Inklusion ist "eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe"

Moderation: Liane von Billerbeck · 23.05.2012
Seit 2009 können behinderte Kinder darauf pochen, dass sie an einer "normalen" Schule unterrichtet werden. Die sich daraus ergebenden Probleme habe man unterschätzt, meint Regisseur Marc-Andreas Bochert. Der gute Wille reiche nicht aus, "sondern es muss viel mehr getan werden."
Liane von Billerbeck: Es ist ein Thema, über das es nicht die eine Meinung gibt, im Gegenteil, bei der Frage nämlich, ob behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen sollen. Manche Eltern sind froh, wenn ihre behinderten Kinder größtmögliche Förderung bekommen und unter sich bleiben, die anderen wollen unbedingt eine normale Schule, in der ihre gehandicapten Kinder ganz normal mit anderen zusammen lernen.

Inklusion heißt so was, und so ist auch der Titel eines Films, der heute Abend im Ersten läuft. Bevor wir darüber mit Regisseur und Drehbuchautor sprechen, Eindrücke aus dem Film hier ein paar Eindrücke aus dem Film von Bernd Sobolla.

Und darum geht es jetzt im Gespräch mit Marc-Andreas Bochert und Christopher Kloeble, Regisseur der eine, Drehbuchautor der andere. Sie haben den Film "Inklusion - gemeinsam anders" gemacht, der heute Abend in der ARD gezeigt wird. Herzlich willkommen erst mal!

Christopher Kloeble: Hallo!

Marc-Andreas Bochert: Hallo!

von Billerbeck: Ihr Film, Marc-Andreas Bochert, hat einen Titel, der klingt sehr nach Dok-Film. "Inklusion - gemeinsam anders" hätte auch bei 37 Grad laufen können.

Bochert: Ja, es ist ja auch in einer gewissen Weise eine dokumentarische Erzählung. Wir haben einfach geschaut, was passiert an solchen Schulen und das versucht in Spielfilmhandlung umzusetzen. Also kein Dok-Film, aber schon mit einem sehr dokumentarischen Anstrich.

von Billerbeck: Christopher Kloeble, Sie haben, habe ich gehört, beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen, und in dieser Geschichte stand ein Behinderter im Mittelpunkt. Daraufhin wurden Sie von einem BR-Redakteur angesprochen worden, ob sie nicht einen Filmstoff haben und schreiben wollen über dieses Thema Inklusion. Wie und wo haben Sie denn recherchiert?

Kloeble: Das war - es war nicht so, dass der BR-Redakteur mich direkt angesprochen hat, sondern, dass ich angesprochen wurde, ob ich zu diesem Thema etwas schreiben wollen würde, und daraufhin habe ich mich ein bisschen umgehört, und ich kannte Gott sei Dank jemanden, der so behinderte Kinder betreut beziehungsweise der hilft, die zu inkludieren an Schulen und als Berater hinzugezogen wird.

Und der wiederum erzählte dann halt einfach verschiedene Geschichten von einzelnen Schülern, zog verschiedene Beispiele ran und ließ mich da so einen sehr intimen Blick rein haben in diese Verhältnisse, obwohl das, wie es wahrscheinlich so oft ist, mein Erlebnis war, das war teilweise so viel stärker und schockierender manchmal in der Realität, dass man das gar nicht im Film so erzählen kann.

von Billerbeck: Seit 2006 gibt es ja die UN-Resolution über die Rechte Behinderter, die Deutschland auch ratifiziert hat 2009. Und behinderte Kinder können darauf pochen, beziehungsweise ihre Eltern, dass sie an einer ganz normalen Schule zusammen mit anderen unterrichtet werden. Hat man denn die daraus sich ergebenden Probleme unterschätzt, Herr Bochert?

Bochert: Mit Sicherheit, also, denn was ja im Film auch gezeigt wird, allein der gute Wille reicht nicht aus, sondern es muss viel mehr getan werden, damit Inklusion wirklich auch funktioniert. Es gibt ja Beispiele von Schulen, die das sehr erfolgreich durchführen, aber wenn man sich das genauer anschaut, dann sind diese Schulen zum Beispiel auch finanziell in der Regel deutlich besser ausgestattet als sozusagen die Durchschnittsschule, die jetzt auch Inklusion auf dem gleichen Niveau plötzlich durchführen soll und damit natürlich überfordert ist.

von Billerbeck: Kostenneutral soll das passieren, das kommt auch bei Ihnen im Film vor. Herr Kloeble, klappt das eigentlich, dass man einfach sagt, es kostet nicht mehr, und wir packen die jetzt einfach in so eine normale Schule, und dann sieh zu, liebe Lehrer, wie ihr das hinkriegt?

