Insel im Gegenrhythmus

Moderation: Stephan Karkowsky · 03.08.2010
Kuba will aufgrund der wirtschaftlichen Situation wieder mehr Privatwirtschaft zulassen. Das ändere aber nichts an dem im Grunde autokratischen System, glaubt der Romanistikprofessor Ottmar Ette. Die "Eigenzeitlichkeit der Inselsituation" habe die Situation in den letzten drei Jahrzehnten geprägt.
Stephan Karkowsky: Einen Schritt vor, zwei zurück. Die Kubaner erleben Beschlüsse ihrer Regierung oft als Salsaschritt. Mal lockert die Castro-Diktatur ihre Verbote, mal zieht sie sie wieder an. Zurzeit geht es Richtung Privatwirtschaft. Erlaubt werden sollen mehr freie Berufe, mehr Selbstständigkeit. Dafür will Kuba die Zahl seiner Staatsbediensteten reduzieren. Seit Jahren engen Kontakt zu Kuba pflegt der Potsdamer Romanistikprofessor Ottmar Ette. Herr Ette, ähnlich wie in anderen sozialistischen Staaten herrscht in Kuba offiziell Vollbeschäftigung, Arbeitslosigkeit ist dort ein Fremdwort. Gibt es denn wirklich Arbeit?

Ottmar Ette: Ja, es gibt schon Arbeit, aber die Effizienz ist natürlich sehr gering. Und insofern ist natürlich auf einer offiziellen Ebene durchaus Vollbeschäftigung da, aber jeder weiß, dass der tatsächliche Verdienst, den man heute erwerben kann in Kuba, sehr häufig damit zu tun hat mit dem informellen Sektor beziehungsweise insbesondere auch mit den Remessas, also mit den Geldüberweisungen, Dollarüberweisungen aus den USA, und mit dem gesamten Bereich, der auch mit dem Tourismus zu tun hat, in Verbindung stehen.

Karkowsky: Bevor wir über diesen informellen Bereich reden, was wissen Sie denn über den offiziellen Bereich, die Staatsbetriebe? Stehen da die Bänder still?

Ette: Die Bänder stehen nicht mehr still als dies in den letzten Jahren der Fall war. Überhaupt, ich glaube, in Ihrer Anmoderation haben Sie auf einen ganz wichtigen Punkt hingewiesen: Es ist ein ständiges Up-and-down, es ist eine ständige Bewegung, die eigentlich auf der politischen Ebene mehr der Regel gehorcht, sag mir, was ich verändern kann, damit alles gleich bleibt. Also, dies ist eigentlich die Maßgabe, so scheint mir, nach der die kubanische Politik seit langen Jahrzehnten funktioniert, auch in der aktuellen Situation.

Karkowsky: Der informelle Bereich heißt, Frauen prostituieren sich, Männer dealen mit Zigarren, arbeiten illegal als Taxifahrer, verkaufen Staatsleistungen, Schwarz-Haarschnitte, subventionierten Rum, was immer sich zu Geld machen lässt, so war das zumindest vor ein paar Jahren. Ist das immer noch so?

Ette: Das ist durchaus nach wie vor so, das unterscheidet sich nicht auch strukturell, wenn auch im Grad, im Umfang von anderen lateinamerikanischen Ländern. Man muss Kuba ja auch immer im Kontext der anderen mittelamerikanischen, karibischen und südamerikanischen Länder sehen, um zu verstehen, wo die Besonderheit dieses gesellschaftlichen und politischen Modells liegt.

Karkowsky: Der Wechsel an der Spitze von Fidel Castro zu seinem Bruder Raúl brachte erste Erleichterung mit sich: Handys sind nicht mehr verboten, es darf mehr Geld überwiesen werden von den Freunden in Miami, Privatcomputer dürfen genutzt werden, die Polizei bekam neue Autos aus China. Hat das denn die Situation spürbar verbessern können?

