"Inklusion ist auch anstrengend"

Inge Ostertag im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 21.01.2012
Auf Menschen mit Behinderungen wird besonders geachtet, wenn eine evangelische Gemeinde in Lübeck den Gottesdienst feiert. Sie sollen teilhaben können, sagt die Sonderpädagogin Inge Ostertag. Einbezogen werden alle Menschen, die etwa die Kirchensprache nicht gut verstehen.
Anne Françoise Weber: Von der Frage, wie sich Krankheit und Behinderung theologisch fassen lassen, kommen wir zu der Frage, wie Kirche eigentlich mit Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen umgeht. Natürlich gibt es viele kirchliche Einrichtungen, die solche Menschen aufnehmen, ihre Versorgung gewährleisten und ein Zuhause bieten, aber was ist mit dem Alltag in den Kirchengemeinden? Ist der auf Menschen mit Einschränkungen eingestellt? Im evangelischen Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg versucht ein Projekt seit drei Jahren, Barrieren in einer Kirchengemeinde abzubauen – äußerlich ebenso wie in den Köpfen. Ich habe vor der Sendung mit Inge Ostertag gesprochen, die als Sonderpädagogin das Projekt "Rückenwind" in der Lübecker Sankt-Markus-Gemeinde leitet. Zunächst habe ich sie gefragt, woher der Anstoß kam, sich als Kirchengemeinde verstärkt auf Menschen mit Behinderungen einzustellen.

Inge Ostertag: Der Anstoß kam einfach daher, dass diese Kirchengemeinde eine sehr bunte Gemeinde ist und auch auf dem Gebiet der Kirchengemeinde sich eine große Einrichtung für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen befindet. Des Weiteren gibt es eine Einrichtung für blinde Menschen, und es gibt eben viele, viele Menschen auch aus anderen Ländern und einen hohen Bedarf an, wie soll ich sagen, besonderer Arbeit in dieser Kirchengemeinde.

Weber: Und wie sieht diese besondere Arbeit denn aus, was bieten Sie an?

Ostertag: Wir versuchen zunächst einmal, alle willkommen zu heißen, und es macht ja sicher jede Kirchengemeinde, aber wir schauen da ganz, ganz besonders hin, dass niemand sich ausgegrenzt fühlt oder fühlen muss. Und da ist es natürlich erst mal relativ leicht, die äußeren Barrieren abzubauen – also es gibt stufenlose Zuwege, überall Haltegriffe, es gibt einfache Möblierung im Kirchenraum, sodass wir umstellen können bei Bedarf, es gibt Induktionsschleifen für Menschen mit schweren Hörbehinderungen. All diese Dinge sind relativ einfach zu verwirklichen. Schwieriger wird es dann zum Beispiel im Bereich Sprache – also Kirchensprache ist nicht immer leichte Sprache –, und da schauen wir besonders hin, wie können Menschen, die mit dem Wort nicht so viel anfangen können, am Leben in der Kirchengemeinde teilhaben. Da ist zum Beispiel ein Beispiel, dass im Vorraum der Kirche so ein kleiner Tisch steht, der Kirchenjahrestisch. Da wird mit besonderer Farbgebung, mit einfachen Symbolen und mit Texten in leichter Sprache erklärt, wo wir gerade sind. Dann gibt es für den Gottesdienst ein kleines Büchlein, auf dem mit Fotos, also wirklich auch Fotos aus der Gemeinde, von den Pastorinnen der ganze Gottesdienst erklärt wird. Also mit ganz wenigen Worten können die Menschen diesen Gottesdienst auch verfolgen und schauen, wo sind wir jetzt gerade, was passiert da.

Weber: Ich könnte mir ja vorstellen, dass so ein Angebot auch gern aufgenommen wird von Menschen, die sich jetzt eigentlich bisher nicht behindert oder eingeschränkt gefühlt haben, aber die auch nicht wissen, wo wir eigentlich gerade im Kirchenjahr sind, oder?

Ostertag: Genau, das ist nämlich das Tolle. Inklusion heißt ja sowieso, es geht nicht nur um Menschen mit Behinderungen, sondern es geht immer um alle, also niemand soll ausgrenzt werden, und da haben wir festgestellt, das breitet sich ganz schnell aus. Es fühlen sich viele Menschen angesprochen, die zum Beispiel vielleicht sowieso mit unserer deutschen Sprache nicht so gut zurechtkommen, oder kirchenfernere Menschen, die eben zum Beispiel den Gottesdienstablauf nicht so gut kennen. Es ist für alle spannend, und auch für uns als sogenannte Fachleute ist es auch spannend, zum Beispiel komplexere theologische Inhalte auch mal in einfacher Sprache darzustellen, und das macht uns auch vieles noch mal erklärbarer.

