Insel Mayotte

Europas Außenposten vor Afrika

Markt auf der französischen Komoren-Insel Mayotte.
Markt auf der französischen Komoren-Insel Mayotte. © picture alliance / dpa / Hans Dieter Kley
Von Barbara Kostolnik · 14.10.2015
Zwischen Mosambik und Madagaskar liegt die Insel Mayotte. 250.000 Einwohner leben hier auf einer Fläche gerade mal so groß wie Bremen, die zu Frankreichs Übersee-Gebieten gehört. Doch so paradiesisch es auf Mayotte auch ist, die Insel hat ihre Schattenseiten.
Traumhafte Strände, eine herrliche Lagune, überbordende tropische Vegetation. Mayotte: ein winziger Fleck im Indischen Ozean – und seit vier Jahren voll und ganz französisch. Auch wenn es nicht unbedingt so klingt.
Leicht ist die Insel nicht zu erreichen – der Flughafen von Dzaoudzi hat eine sehr kurze Landebahn, was bedeutet: große Flugzeuge kommen hier nicht her. Wer sich nach Mayotte aufmacht, muss Zeit und Ausdauer mitbringen und: Umsteigen in Kauf nehmen, in Nairobi oder auf Réunion. Ist man schließlich gelandet, auf Petite Terre, der nur etwa 16 km² großen Mini-Insel, wartet das nächste Abenteuer: la Barge.
Petite Terre und Grande Terre, die deutlich größere Insel, sind durch eine Fähre, die Barge, miteinander verbunden, die gemütlich tuckernd täglich Autos, Waren und Menschen hin- und hertransportiert.
Fällt die Fähre einmal aus, sieht es schlecht aus, für Grande Terre.
"Das ist der Blackout, wenn die Barge nicht fährt, im Notfall gibt es dann noch kleine Wassertaxis, aber nur im Notfall."
Dennoch: niemand würde hier durchdrehen. Wir sind schließlich – Frankreich hin oder her – in Afrika.
Paradies mit Schattenseiten
Um Mayotte zu verstehen, muss man in die Geschichte der Insel eintauchen. Die eigentlich zu den vier Komoren-Inseln gehört. Die Komoren, ehemals ebenfalls französisches Übersee-Gebiet, aber seit 40 Jahren ein unabhängiger islamischer Staat, sind nur 70 Kilometer und einen schmalen Wasserstreifen von Mayotte entfernt, und haben ihren Anspruch auf Petite und Grande Terre nie wirklich aufgegeben.
"Frankreich lässt sich das einiges kosten: die Regierung in Paris zahlt an die Komoren jedes Jahr eine hübsche Summe, um die 200 Mio. Euro, um ihre Ruhe zu haben. Weil die Komoren immer noch bei der UNO Anspruch auf Mayotte erheben. Petite Terre hatte Frankreich 1841 von einem Sultan gekauft, Grande Terre nicht. Man hätte meiner Meinung nach damals entweder alle Komoren-Inseln nach Frankreich holen sollen oder keine. Denn jetzt haben wir die Probleme"
Christophe Durant kennt diese Probleme, denn so paradiesisch es auf Mayotte auch ist, die Insel hat ihre Schattenseiten. Seit zwei Jahren wohnt der Unternehmer dauerhaft auf der Insel, die sich 2009 in einem Referendum zu 95 Prozent dafür ausgesprochen hat, voll und ganz französisch zu werden: ein Département d'Outre-Mer, wie La Réunion oder Guadeloupe. Nur zwischen "französisch werden" und "französisch sein" klafft eine gewaltige Lücke. Das Département ist noch sehr jung – und wir sind hier eben immer noch: vor Afrika.
"Es herrscht hier eine völlig andere Mentalität vor, die Zukunft, das wird nicht lange im Voraus geplant, das ist morgen, höchstens übermorgen."
95 Prozent aller Mahorais sind Muslime. Ein Erbe aus dem 18. Jahrhundert, als die Sultane das Sagen hatten. Überall, auch im allerkleinsten Dorf, steht im Zentrum eine Moschee. Und vor der Moschee eine Bushaltestelle. Sie ist nicht zu verfehlen.
