alles lebt voneinander. Und ich bin sehr froh, dass Naturschützer mir alle versichert haben, dass sie sich sehr verantwortlich fühlen, dass diejenigen, die hier leben, auch gut zurechtkommen können und dass die Landwirtschaft auch wirtschaftlich funktioniert zum Beispiel. Das ist das, worum es geht. Und man sieht ja auch den Erfolg an der Zahl derjenigen, die als Besucher hierher kommen."
Blick übers Watt mit den typischen Wattwurm-Häufchen
Blick übers Watt mit den typischen Wattwurm-Häufchen© Deutschlandradio / Axel Schröder
Natürlich bestiegen Olaf Scholz und Jens Kerstan damals auch den Leuchtturm. Über eine enge Wendeltreppe, einen Fahrstuhl gibt es nicht. Von dort oben waren die Fraßschäden der Gänse längst nicht mehr zu sehen. Und der Geruch von Vogelkot war längst verweht. Aber dieser Geruch, so Jens Kerstan damals, gehöre ja irgendwie zu einem Nationalpark dazu:
"Das ist aber Teil der Natur. Und Nationalparke sind ja gerade deshalb so große Magneten für Touristen, weil man hier einfach die natürliche Dynamik erleben kann. Mit allem, was dazu gehört. Und da gehört Kot von Vögeln und Gestank dann eben auch dazu."
Aber genau damit wollen sich die Neuwerker nicht zufrieden geben. Sie wollen stur bleiben in ihrer Forderung nach einer Entschädigung für den Kahlfraß. Das versichert der Inselwart Volker Griebel. Die Hände verschränkt auf dem weißen Tischtuch im Restaurant seines Hotels.

Den Verlust durch die Gänse beziffert Griebel auf über 20.000 Euro

"Bis jetzt hören wir immer nur von der Nationalparkverwaltung: 'Das kommt von der Europäischen Union oder durch den Naturschutz in der Europäischen Union. Aber die kennen uns nicht! Die wissen gar nicht, was wir hier tun müssen, damit jeder Betrieb läuft. Und unser Ansprechpartner sind die Leute in Hamburg und nicht die Europäische Union!"
Wenn es nach Volker Griebel geht, können im Frühjahr ruhig die Gänse kommen und sich sattfressen. Natürlich kommt es auch für den Inselwart nicht in Frage, die Tiere abzuschießen oder zu verscheuchen. Das wird nichts bringen, weiß auch Volker Griebel. Aber die 23.000 bis 24.000 Euro, die durch die Gänse nach seinen Berechnungen allen drei Betrieben der Insel verloren gehen, die schmerzen schon. Das Argument des Hamburger Senats – "Wir haben die Gänse ja nicht gerufen!" – lässt der Inselwart nicht gelten:
"Ich sehe das etwas anders! Ich sehe das so: die Einführung des Nationalparks ist ein politischer Wille. Und dadurch resultieren diese Geschichten. Ich sehe das so, dass die Freie und Hansestadt für meine Begriffe verpflichtet ist, Schadenersatz zu zahlen. Aber sie sagen ja, sie sind nicht verpflichtet dazu."
Und wer weiß, sagt Volker Griebel, vielleicht sei das juristisch gesehen tatsächlich so. Nur fair findet er es trotzdem nicht.
"Ich glaube, sie machen sich das zu einfach. Das wird so ein bisschen abgetan."
Genau den gleichen Eindruck hat auch Imme Flegel, die Leiterin des Nationalparkhauses. Hinter ihr steigt das Grün des Deichs an, vor ihr steht das alte, etwas heruntergekommene Neuwerker Schulhaus. Rechts neben dem Eingang lehnt das abgeschraubte Schild mit dem Hamburger Stadtwappen.
"In dem Gebäude befindet sich eine Wohnung für die Lehrerin und ein großer Klassenraum für ausreichend Schüler. Im Moment sind keine da, aber theoretisch wäre das möglich. Und da wird klassenübergreifend unterrichtet. Und es soll demnächst auch im Dachboden noch eine Wohnung ausgebaut werden, für eine Tagesmutter, um die Kinderbetreuung stattfinden zu lassen."

