Inferno angeblicher Freiheiten

26.11.2008
Die Autorin Ursula Krechel hat mit "Shanghai fern von wo" einen Roman über deutsche und österreichische jüdische Emigranten in Shanghai geschrieben. Sie begleitet ihre Protagonisten von 1938 bis 1948. Ihr Buch stützt sich auf authentische Briefe und Berichte. Ihr ist ein erschütterndes Werk über jüdische Geschichte gelungen.
Shanghai war 1938 eine Stadt mit Handelshäusern, Banken und Warenhäusern und einer Population, die nicht nur aus Chinesen und Japanern, sondern auch aus Russen, Briten, Amerikanern, Franzosen, Deutschen und Österreichern bestand, die abgetrennt von den Chinesen in einer internationalen, exterritorialen Stadt lebten.

Ursula Krechel, bekannt als Lyrikerin und Essayistin, hat einen 500 Seiten umfassenden Roman über deutsche und österreichische jüdische Emigranten in Shanghai geschrieben.

1938 war für die Stadt ein Schicksalsjahr. Die Japaner besetzten Shanghai und isolierten es vom Hinterland, die Stadt war eingeschlossen. Nach der Pogromnacht vom November 1938 kamen ungefähr 18.000 deutsche und österreichische Juden nach Shanghai. Shanghai war ein letzter Ausweg, vom Meer und ohne Visum erreichbar. Zu Hause in Wien oder Berlin hatte man Shanghai eine "Arche Noah" genannt. Wer "Shanghai fern von wo" gelesen hat, weiß, dass in dieser Arche statt Freiheit Not und Elend, Hunger und Krankheiten herrschten.

Ursula Krechels Vorhaben sind Hörspiele vorangegangen. So hat sie sich vorgetastet, sich über Jahrzehnte dem Thema angenähert. Keine indiskreten Schicksalssuaden werden auf dem Papier abgelagert, der Ton, den sie für das Buch gefunden hat, ist ein Ton der Achtung. Eine Handvoll Menschen, mehr sind es nicht, rückt Ursula Krechel in den Vordergrund. Es ist Krechels inspirierende Leistung, für diese Menschen eindringliche Kurzcharakterisierungen gefunden zu haben.

Tausig zum Beispiel, der junge aufstrebende ungarische Rechtsanwalt aus Temeswar, dieser stabile Tausig kann das Entrechtet- und Niemand-Sein nicht ertragen und wird sterben. Das Leben in schäbigen Unterkünften, halben Zimmern, durch die "ratsch ein Vorhang gezogen war" oder in überfüllten Lagern mit 40 Krankenhausbetten für 18.000 Flüchtlinge, war kein Leben.

Ursula Krechel schreibt über den Uhrmacher Kronheim, den Buchhändler Lazarus, den Kunsthändler Brieger, das Ehepaar Tausig und die Rosenbaums. Ludwig Lazarus’ Rückkehr nach Deutschland ist das Schrecklichste. "Man braucht ja für alles eine Erlaubnis", diktiert der ehemalige Berliner Antiquar, mit dem "Talent fürs Erzählen", aufs Tonband. Das Tonband mit den Aufzeichnungen von Lazarus gehört zu Krechels Archivfunden. Lazarus ist der eigentliche Cicerone des Buches.

Ursula Krechel begleitet ihre Protagonisten von 1938 bis 1948 durch das Inferno angeblicher Freiheiten. Sie erfindet so wenig wie möglich, stützt sich auf authentische Briefe, Amtsbriefe und Berichte. Brieger, Lazarus, die Tausigs, Rosenbaums und Kronheims musste die Autorin nicht "erfinden". Es hat sie so oder ganz ähnlich gegeben. Im Roman sind die Lücken überbrückt, nicht gefüllt.

"Shanghai fern von wo" ist ein Buch der Bücher, zusammengesetzt aus authentischen Berichten. Der erschütternde und sehr lesenswerte Roman steckt voller Details über jüdische Geschichte und über das Eindringen europäischer Geschichte in die Zeitgeschichte Chinas.


Rezensiert von Verena Auffermann

Ursula Krechel. Shanghai fern von wo. Roman.
Verlag Jung und Jung, Salzburg. 2008.
504 Seiten. 29.90 Euro