"Insel der Seligen"

Moderation: Katrin Heise · 13.05.2005
Nach Ansicht des Schriftstellers Joseph Haslinger hat sich mit der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages vor 50 Jahren auch eine "obszöne Bequemlichkeit", "eine Vergessenskultur" breit gemacht. Mit der Formel von der Neutralität habe man sich auf eine "Insel der Seligen" zurückgezogen, sagte Haslinger.
Heise: Was hat Österreich nun mit dieser Freiheit eigentlich angefangen, das möchte ich nun herausfinden mit dem österreichischen Schriftsteller und Literaturprofessor Joseph Haslinger. In seinem 1995 erschienenen und dann mit Heiner Lauterbach auch verfilmten Erfolgsroman "Opernball", da ließ Haslinger 3000 Gäste des Wiener Opernballs durch einen Giftgasanschlag sterben. Und als Essayist, da ist Haslinger mit seinen Landsleuten auch nicht immer ganz gemütlich, er wirft ihnen heimatseliges und verantwortungsscheues Verhalten zur eigenen Geschichte vor. Österreich ist frei, das sagte also der Außenminister ’55. Was hat Österreich denn da eigentlich für eine Freiheit bekommen?

Haslinger: Na, das war schon eine ganz wichtige Sache. Ich meine, Österreich war von den alliierten Truppen besetzt, war auch so aufgeteilt wie Deutschland auch. Und 1955 ist etwas ganz Erstaunliches gelungen, nämlich der Abzug der sowjetischen Truppen aus einem Land, denn es hat sich ja Jahrzehnte später noch die Mär gehalten: Wo der russische Bär mal seinen Fuß hinsetzt, da zieht er sich nicht mehr zurück. Und Österreich war eigentlich seit langer Zeit ein Gegenbeispiel dafür gewesen, da sind die Russen tatsächlich 1955 abgezogen - der Staatsvertrag am 15. Mai und am 26. Oktober war es dann soweit, dass tatsächlich die Russen die Züge bestiegen haben und das Land verlassen haben.

Heise: Die Mitverantwortung am Zweiten Weltkrieg, die sollte eigentlich in diesem Staatsvertrag stehen, wurde dann aber gestrichen. War das eigentlich wirklich so ein Gefühl der Österreicher: Wir waren die ersten Opfer der Nationalsozialisten?

Haslinger: Das Gefühl, na ja, es gab natürlich Leute, die es besser wussten, aber man hat sich, sagen wir mal, auf dieses Gefühl geeinigt, das war die bequemste Gefühlslage, auf die man sich zurückziehen konnte. Es gab dazu eine Formel im Staatsvertrag - 1943, als erstmals in Russland darüber verhandelt wurde, wie die Nachkriegsgeschichte von Österreich aussehen könnte, wurde festgehalten, dass für den Fall, dass Österreich Widerstand zu leisten beginnt, man eine Souveränität des Staates in Erwägung ziehen könnte. Man hat erwartet, damals, dass tatsächlich das den Widerstand gegen die Nationalsozialisten in Österreich stärken könnte, das ist die Erwartung des eigenen Staates - und es war 1943 ja eigentlich für alle die Niederlage, für alle, die Kopf hatten, die Niederlage schon absehbar -, dass das in Österreich einen Rückenwind geben könnte, den Widerstand - es gab ja Widerstand in Österreich, der war allerdings relativ bescheiden - und das war nicht der Fall, also die Österreicher sind eigentlich bis zum Schluss zum Nationalsozialismus gestanden und der Widerstand ist gegen Schluss nicht erheblich stark geworden.

Heise: Heute klingen Sie sehr gelassen, wenn Sie über das Thema sprechen. In Ihrer Essay-Sammlung "Klasse Burschen" schreiben Sie über Ihr Heimatland: "Obszöner hat ein Land in Zeiten des Friedens noch nicht ausgehen". Was ist denn nun so "obszön" an Österreich?