Das einzige Kind der Insel wird bald eingeschult

Damit in der Inselschule wieder Unterricht stattfinden kann, muss renoviert werden. Und viel Zeit ist nicht mehr bis zur Einschulung des einzigen Kindes, von Imme Flegels Tochter.
"Genau! Am 6. September ist Einschulung unserer Tochter und bisher ist noch nichts passiert. Wir hoffen, dass sie es noch schaffen. Es sind wohl Handwerksbetriebe jetzt gefunden worden, ist uns gesagt worden und wir hoffen, dass sie das Notwendige noch hinkriegen. Das wäre schön, wenn die Einschulung dann stattfinden kann."
Seit drei Jahren ist klar, dass etwas getan werden muss. Dass im September ein Inselkind in dem über 100 Jahre alten Gebäude unterrichtet werden muss. Bunte Pappmaché-Köpfe schauen noch aus den Fenstern im Eingangsbereich, nur die Schülerinnen und Schülern, die die Köpfe gekleistert und bemacht haben, haben schon vor Jahren die vierte Klasse hinter sich gebracht und gehen auf Internate auf dem Festland. Alle paar Wochen besuchen sie ihre Eltern auf der Insel.
Warum es nicht vorangeht mit der Renovierung, erklärt Daniel Stricker in seinem Büro am Hamburger Gänsemarkt. Er ist der Sprecher der Finanzbehörde:
"Eigentlich haben wir sehr frühzeitig, nämlich bereits im Januar begonnen, die entsprechenden Planungen, die vorbereitenden Maßnahmen durchzuführen. Wir hatten allerdings schlicht und ergreifend das Pech, dass wir auf die entsprechende Ausschreibung im Mai keine Gebote bekommen haben. Und daraufhin habe wir dann die erste Ausschreibung aufheben müssen. Und uns dann mit den Ausbaumaßnahmen, die nicht ausgeschrieben werden mussten, beholfen. Das machen wir jetzt. Da sind wir aber auch eng in der Abstimmung mit der Lehrerin. Und die Lehrerin wird auch zur 33. Kalenderwoche planmäßig in die Wohnung einziehen können."