Kloeble: Natürlich klappt das nicht so, natürlich ist es nicht so schwarz-weiß, wie man das natürlich immer gern darstellen würde. Also es ist natürlich so, dass die Schulen zum Teil schon Geld dafür bekommen, die Gelder sind wiederum zum Teil zu wenig, es hängt damit zusammen, dass diese Schulhelfer, an denen es ja vor allem sehr hängt, die sich praktisch die ganze Zeit diesen behinderten Kindern widmen müssen und viel Zeit mit denen verbringen müssen, was eine sehr aufwendige, kostenintensive Sache ist, dass es an denen fehlt und dass es nicht nur daran fehlt, dass man das Geld für die zur Verfügung stellt, sondern auch, dass es gar nicht genügend gibt in Deutschland.

Weil - natürlich, wenn man sich jetzt vorstellt, es gibt natürlich nicht nur ein paar Dutzend behinderte Kinder, sondern sehr viele, und wenn jetzt jeder von denen die meiste Zeit eine Person braucht zur Betreuung, dann ist das natürlich ein sehr großer Umstellungsprozess, der natürlicherweise auch, glaube ich, viele Probleme mit sich bringt. Aber die müssen natürlich auch ausgesprochen thematisiert werden, damit man das in Zukunft noch besser macht, weil das passiert von heute auf morgen sicher nicht.

von Billerbeck: Ich habe den Film gestern gesehen - das ist der Vorteil, wenn man die Regisseure vor der Ausstrahlung im Studio hat -, und ich habe dann gedacht: Ah, das ist so ein ARD-Mittwochs-Film, das wird so was Weichgespültes, und am Ende gibt es ein Happy End. Herr Bochert, das gibt es zum Glück nicht, das kann ich vielleicht schon verraten, jedenfalls nicht so direkt.

Gab es da irgendwie Vorgaben von der ARD, dass man da so geradezu typisierte Figuren und typisierte Geschichten in diesen Film packt? Weil so viel Filme gibt es ja zu dem Thema noch nicht.

Bochert: Ja, wir haben natürlich versucht, das Thema von verschiedenen Seiten zu beleuchten, verschiedene Perspektiven zu zeigen und auch ein gewisses Spektrum an Figuren, und das führt natürlich dazu, dass man auch im gewissen Sinne auf Typisierungen zurückgreift, um einfach etwas einfacher und schneller erzählen zu können.

Trotzdem haben wir aber versucht, die Figuren trotzdem gebrochen und vielschichtig zu zeigen. Aber es geht darum, auch ein gesellschaftliches Spektrum abzudecken und letztendlich auch zu zeigen, dass Inklusion, obwohl dieser Film in der Schule spielt und da dann der Fokus drauf liegt, eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und nicht nur ein Schulproblem sozusagen.

von Billerbeck: Herr Kloeble, ein Begriff, der immer wieder fällt, und der einem auch sofort in den Kopf kommt, wenn man diesen Film sieht, das ist der Begriff normal. Das ist doch nicht normal, sagt man oft so dahin. Jetzt haben wir also eine normale Schule mit normalen Kindern, und da kommen zwei Behinderte dazu.

Und wir lernen aber aus diesem Film, dass auch die anderen nicht immer normal sind. Ist das die Botschaft?

Kloeble: Ja, in gewisser Weise absolut, weil die Inklusion hat ja die Idee, gerade im Unterschied zur Integration, dass man nicht sagt, wir packen jetzt euch paar Leute, die irgendeine Behinderung haben, zusammen und stecken euch in dieses Schulsystem rein, und dann versucht ihr euch irgendwie da so einzubinden, sondern dass man sagt, einerseits lernen die Behinderten von den in Anführungszeichen "Normalen" - weil wer ist denn wirklich normal? -, und andererseits lernen die anderen, die sich mit behinderten Kindern konfrontiert sehen, von denen sehr viele Sachen, weil es - auch das haben wir versucht im Film darzustellen -, dass durchaus die Figuren, gerade auch die behinderten, ihre eigenen Eigenschaften mit reinbringen und auch Besonderheiten haben, die man natürlich nicht erkennt, weil sie erst mal verdeckt sind durch ihre Behinderungen, weil die so schreiend grell ist und so auffällig ist, dass man denkt: Na ja, die schreibe ich gleich mal ab.