Die Frau bestimmt
Wer sich in die Hinterhöfe aufmacht, findet auch islamische Buchläden:
Dieser Laden in Kawani ist vollgestopft mit Büchern. Der Besitzer hockt hinter der Kasse und liest im Koran:
"Ich bin Sunnit, gemäßigter Sunnit natürlich, wir haben hier lauter geistliche Bücher, auf arabisch und auf französisch."
Der gemäßigte, sunnitische Islam afrikanischer Prägung macht niemandem Angst. Die Frauen laufen unverschleiert durch die Straßen, Extremismus ist unerwünscht. Auch wenn es in jüngster Zeit Versuche gab, die Menschen auf der Insel zu radikalisieren.
"Es gibt diese Prediger, die hier her kommen und die Leute manipulieren wollen, aber die Leute von hier mögen das nicht, sie haben sogar die Extremisten verjagt"
Eine weitere Besonderheit der Insel: die Frau bestimmt.
"Auf dieser Insel entscheidet die Frau. Das ändert alles. Die Frau ist die wichtigste Person im Haushalt, sie besitzt das Haus und den Grund, und damit hat sie das Sagen."
Doktor Angaman Didia hat von Berufs wegen viel mit Frauen zu tun. Er ist Direktor der größten Geburtsklinik Frankreichs. Die sich hier auf Mayotte befindet, in der Hauptstadt Mamoudzou.
Überall Kinder
Der Wartesaal der Klinik ist brechend voll, überall schwangere Frauen, viele haben Bekannte oder Verwandte mitgebracht, auch die 36-jährige Maria:
"Ich habe vier Kinder, das ist meine fünfte Geburt."
Erzählt sie der Hebamme, die übersetzt, denn Maria spricht nur wenig Französisch, sondern Shimaorais, einen komorischen Dialekt. Maria ist auf der Komoren-Insel Anjouan geboren, 70 Kilometer von Mayotte entfernt. Dort gibt es kaum medizinische Versorgung, und schon gar keine so gute wie hier in Mamoudzou. Doktor Didia ist zu Recht stolz auf seine moderne Klinik, er sagt aber auch:
"Das ist Fluch und Segen zugleich. Wir behandeln hier jede Frau, die kommt, ohne Ansehen der Person, aber wir stehen kurz vor der Implosion: wir haben 7500 Geburten im Jahr, es ist kein Ende ins Sicht, und 60 Prozent aller Schwangeren kommen von den umliegenden Inseln."
Kinder. Wo man hinschaut: Kinder, Jugendliche. Mayotte ist voll davon. Und besonders voll sind die Slums der Insel.
"Es ist selten hier, dass du Jugendliche antriffst, die Arbeit haben",
erzählt Hidaya. Sie ist hier auf Mayotte geboren und arbeitet im Slum von Kaweni – dort kümmert sie sich hauptsächlich um Flüchtlings-Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen, und auf die sonst kaum einer achtet. Etwa 2000 solcher Minderjähriger soll es auf Mayotte derzeit geben.
Mehr als ein Drittel aller Einwohner lebt ohne Papiere
"Diese alleinstehenden Minderjährigen, wir müssen es schaffen, dass sie zur Schule gehen, damit sie eine Ausbildung erhalten"
Solange sie minderjährig sind, können sie auch nicht abgeschoben werden, so sieht es das französische Gesetz vor. Und danach? Kann man ja immer noch untertauchen. Vorzugsweise im Slum.
Der Slum von Kaweni ist der größte Slum Frankreichs: es riecht nach Müll, der überall herumliegt, die Hütten sind aus Wellblech irgendwie zusammengenagelt und kleben wie Waben am Hang, der Boden ist aus Lehm.
"Das hier ist die Realität ... dieser Ort ist schon bei Trockenheit wenig zugänglich, aber wenn es regnet, dann kommt hier keiner mehr hoch, selbst wir nicht"
Im Bidonville, wie Slum auf französisch heißt, wohnen hauptsächlich Illegale. Mehr als ein Drittel aller 220.000 Einwohner von Mayotte lebt ohne Papiere. Sie kommen von den umliegenden Inseln, vorzugsweise den Komoren, jeden Tag und jede Nacht mit Booten hierher: nach Frankreich – wie der 20-jährige Abdillah:
"Dreimal habe ich versucht, die 70 Kilometer, die Mayotte von der nächsten Komoren-Insel trennen, in einem Boot zu überwinden, einmal war das Wetter zu schlecht, dann hat mich eine Polizei-Patrouille erwischt."