Zu lang die Anfahrt, zu kompliziert der Materialtransport

Tatsächlich ist es schwierig, Handwerker vom Festland für Aufträge auf der Insel zu begeistern. Zu lang ist die Anfahrt, zu kompliziert der Materialtransport. Schnell mit dem Kleintransporter vorfahren und loslegen mit der Renovierung - das geht auf Neuwerk nicht. Alle Transporte finden mit dem Schiff oder dem Wattwagen statt. Aber dass man die Sorgen und Nöte der Neuwerker nicht ernst nehme, das stimme einfach nicht, so Daniel Stricker:
"Im Gegenteil! Dass die Schulbehörde entschieden hat aus pädagogischen Gründen das Kind nicht zu zwingen, auf eine Schule am Festland zu gehen, sondern eine Vollzeitlehrerin auf die Insel zu entsenden und dass 'Schulbau Hamburg' erhebliche Investitionsmaßnahmen in das Schulgebäude vornimmt, zeigt ja, dass diese Sorgen und Nöte der Neuwerker eben sehr ernst genommen werden und nicht einfach zur Seite gewischt werden."
Über diese Haltung kann sich Imme Flegel ärgern. Denn das sei genau die Unwissenheit, mit der die Neuwerker so oft bei ihren Verhandlungen mit dem Senat zu kämpfen hätten. Natürlich muss ihr Kind auf der Insel beschult werden, erklärt Imme Flegel. Denn Ebbe und Flut halten sich nicht an einen Schulbeginn um acht oder neun Uhr morgens. Auch die Reederei der einzigen Fähre von und nach Neuwerk richtet sich eben nicht nach den Bedürfnissen einer Erstklässlerin. Die Renovierung der Schule ist deshalb keine besondere Geste der Hamburger Schulbehörde, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und wenn es nach Imme Flegel ginge, müssten die Inselkinder nicht schon ab der 4. Klasse, mit zehn Jahren das Internat oder Schulen am Festland besuchen, sondern könnten bis zur 9. Klasse zusammen auf der Insel lernen.
"Ich denke, es ist was anderes, wenn man ein Kind mit 16 ans Festland gibt als mit zehn. Da sind die schon selbständig und das kann man vielleicht hinkriegen. Aber so ist man ja gezwungen, entweder mit seinem Kind die Insel zu verlassen. Das heißt aber, dass die Insel entvölkert ist, weil es keine Möglichkeiten mehr, für Familien hier dauerhaft Fuß zu fassen. Oder man ist tatsächlich bereit, sein Kind wegzugeben. Aber dazu gezwungen zu werden, finde ich eigentlich ein Unding!"
Die über 100 Jahre alte und renovierungsbedüftige Inselschule: Im September wird hier eine einzige Schülerin die erste Klasse besuchen.
Die über 100 Jahre alte und renovierungsbedüftige Inselschule: Im September wird hier eine einzige Schülerin die erste Klasse besuchen.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Gleich neben der Inselschule steht ein kleines Nebengebäude. Oben im Dachstuhl ist die Turnhalle untergebracht, unten hat Imme Flegels Mann Werner seinen Verkaufsladen und eine Werkstatt, die "Neuwerkstatt".
Hier bedruckt er T-Shirts und Kapuzenpullover, er verkauft Wattführer, Spiele und Puzzles und die Fundstücke seiner Wattwanderungen.
"Das sind jetzt so ein paar Strandfunde: ausgewaschenes Holz, Wellhornschnecken als Deko und Schmuck aus Bernstein."

Nur ein Betrieb entstand hier in den letzten Jahren

Die Steine findet er im Watt vor der Insel. Bei Niedrigwasser geht Werner Flegel raus zu den Stellen, an denen man die uralten, versteinerten Harzbrocken mit geschultem Auge finden kann. Seine "Neuwerkstatt" ist der einzige in den letzten Jahren entstandene Betrieb. Und wie es weitergeht, ist ungewiss.
"Ich habe für nächstes Jahr meine Kündigung für die Nutzung des Raums bekommen. Danach muss ich mal sehen, was ich mache. Vielleicht werde ich hauptberuflicher Bernsteinsammler… Es ist wirklich schwierig, dann hier etwas Neues aufzubauen. Eigentlich ist es nicht möglich. Das heißt, diese Existenz so mit dem Laden und meiner Selbständigkeit wird dann beendet sein."
Werner Flegel zuckt mit den Schultern. Die Gründe für die Kündigung kennt er nicht. Aus der Hamburger Finanzbehörde heißt es: das Gebäude soll verkauft werden, weil es sonst erstens bald renoviert werden müsste. Und zweitens käme so Geld in die Hamburger Stadtkasse, mit der ein Teil der Baumaßnahmen im eigentlichen Schulgebäude finanziert werden könnte. Wenn Werner Flegel also sein Werkstattgebäude kaufen würde, finanziert er damit auch den Klassenraum für seine Tochter. Die Suche nach einem Ausweichquartier für den kleinen Laden ist auf Neuwerk aussichtslos. Es gibt keine leerstehenden Räumlichkeiten und Neubau-Projekte gibt es schon lange nicht mehr auf der Insel.
"Es ist so, dass solche Sachen von uns immer angeführt werden von uns Neuwerkern. Aber Hamburg ist weit weg. Viele wissen gar nicht, wie es auf Neuwerk läuft und es sind dann halt alles Kostenfaktoren. Und dann werden die 20 Wählerstimmen oder noch weniger dann mal eben außen vor gelassen. Wir sind nicht wahlentscheidend – sagen wir’s mal so."
Die nächsten Kunden stehen schon mit einer Bernstein-Ketten und einem Neuwerk-Käppi an der Kasse. Werner Flegel verabschiedet sich, bedient die Kundschaft. Zusammen mit Stefan Griebel, dem Sohn des Inselwarts, gehört er zur siebenköpfigen Freiwilligen Feuerwehr auf der Insel. Und natürlich, erzählt der junge Griebel im Kaffeegarten des Hotels, habe man wie überall in der Republik ernste Nachwuchsprobleme. Auch wenn die Insel-Feuerwehr eher selten Brände löschen muss, sind die Männer gerade im Sommer als Rettungskräfte gefragt:
"Über die Sommermonate hat halt Neuwerk auch gut 80.000 Besucher aufs Jahr gesehen. Und da hast du immer mal jemanden dabei, der mit dem Kreislauf sich nicht mehr wohlfühlt oder vielleicht mal unglücklich am Deich ausgerutscht ist oder sowas. Und den Leuten helfen wir halt auch, unterstützen sie dann, ins Krankenhaus zu kommen. Und wie man sich sicherlich vorstellen kann: das häuft sich mit der Anzahl der Besucher. Das heißt – wir sind ja eigentlich alles selbständige Gastronomen – diese sieben Leute, die in der Feuerwehr sind, davon sind fünf Selbständige und dann rennt quasi der Chef aus seinem Laden, um hier jemandem zu helfen und das ist manchmal nicht einfach, weil es dann auf andere Leute, die in deinem Betrieb arbeiten abgewälzt werden muss. Die müssen das dann einfach tragen."