Haslinger: Na, obszön ist diese Bequemlichkeit, diese Vergessenskultur, die sich breit gemacht hat. Österreich war nach dem Krieg politisch gelähmt und man muss sich schon fragen: Wie kam es dazu, dass ein Land so lange brauchte, bis es in der Lage ist, sich seiner eigenen Mitschuld zu stellen? Und das hatte einen Grund, der mir selbst erst im Laufe der Zeit klar wurde, und der Grund liegt eigentlich vor dem Zweiten Weltkrieg. Da gab es das Jahr 1934, das war in Österreich ein veritabler Bürgerkrieg, da haben die Wiener Arbeiter in erster Linie, aber auch in anderen Landesteilen, in Industriezentren in der Steiermark und so weiter, haben die Arbeiter sich bewaffnet und haben den Aufstand geprobt und die wurden mehr oder weniger zusammengeschossen, die Sozialdemokratische Partei wurde verboten, die Kommunistische Partei war schon verboten, dann wurde auch noch die NSDAP verboten, es gab ein autokratisches Regime, an dem die katholische Kirche mehr oder weniger stark beteiligt war, und das haben die Sozialdemokraten natürlich den Bürgerlichen nicht verzeihen wollen. Und überhaupt war es so, dass 1945, als erstmals die Chance war, dass wieder ein demokratisches Österreich zu Stande kommt - muss man sich vorstellen: Da trafen zwei Parteien aufeinander, die bei ihrer letzten Begegnung, elf Jahre zuvor, aufeinander geschossen hatten, dazwischen gab es keine Begegnung - und da haben sie sich gefragt: Wie können wir das machen? Die haben sich ja gehasst bis aufs Blut, die Sozialdemokraten haben die Bürgerlichen ja mehr gehasst als die Nazis, denn die Bürgerlichen waren es ja, die sie ausgeschaltet haben, die sie ins Gefängnis gesteckt haben, die sie verboten haben.

Heise: Also hat man sich so ein bisschen geeinigt, die Zeit erst mal ruhen zu lassen ...

Haslinger: Vergessen wir alles, vergessen wir alles.

Heise: Allerdings kann man doch sagen, in der Literatur war das nicht so. Da hat man ja geradezu obsessiv so Selbsthass geübt, also wenn man an Elfriede Jellinek, an Thomas Bernhard denkt, die haben sich an ihrer Heimat abgekämpft. Sind die sozusagen das schlechte Gewissen gewesen, was sonst gefehlt hat?

Haslinger: Na ja, das mag schon sein, aber Sie reden eigentlich jetzt von einer relativ späten Literatur. Also man könnte sich auch fragen: Was war mit der Literatur los zu der Zeit, als Heinrich Böll in Deutschland über die Vergangenheit gesprochen hat, was war da mit der österreichischen Literatur? Sie finden ...

Heise: Was war da los?

Haslinger:... ein einziges bedeutendes Werk, "Die größere Hoffnung" von Ilse Aichinger, und dann wird es schon ziemlich ruhig. Das heißt, es gab eine literarische Kontinuität der Konservativen, einer konservativen Tradition und es gab keine vehemente Auseinandersetzung. Erst in den 50er Jahren gab es eine Avantgarde, eine junge Avantgarde, die sehr aufmüpfig war. Aber die war zunächst eigentlich eher ein Fall für die österreichische, speziell für die Wiener Polizei als für die Literaturgeschichte, wo sie erst später kanonisiert ist, die so genannte Wiener Gruppe. Also das, was dann so bedeutende Leute wie letztlich auch Ernst Jandl hervorgebracht hat und einige Proponenten der Wiener Gruppe sind ja auch bekannt geworden wie Gerhard Rühm etwa, oder auch H. C. Artmann. Diese Leute waren allerdings damals kann man sagen, "wilde Hunde", das war keine ernst genommene oder in irgendeiner Weise politisch einordenbare Opposition, sondern das war eher eine - politisch gesehen - anarchistische Bewegung. Dennoch glaube ich, dass in dieser starken ästhetischen Opposition, die tatsächlich dann ab den 50er Jahren in Österreich feststellbar ist, und auch diese stark sprach-experimentelle Richtung, diese Verweigerungshaltung, die da auch drinnen liegt, dass das natürlich schon etwas zu tun hat mit einer Art von kultureller Ersatz-Opposition. Das sind sozusagen schon Kräfte, die eine Autonomie beanspruchen in der Gesellschaft, weil sie politisch zu der Zeit noch nicht durchführbar waren.

Heise: Und Opposition natürlich auch zu Deutschland, zu all dem, was dann da passierte, also kulturell hat sich Österreich bewusst von Deutschland abgegrenzt?