Nun hat es geklappt: hier auf Mayotte, in Frankreich, will er ein besseres Leben finden als auf den bitterarmen Komoren. Aber wie soll das gehen – im Slum, ohne Geld, ohne Papiere, und ohne die französische Sprache? Abdillah zuckt die Achseln, er hat noch keine Ahnung. Jetzt muss er erstmal Geld verdienen, seine Überfahrt hat 1500 Euro gekostet, ein Vermögen. Wie er das machen will? "Ich weiß nicht." Ein symptomatischer Satz für die Jugend auf Mayotte.
Kaum Perspektiven und kaum Arbeitsplätze
"Man muss nur 24 Stunden auf Mayotte verbringen, dann sieht man, mit welchen Schwierigkeiten die Jugend hier zu kämpfen hat."
sagt Patrick Hamada vom französischen Fußball-Verband: Kaum Perspektiven und kaum Arbeitsplätze: nur 20 Prozent aller arbeitsfähigen Mahorais unter 30 Jahren haben einen Job.
Die Lagune von Mayotte erstreckt sich über 1500 qkm, geschützt ist sie durch ein Riff, das die Insel wie ein Ring umgibt. Die Wassertiefe beträgt höchstens 40 Meter, an manchen Stellen sind es auch nur zwei. Jean-Jacques profitiert davon: er bietet in dem badewannen-warmen, türkis leuchtenden Wasser Schnorchel- und Tauchkurse an.
Paradiesisch: Grand Terre, eine der Hauptinseln von Mayotte
Paradiesisch: Grand Terre, eine der Hauptinseln von Mayotte© dpa / Drolc Gerard
"Wir haben diese außergewöhnliche, geschützte Lagune; man kann das ganze Jahr über Wassersport betreiben, höchstens in der Regenzeit im Februar stört der Monsun etwas, manchmal ist es stürmischer wegen der Passatwinde, aber die Lagune ist immer geschützt, man kann Wale beobachten, und dann ist da natürlich der Meeresboden mit seinen Korallen: ich war schon überall auf der Welt tauchen und rede mit vielen Leuten, und alle sagen: Mayotte, das ist wunderschön"
Jean-Jacques Le Guen: blankpolierte Glatze, schwarze Sonnenbrille, drahtiger, sonnengebräunter Oberkörper. Der Ex-Fremdenlegionär kam das erste Mal 1981 als Kind mit Mayotte in Berührung – sein Vater, Offizier der französischen Armee, war auf die Insel versetzt worden. Noch heute besteht der Großteil von Petite Terre aus militärischem Sperrgebiet, ist bestückt mit riesigen Satellitenschüsseln und hat, so munkelt man, einen hochgeheimen U-Boot-Hafen.
Kriminalitätsrate in jüngster Zeit erheblich gestiegen
"Damals gab es hier exakt nichts. Ich hab gesehen, wie die ersten angefangen haben, so etwas wie Tourismus aufzuziehen: da war ein Ehepaar, das hat ein Stromaggregat aufgestellt und ab und zu für südafrikanische Touristen Bootstouren angeboten. Wir hatten hier zwei, drei Ferienhäuser auf der Insel, das war's. Aber es wandelt sich gerade sehr."
Die zu kurze Start- und Landebahn des Flughafens verhindert natürlich auch, dass auf Mayotte massenweise All-Inclusive-Urlauber landen.
Ein anderes Problem der Insel ist jedoch die Sicherheit: die Kriminalitätsrate ist in jüngster Zeit erheblich gestiegen. Jean-Jacques hat Sorgenfalten, als ich ihn darauf anspreche:
"Was die Sicherheit betrifft, tja, da will ich Ihnen nichts vormachen, ich finde, seit 2009 hat sich die Lage verschlechtert, allerdings meine ich, dass es sich hauptsächlich um Kleinkriminalität handelt, die man im übrigen auch in Marseille oder Nîmes findet; ein Beispiel: immer öfter brechen sie jetzt mit Wagenhebern die Gitter vor den Fenstern auf, das gab es früher nicht – es muss jetzt schleunigst was dagegen unternommen werden, weil: das schadet dem Tourismus."