Aber natürlich hat jeder - wie wir ja eigentlich auch wissen - jeder Behinderte andere Fähigkeiten, die dann sogenannte normale Menschen wiederum nicht haben. Also es ist natürlich sehr viel komplizierter, aber es ist natürlich leichter, sich erst mal auf so eine Sache zu stürzen und zu sagen: Den schreibe ich ab, weil der sitzt im Rollstuhl.

von Billerbeck: Und die im Rollstuhl sitzt, diese Steffi, die ist ja eigentlich ganz fit im Kopf, aber sie wird natürlich immer erst anfangs auf diesen Rollstuhl reduziert. Und sie benimmt sich auch nicht besonders nett, ja? Also das ist so dieses, die Umwelt hat es dann durchaus schwer mit ihr, das kann man in diesem Film ja auch sehen.

Kloeble: Na ja, das sollte ja auch dargestellt werden zuweilen. Wir wollten nicht jetzt einen Film machen, wo wir sagen: Ach, schau mal, diese armen behinderten Kinder, und die werden immer schlecht behandelt. Weil die Erfahrung zeigt offenbar, also zum Beispiel, wenn man so Schulhilfe fragt, dass tatsächlich oft die Kinder in der Schule relativ gut mit den behinderten Kindern umgehen beziehungsweise es relativ neutral behandeln.

Die sagen nicht alle Behindie und machen die alle deswegen fertig. Das ist eher so eine Art Verlegenheit. Man weiß nicht damit umzugehen, es sagt einem ja keiner, jetzt kommen - wie behandelt man jemand, der im Rollstuhl sitzt. Das kennt ja auch jeder im Alltagsleben, dass man nicht weiß, soll man in die Knie gehen oder stehen bleiben. Man hat dieses Unwohlsein und weiß nicht was richtig ist, und das ist natürlich bei jeder Person anders, weil es sind ja verschiedene Menschen. Und ich glaube, dass bei diesem Mädchen halt das ausgedrückt werden soll, dass man halt merkt so, na ja, es hängt auch manchmal damit zusammen, dass sie nicht in jeder Hinsicht ein einfacher Mensch ist. Es sind ja nicht alle, dass sie sagen: Bitte hilf mir. Vielleicht wollen auch manche Leute nicht, dass ihnen geholfen wird. Und Sie ist definitiv erst mal so jemand.

von Billerbeck: Interessant ist auch, dass da die Eltern von Kindern, "normalen Kindern" in Anführungsstrichen, gar nicht so begeistert sind, dass diese behinderten Kinder an die Schule kommen, weil sie nämlich befürchten, dass ihre eigenen nicht mehr vorankommen, Herr Bochert. Befürchten Sie da Diskussionen?

Denn die Eltern, die da heftig engagiert sind, sind nun Eltern, die vermutlich aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind - das ist ja auch wieder so ein Klischee: Die wollen ihre Kinder leistungsbereit machen und sind dann gegen die. Da gibt es vermutlich Debatten, oder?

Bochert: Es wird sicherlich die eine oder andere Debatte geben, was ja auch durchaus in Ordnung ist, also der Film zeigt einfach bestimmte Problematiken, die einfach kontrovers sind und wo es sicherlich Diskussionen geben wird, und da freuen wir uns drauf.

von Billerbeck: Marc-Andreas Bochert waren das und Christopher Kloeble, Regisseur und Drehbuchautor des Films "Inklusion - gemeinsam anders", heute Abend zur besten Sendezeit in der ARD nach der "Tagesschau" um 20:15 Uhr. Danke fürs Kommen!

Bochert: Vielen Dank!

Kloeble: Danke schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eine Grundschule praktiziert das Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kinder.
Eine Grundschule praktiziert das Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kinder.© picture alliance / dpa / Henning Kaiser
Mehr zum Thema