Haslinger: Ja, das stimmt schon. Man könnte, jetzt sage ich - Anführungszeichen kann man leider akustisch nicht deutlich machen, bei Vorträgen gibt es dann immer diese Vogeltanz-Inszenierung, wo dann da die Hände gehoben werden und zwei Anführungszeichen gemacht - aber man kann Österreich in gewisser Weise schon als eine kulturelle Großmacht bezeichnen. Das hat einerseits natürlich zu tun mit dieser Tradition, die in diesem Land liegt. Auf der anderen Seite auch als das Land - das war ja dann nach dem Ersten Weltkrieg schon ein sehr kleines Gebilde geworden -, dass es kulturell im 20. Jahrhundert doch eine bedeutende Rolle gespielt hat und dass, glaube ich, viele Kräfte, die sich in die Kultur verlagert haben, die eigentlich einen politischen Impetus hatten.

Heise: Was würden Sie sagen, das Selbstbewusstsein der Österreicher so in den 60er, 70er Jahren, wie war das und wie deutsch hat man dann sich eigentlich auch gefühlt?

Haslinger: Man hat sich deutsch gefühlt in einem weiteren Sinne, der gleichsam Deutschland kaum einschließt. Man hat sich auf keinen Fall deutsch gefühlt im Sinne der Zugehörigkeit zu Deutschland. Das hat sich nach - also ich bin ja so alt wie der Staatsvertrag, also wenn wir über diese Zeit sprechen, dann sprechen wir im Grunde über meine Lebenszeit und ich bin aufgewachsen mit einer Beschwörungsformel, der Beschwörungsformel der immer währenden Neutralität, also wir haben uns gleichsam aus dem politischen Geschehen, aus dem Weltgeschehen ausgeklinkt. Wir sind eine Insel der Seligen geworden, wir haben mit Krieg und so weiter, Verwicklungen, nichts mehr zu tun, wir machen unsere eigene, friedliche und kulturell hochwertige Suppe und da fühlen wir uns wohl und alle Bösartigkeiten sind sozusagen anderswo und wir sind die Guten - das war so ein Gefühl, das so allgemein verbreitet wurde. Und mit Deutschland, da durfte man - erstens einmal waren sie Usurpatoren, sie haben mit ihrer Sprache und ihrem deutschen Akzent sind sie unübersehbar in unser feines, kleines und friedliches Land eingedrungen, haben begonnen, Radiosendungen, Fernsehsendungen, Kinderfilme, Kinderbücher und so weiter zu dominieren, haben Ausdrücke reingebracht, die nicht österreichisch sind, haben Geld gehabt und haben - wenngleich wir natürlich wahnsinnig davon profitiert haben, gab es eigentlich eine sehr starke, wie soll ich sagen, Aversion gegen ...

Heise: Die Ironie klingt ja jetzt unüberhörbar bei Ihnen durch - Sie gehen immer sehr kritisch mit Österreich ins Gericht, zum Beispiel in Ihrem Roman "Das Vaterspiel", da nehmen Sie dann wiederum die verfilzte österreichische Sozialdemokratie aufs Korn. Wo ist denn eigentlich Ihre eigene politische Heimat in Österreich?

Haslinger: Ich habe keine mehr. Die habe ich verloren. Im Grunde bin ich vom Herzen her ein Sozialdemokrat, aber der Zustand der österreichischen Sozialdemokratie ist so verheerend, dass ich da nicht von Heimat sprechen könnte.

Heise: Jetzt sind Sie seit Jahren ja auch tatsächlich mehr oder weniger heimatlos, Sie sind in Leipzig Professor am Deutschen Literaturinstitut. Vermissen Sie Ihre Heimat aber doch, die verlorene?

Haslinger: Nein, ich habe einen ganz anderen Heimatbegriff. Heimat ist für mich nicht eine Ortsgebundenheit. Im Grunde, diese Heimatgefühle, die jemand hat im Bezug auf Orte, das sind doch normalerweise die Orte, wo man aufgewachsen ist, und das habe ich eigentlich nicht. Was die Ortsgebundenheit betrifft, kann ich mich in Leipzig eigentlich genauso wohl fühlen wie in Wien - und fühle mich auch so. Ich habe damit keine Probleme. Ich fühle mich auch übrigens zwischendurch in New York sehr wohl, das ist überhaupt die Stadt, wo ich mich bisher am wohlsten gefühlt habe.

Heise: 50 Jahre Österreich im Schnelldurchlauf, mit Blicken über den Tellerrand mit dem Schriftsteller und Literaturprofessor Joseph Haslinger.