In der Marina, dem kleinen Hafen von Mamoudzou. Gerade kommt wieder eine Fähre an. Aus Petite Terre: die Überfahrt auf die größere Insel, Grande, Terre, ist kostenlos, wer zurück will, Richtung Flughafen, muss zahlen. Plötzlich wird es laut, Steine fliegen, Jugendliche gehen aufeinander los. Die Polizei ist schnell zur Stelle.
Es gab eine Schlägerei, aber jetzt sei es vorbei. Alexandre Petit-Duport scheinen die Auseinandersetzungen nicht sonderlich zu beunruhigen; er lebt auf Mayotte und arbeitet dort für die französische Regierung.
"Es kommt schon mal vor, dass sich Jugendliche in die Haare geraten, seit ein paar Tagen gibt es Auseinandersetzungen zwischen zwei Dörfern im Zentrum der Insel, und das entlädt sich dann auch andernorts, die Jugend braucht keinen Vorwand, um aufeinander loszugehen."
"Die Erwartungen waren hoch"
Petit-Duport gesteht aber ein, dass sich diese Auseinandersetzungen in der letzten Zeit häufen. Die Jugend wurde in den vergangenen vier Jahren mit Lichtgeschwindigkeit ins Internetzeitalter gebeamt, während die Alten in ihren Sprachen, dem Shimaore und dem Kibushi, noch nicht einmal Begriffe für diese moderne Technik haben.
"Ich würde nicht sagen, dass es überstürzt war, Mayotte den Status eines französischen Départements zu geben, die Bewohner wollten das immerhin seit 1975, aber sicher ist, sie waren nicht gut vorbereitet. Die Erwartungen waren hoch, aber niemand hat ihnen erklärt, was das letztlich für sie bedeutet: die ganzen Staatsbürgerpflichten als Franzosen, die ganzen Gesetze. Es hat die Gesellschaft und die mahorischen Familien komplett umgekrempelt."
Was sagt nun ein Vertreter der französischen Regierung, der Staatsgewalt auf Mayotte zum Sicherheits- und zum Flüchtlings-Problem? Sous-Préfet Alain Faudon empfängt in einem protzigen Tropenholz-Bau, der weithin sichtbar über der Insel thront: ein stabiles Bauwerk, das müsse so sein wegen der Taifun-Gefahr, scherzt er. Im Gespräch aber versteht er dann keinen Spaß mehr - auf Mayotte sei alles in bester Ordnung und überhaupt:
"Wir haben hier kein anderes Flüchtlings-Problem als Sie in Deutschland auch."
Und außerdem müsse man dem Département Zeit geben:
"Die anderen franzöischen Départements haben 220 Jahre Geschichte hinter sich, Mayotte ist erst seit ein paar Jahren dabei, hat eine sehr junge Bevölkerung, Frankreich entwickelt Mayotte genau wie die anderen Départements auch."
"Kein guter Ort, um Kinder großzuziehen"
Abschließende Logik des Vize-Präfekten: wenn so viele Flüchtlinge nach Mayotte kämen, dann zeige das doch, wie begehrt die Insel sei.
Hidaya, die Mahoraise, die sich im Slum von Kaweni um die Kinder der Flüchtlinge kümmert, hat ihre eigenen Kinder nach Frankreich gebracht. Aufs Festland.
"Man muss leider sagen, so wie sich Mayotte gerade entwickelt, ist diese Insel kein guter Ort, um Kinder großzuziehen."
Fragen wir noch einen, der schon seit 23 Jahren auf der Insel lebt, und dort ein Restaurant betreibt, den Bretonen Laurent Rozanes:
Er sei einer von den Dinosauriern auf Mayotte. Todernst sagt er das.
Und was hat sich nun geändert, in den letzten vier, fünf Jahren, seit die Insel ein französisches Département geworden ist?
Die Lebensqualität.
"Damals haben wir das Festland, also Frankreich, verlassen, um eine bessere Lebensqualität zu finden, und hier auf Mayotte hatten wir sie gefunden. Aber jetzt ist es vorbei."
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