Weber: Inklusion ist ja nun keine ganz leichte Sache, also am bekanntesten ist das Beispiel der Schule, wo ja doch auch die Frage ist, was passiert, wenn ich Kinder mit starken Behinderungen in eine normale Schule stecke, wird die Schule ihnen gerecht. Selbst wenn die Lehrer es noch so sehr versuchen, aber es sind große Klassen, es ist ein Lehrplan vorgegeben, das ist anders in einer besonders auf diese Kinder eingestellten Schule. Wie ist das in einer Gemeinde?

Ostertag: Also wir haben es insofern eher schon einfacher, da es immer ja eine Freiwilligkeit ist. Also wenn wir besondere Angebote machen, besondere Gottesdienste, dann wissen die Menschen das und dann können sie entscheiden, ich geh da jetzt auch hin oder ich geh da nicht hin – das ist schon mal ein Unterschied und macht es ein bisschen einfacher. Aber ansonsten ist es natürlich klar, Inklusion ist auch anstrengend. Also wenn ich mich auf bestimmte Verhaltensweisen einstellen muss von Menschen, die sich einfach anders ausdrücken, dann muss ich mich da unter Umständen auch ein bisschen umstellen oder anstrengen. Und da haben wir natürlich auch die Erfahrung gemacht, dass Vorbehalte da sind, dass die Menschen schauen, ach, ist das jetzt auch alles noch was für mich oder verändert sich diese Gemeindearbeit zu sehr, und wir gehen da auch sehr sensibel mit um. Also es ist immer am besten, eine Vielfalt von Angeboten zu haben, also dass jetzt nicht alteingesessene Gemeindemitglieder sozusagen unter den Tisch fallen und keine Angebote mehr für sich finden. Es ist gut, da wirklich hinzuschauen, das wäre nämlich das Gegenteil von Inklusion, wenn andere sich dann wieder ausgegrenzt fühlen.

Weber: Und wie machen Sie das konkret zum Beispiel beim Konfirmandenunterricht?

Ostertag: Beim Konfirmandenunterricht ist es so, dass wir versuchen, Jugendliche mit Behinderung mit in die bestehenden Gruppen aufzunehmen. Das ist ein schwieriges Thema. Also gerade diese Altersgruppe, das ist natürlich nicht gerade unbedingt die einfachste Zeit für die Jugendlichen, da versuchen die ihre eigene Identität zu finden und da ist Abgrenzung ein wichtiges Thema: Wer bin ich überhaupt? Und da sind wir auch noch ein bisschen mit am Versuchen, aber wir haben da ganz gute Erfahrungen mittlerweile gemacht. Also zum Beispiel im Moment haben die Jugendlichen gerade auch einen Film gedreht, Schleswig-Holstein im Jahr 2025 – es gibt da so einen Jugendkongress demnächst in Kiel –, und da haben die Jugendlichen ihre Vorstellung von einer inklusiven Gesellschaft dargestellt. Und da hat zum Beispiel die Lina, ein Mädchen mit Downsyndrom, ganz toll auch mitgespielt. Also dieser Film ist ganz nett geworden, und das zeigt, dass doch ein bisschen was schon gefruchtet hat.

Weber: Wie ist denn Ihre Vorstellung von einer inklusiven Kirche? Demnächst fusioniert ja Ihre nordelbische Landeskirche mit der pommerschen und der mecklenburgischen Landeskirche zu einer neuen Nordkirche – wird das schon eine inklusive Kirche sein?

Ostertag: Da bin ich noch ein bisschen am Zweifeln. Es gibt so viele Dinge, die zurzeit diskutiert werden, und alle sagen, oh, es gibt so viele wichtige Themen, da müssen wir uns schon richtig anstrengen, um zu sagen, ja, das Thema Inklusion, das steht auch ganz mit oben. Wir haben hier in dem Umkreis Lübeck und Hamburg so ein kleines Netzwerk gebildet, das Netzwerk "Kirche inklusiv", und haben versucht, auch ein bisschen Einfluss zu nehmen auf die Verfassung der Nordkirche, all diese Dinge, das ist noch ein weiter Weg. Und mein Traum wäre eigentlich, dass es zu so einer Art Selbstverpflichtung kommt der Gemeinden, dass sie alle hinschauen, dass sie vielleicht so eine Art Inklusionsbeauftragten haben, der wiederum sich in einem Gremium trifft, das vielleicht sich auch wiederum mit Menschen mit Behinderung trifft – das sind nämlich die Fachleute für das Thema Inklusion –, sodass das einfach auch noch ein bisschen mehr strukturierter stattfinden kann. Also ich glaube, da haben wir noch einen ziemlich weiten Weg vor uns, und Kirche müsste da eigentlich Vorreiterin sein, denn die christliche Botschaft ist einfach eine inklusive Botschaft.