Jammern auf hohem Niveau?

Stefan Griebel nimmt einen Schluck aus seinem Kaffeepott, schaut auf die Innenseite des Deichs, nickt zur Begrüßung einem Gast zu. Eine Idee ist, in den Sommermonaten einen ausgebildeten Rettungssanitäter auf Neuwerk zu stationieren. Auf Helgoland klappt das. Aber dort seien die Wohnmöglichkeiten für zusätzliche Inselbewohner nicht so knapp wie auf Neuwerk. Könnte dann nicht einfach eine Wohnung in den drei Hotels vor Ort zur Verfügung gestellt werden?
"Die Insel hat ja selber nur acht Monate im Jahr geöffnet. Im Winter sind die Betriebe ja alle zu. Wir sind auf die Einnahmen im Sommer dringend angewiesen. Und da kann ich jetzt nicht einfach ein Zimmer bei mir rausnehmen und sagen: 'Das ist jetzt das Zimmer für XY.'"
Immerhin: Die Verhandlungen mit der Stadt laufen bereits, bislang noch ohne Einigung. In zwei Jahren will Stefan Griebel den Hof, das Hotel und die Gastronomie von seinem Vater übernehmen. Er hofft, dass das Wirtschaften auf Neuwerk in Zukunft nicht noch schwieriger wird. Dass die Stadt Hamburg mehr für ihren Außenposten im Wattenmeer tut:
"Bei der derzeitigen Situation - sprich: Hamburg und Niedersachsen lassen einen im Stich – bei Niedersachsen kann ich das sogar noch nachvollziehen – da fragst du dich dann schon am Ende des Jahres, wenn du dann mal einen Strich drunterziehst: wofür machst du das eigentlich? Steuern und sowas darfst du bezahlen und machen und tun. Aber wenn es dann mal um ein bisschen Support geht… Wie gesagt: Seit 1997 reden wir über die Gänse. Das dauert dann einfach. Und ich frage mich, ob da wirklich ein Wille da ist."
Die Hamburger Verwaltung sieht das natürlich anders. Dort heißt es hinter vorgehaltener Hand: 'Die Neuwerker jammern auf hohem Niveau! Und juristisch sind wir zu weiteren Hilfen nicht verpflichtet!' Die Gespräche zwischen den Inselbewohnern und ihrer so weit entfernten Verwaltung werden weitergehen. Und die Neuwerker hoffen darauf, dass dem Hamburger Senat irgendwann klar wird, dass die Uhren auf der Insel einfach anders ticken.
Der Hof und die Pferdeställe von Volker Griebel
Der Hof und die Pferdeställe von Volker Griebel© Deutschlandradio / Axel Schröder
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