Ette: Nein, spürbar verbessert hat sich die Situation nicht, sie ist im Grunde relativ gleich geblieben. Das ist durchaus auch ein Erfolg, das kann man jedenfalls als Erfolg sehen, denn der Wechsel von Fidel Castro als charismatischer Figur des Maximo Leader zu Raúl Castro, seinem jüngeren Bruder, der nicht mit einer derartigen Ausstrahlungskraft gesegnet ist, ist eigentlich geglückt. Und die Versprechungen, die bei diesem Wechsel ja doch sehr öffentlichkeitswirksam auch in in die internationale Presse gemischt wurden, die sind im Großen und Ganzen unerfüllt geblieben.

Karkowsky: Vor drei Monaten dann wurden erstmals mehr selbstständige Berufe in Kuba erlaubt, Friseure etwa konnten bislang Touristen nur schwarz die Haare schneiden und gutes Geld dazuverdienen, jetzt dürfen die offiziell auf eigene Rechnung arbeiten. Gibt es nun an jeder Ecke einen selbstständigen Friseur?

Ette: Nein, nach meiner Erfahrung nicht. Ich kenne übrigens durchaus auch eine ehemals im Literaturbereich arbeitende Friseuse, die sich nach wie vor eigentlich in diesem Bereich, in diesem informellen Bereich tummelt; alle wissen, dass die Lizenzen, die erteilt werden, sehr schnell auch wieder zurückgezogen oder weitere Lizenzen nicht mehr erteilt werden. Das heißt, die Kubaner sind eigentlich an diesen Spielraum, den die politische Führung immer im wirtschaftlichen Bereich gewährt und wieder zurückzieht, sehr gut gewohnt und kennen dieses Spiel hervorragend.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" den Potsdamer Romanistikprofessor Ottmar Ette, der seit Jahren engen Kontakt hält mit Kuba. Herr Ette, wir haben es gesagt: Im Laufe der Jahre hat die kubanische Regierung immer wieder kleine Freiheiten zugelassen und scheinbar willkürlich wieder zurückgenommen, Touristen etwa konnten sich nie sicher sein, ob sie noch immer legal privat unterkommen durften oder nun in Staatshotels wohnen mussten. Wie schätzen Sie denn das ein, was die kubanische Regierung jetzt angekündigt hat?

Ette: Nun, wie ich schon gesagt habe, ich denke, dass die der entscheidende Punkt eigentlich darin liegt, dass sich an den Gesamtverhältnissen, auch am Gesellschaftsmodell nichts ändern soll, es ist ein autoritäres, autokratisches Gesellschaftssystem, in dem die Möglichkeiten der Partizipation, auch gerade politischer Partizipation äußerst begrenzt sind.

Insofern sind sozusagen die Spielräume, die geschaffen werden, immer auch Spielräume, die zum einen eine gewisse diskursive Entlastung bringen, zum anderen aber keine wirkliche Veränderung einführen. Davor scheut man sich, das war auch die Position gewesen, als Fidel Castro noch an der Macht, zum Zeitpunkt Gorbatschows gesagt hat, die Perestroika ist die Frau eines anderen Mannes.

Das heißt, man hat hier sehr präzise eigentlich und immer sehr klug, auch opportunistisch, die Möglichkeiten ausgeschöpft, um Kuba auf Kurs zu halten, selbst in den ganz schwierigen Jahren – und damit ist ja die aktuelle Situation nicht vergleichbar – in den 90er-Jahren, in der speziell, Spezialperiode in Friedenszeiten, dem periodo especial en tiempos de paz.

Karkowsky: Kritische Kommentatoren beschreiben die neuen Freiheiten als Notaktion, weil Kuba offenbar die zahlreichen Staatsbediensteten nicht mehr finanzieren kann und hofft, dass sich viele davon selbstständig machen. Können Sie diese Einschätzung teilen?

Ette: Ja, das ist durchaus nachvollziehbar. Ich denke auch, dass die gegenwärtige Politik, die allerdings nur in einem kurzen, mittelfristigen Rahmen zu sehen ist, durchaus der Entlastung dienen soll, eben einer Entlastung, die gleichzeitig auch bedeutet, dass man die Möglichkeiten ausschöpft, die man politisch hat.