Weber: Die Jahreslosung für dieses Jahr lautet "Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig". Sie haben schon gesagt, die Menschen mit Behinderung sind die Fachleute für Inklusion, ist aber nicht doch auch die Gefahr, dass wenn man viel darüber redet, manche Leute sich so sehr stark fühlen und sagen, ja, die Schwachen, das sind doch die offensichtlich Behinderten und wir sind aber die Starken, und es ist dann vielleicht ein Entgegenkommen, wenn wir auf die eingehen. Aber wer sieht sich als schwach in so einem Projekt?

Ostertag: Ja, das ist ja auch sowieso ein bisschen die Krux zum Thema Menschen mit Behinderung. In den Kirchen gibt es die ganz lange Tradition, wir kümmern uns aus christlicher Nächstenliebe um die armen Behinderten, um das jetzt mal ein bisschen auf die Spitze zu treiben, und das ist eben nicht das Thema der Inklusion, sondern dass wir einfach schauen, wir sind eine Welt und wir sind eine Gesellschaft, wir sind eine Kirche, und wir können alle miteinander etwas tun. Und da würde ich diese Unterscheidung, wer ist jetzt schwach und wer ist jetzt stark, gar nicht so unbedingt treffen wollen. Das unterscheidet sich immer von Moment zu Moment. Ich fühle mich in einem Moment wirklich als die Schwache und brauche Gottes Hilfe, und in dem nächsten Moment ist es die oder der andere. Da würde ich gar nicht so sehr da jetzt drauf abzielen wollen, diese Unterscheidung jederzeit so klar treffen zu wollen.

Weber: Und wurde diese Jahreslosung auch in Ihrer Gemeinde in dieser Richtung thematisiert?

Ostertag: Ja, natürlich. Also in den Gottesdiensten zum Jahresbeginn wurde darüber geredet, und wir haben auch so einen Schulgottesdienst von den Schülern der Schule mit geistigen Behinderungen. Wir werden sicher demnächst auch dazu malen, es gibt so eine Gruppe von Menschen, die sich ab und zu trifft und zu biblischen Themen malt. Das spielt natürlich eine Rolle, aber genauso wie in anderen Gemeinden auch. Wir haben natürlich schon gesagt, ja, das passt ja auch zu uns, aber ich finde, wir müssen da auch ein bisschen vorsichtig sein jetzt nicht zu sagen, wir sind jetzt die Gemeinde für die Menschen mit Behinderung, das ist es auch wieder nicht, sondern wir sind eine normale Kirchengemeinde und wir haben uns dieses Thema Inklusion auf die Fahnen geschrieben, und wir sind nicht anders. Und ich bin auch nicht die Fachfrau für die Behinderten, sondern ich bin einfach auch für alle da.

Weber: Die Laufzeit Ihres Projektes ist ja auch begrenzt, es ist ein Leuchtturmprojekt – ein Leuchtturm sollte ja eigentlich länger strahlen, aber die Finanzmittel dauern, glaube ich, nicht so lange. Wie soll es da weitergehen?

Ostertag: Ja, das ist leider so, dass jetzt zum Sommer hin die Finanzierung zu Ende ist, und wir schauen, was zu machen ist, denn das haben wir auch gemerkt, Inklusion kostet auch Geld und das ist nicht einfach ohne Mittel zu machen. Und es bedeutet ja auch ein bisschen Arbeit, und das geht jetzt nicht einfach alles so von allein weiter, auf die Nachhaltigkeit müssen wir da schon ein bisschen schauen, und es muss auch noch viel mehr ausstrahlen. Also wir versuchen jetzt schon die ganze Zeit, vieles weiterzugeben – durch Veröffentlichungen, durch Fortbildungen, dass wir die Pastorinnen und Pastoren beraten auch, oder im Konvent haben wir das Thema vorgestellt. Für mich ist es noch lange nicht zu Ende, und es steht jetzt wirklich dringend notwendig an zu schauen, wie kann es weitergehen, und da arbeiten wir gerade an Möglichkeiten mit Kooperationspartnern aus der Stadt Lübeck. Das ist aber alles noch so etwas vage. Es wird wohl um das Thema Kommunikation, Verstehen und dabei sein gehen.

Weber: Na, dann wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Vielen Dank, Inge Ostertag, Sonderpädagogin im Projekt "Rückenwind" in der Lübecker Sankt-Markus-Gemeinde.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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