Kuba hat ja durchaus auch Erfahrung mit wesentlich weitreichenderen Reformen, die in den 90er-Jahren erzwungenermaßen durchgeführt werden mussten, die aber aufgrund ihrer gesellschaftlich unliebsamen Konsequenzen, also einer wirklichen möglichen Veränderung des Gesellschaftssystems dann auch wieder zurückgenommen wurden.

Das heißt, die Spielräume, die die kubanische Führung heute anbietet, sind relativ gering, sie könnten auch wesentlich größere Spielräume anbieten, ohne dass sie tatsächlich ihre Position verändern müssten. Das jedenfalls zeigt die bisherige kubanische Erfahrung.

Karkowsky: In der Außendarstellung präsentiert sich Kuba gern als gleichberechtigte Gesellschaft. Wer Kuba kennt, weiß, Gleichheit zwischen Schwarz und Weiß gibt es auch da nur auf dem Papier, Schwule und Lesben werden diskriminiert, Oppositionelle inhaftiert. Kommt zu all diesen Ungleichheiten nun auch noch ein soziales Gefälle hinzu zwischen denen, die dank ihrer Verwandten in den USA die neuen Freiheiten nutzen können, und denen, die diese Chance nicht haben?

Ette: Nun, in der Liste, die Sie aufgeführt haben, müsste man durchaus differenzieren, weil innerhalb der unterschiedlichen Bereiche es unterschiedliche Spielräume gibt. Mir scheint auch wichtig zu sein, dass man versteht, dass nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Vorgaben entscheidend sind, um Kuba zu verstehen, sondern vor allem auch die kulturellen.

Kuba ist im Grunde eine Insel, die im Gegenrhythmus läuft. Das heißt, zu einem Zeitpunkt, als der Rest Lateinamerikas, des damaligen, der damaligen spanischen Kolonien politisch unabhängig wurde, blieb Kuba bei Spanien. Als dann Ende des 19. Jahrhunderts Kuba wiederum in eine neue Phase der politischen Unabhängigkeit eintrat, war dies im Grunde ebenfalls wieder gegen den Strom. Und diese lange Erfahrung der Kubaner, sozusagen eine Eigenzeitlichkeit zu haben, eine eigene Logik zu haben, die zwar nicht von der Welt abgekoppelt ist, sondern mit ihr auch sehr stark in Verbindung steht selbstverständlich, aber doch eigenen Gesetzlichkeiten folgt, die hat einen sehr starken Nationalismus hervorgebracht und auch ein hohes Selbstbewusstsein der Kubaner.

Insofern scheint mir, dass in der jetzigen Situation – und das ist im Grunde das Bindeglied innerhalb der kubanischen Gesellschaft – diese Überzeugung, dass man sozusagen gemeinsam innerhalb einer schwierigen, eines schwierigen Umfelds, also auch der Finanzkrise, der Bankenkrise und so weiter, die Kuba sehr direkt getroffen hat, die Möglichkeiten besitzt, doch wider alle Erwartbarkeit eine Fortsetzung dieses Gesellschaftsmodells voranzubringen.

Ich meine allerdings auch, dass der Widerstand, der traditionell seit langen Jahrzehnten, seit im Grunde Ausgang der 70er-Jahre sich immer wieder auf ähnliche Weise kanalisiert, auch sehr hoch ist. Das heißt, auch hier scheint mir, dass die Eigenzeitlichkeit der Inselsituation – denn Kuba ist eine Insel, die zugleich also viel verbunden ist und ihre Eigenlogik hat, also es ist eine Inselwelt auch in dem Sinne, dass sie ihre eigene Welt schafft mit ihrer eigenen Zeit –, dass diese Dimension zumindest die letzten drei Jahrzehnte der kubanischen Geschichte, der kubanischen Kultur ganz entscheidend geprägt hat.

Karkowsky: Über die kleinen neuen Freiheiten auf Kuba der Potsdamer Romanistikprofessor Ottmar Ette. Herr Ette, vielen Dank für das Gespräch!

Ette: Sehr gerne!